Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 4-2009, Rubrik Titelthema

Leuchttürme und Irrlichter der Kinder- und Jugendbeteiligung

Was Hamburg vom Hohen Norden noch lernen kann

Von Michael Freitag, Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik

Nachrichten aus der Provinz. Auf der A7 in Richtung Flensburg gibt es die Anschlussstelle Owschlag. Die kennen noch die meisten – zumindest dem Namen nach. Aber wie sieht es mit Kropp aus, einer kleiner Gemeinde mit gerade mal 6.400 Einwohnerinnen und Einwohnern, die von dieser Autobahnabfahrt nur wenige Kilometer entfernt ist? Nie davon gehört? Das würde mich nicht wundern.
Aus Hamburger Sicht ist Kropp natürlich provinziell. Doch die dort vorzufindende Beschaulichkeit sollte nicht mit Rückständigkeit verwechselt werden. Für den Bereich der Kinder- und Jugendbeteiligung sieht es vielmehr so aus, dass Hamburg im Vergleich zu Kropp als rückständig erscheint! So etwas hört man am Tor zur Welt natürlich nicht gern – und um meine Befangenheit deutlich zu machen, möchte ich ergänzen, dass ich dies als stolzer Hamburger schreibe.

In Kropp wird die Kinder- und Jugendbeteiligung als demokratiepädagogisches Schlüsselthema verstanden, das auch einer entsprechenden Ressourcenausstattung bedarf; Zuständigkeiten sind klar geregelt; sowohl pädagogische als auch »normale« Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verwaltung sind zu Beteiligungsfachkräften fortgebildet worden; diese tauschen sich in einem von der Landesregierung gepflegten Netzwerk aus; die örtlichen Vereine und Verbände sind selbstverständlich in Beteiligungsprozesse eingebunden; bei der Planung größerer Projekte sitzt das Regionalmarketing von Anfang an mit am Tisch; die Kropper Erfahrungen fließen in die Ausbildung an der Verwaltungsfachhochschule in Kiel ein, damit früh deutlich wird, wie eine Verwaltungsvorschrift zur Kinder- und Jugendbeteiligung sinnvoll und angemessen mit Leben erfüllt werden kann. Von diesem Status quo Schleswig-Holsteins, insbesondere der gezielten Verzahnung lokaler und überregionaler Aktivitäten, ist Hamburg noch weit entfernt.

Holt Hamburg auf? Zugleich ist allerdings darauf hinzuweisen, dass es auch in Hamburg hervorragende Ansätze der Kinder- und Jugendbeteiligung in einzelnen Projekten und Prozessen gibt! Darin unterscheidet sich Hamburg nicht von Schleswig-Holstein und auch von keinem anderen Bundesland. Was in Hamburg fehlt und was bislang eben nur in Schleswig-Holstein annähernd gelungen ist, ist der Lückenschluss zwischen einer guten pädagogischen oder auch planerischen Arbeit im Einzelfall und einer abstrakten Verwaltungsvorschrift, die ohne flankierende Maßnahmen in der Breite keine Anwendung findet, da sich ihr Sinn und Nutzen nicht unmittelbar offenbart und Beteiligungsbegeisterte in Verwaltungen eher die Ausnahme sind.
Mit der Verabschiedung des § 33 Bezirksverwaltungsgesetz1 hat sich Hamburg normativ auf eine Ebene mit Schleswig-Holstein gebracht, das bereits seit 1996 verpflichtende kommunale Beteilungsrechte für Kinder und Jugendliche kennt2. Eine Dokumentationspflicht für deren Umsetzung, die in Schleswig-Holstein zusätzlich verankert worden ist, gibt es in Hamburg nicht. Da jedoch unumwunden eingestanden werden muss, dass in Schleswig-Holstein zahlreiche Kommunen die Vorgaben zur Kinder- und Jugendbeteiligung vollständig ignorieren3, ist die Frage berechtigt, ob nicht andere Unterschiede zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein stärker ins Gewicht fallen, die die vergleichsweise schlechten Rahmenbedingungen in der Hansestadt erklären.
Bei einem fast identischen Wortlaut der Rechtsgrundlage und ähnlich überzeugenden Einzelprojekten auf lokaler Ebene fällt auf, dass die Einführung der Beteiligungsverpflichtung in Schleswig-Holstein in ganz anderer Weise flankiert worden ist als in Hamburg. Am 16. September 2009 sind im Rahmen einer von der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik in Hamburg veranstalteten Fachtagung folgende Unterschiede verdeutlicht worden:

• Um die lokale Ebene mit der anspruchsvollen Beteiligungsverpflichtung nicht allein zu lassen, ist von der schleswig-holsteinischen Landesregierung mit der »Servicestelle Demokratiekampagne« eine zentrale Anlaufstelle für alle Anliegen rund um die Kinder- und Jugendbeteiligung geschaffen worden.
• Über die Beratung hinaus ist von dieser Servicestelle die Entwicklung von Methoden sowie der Transfer gelungener Praxis gefördert und gesteuert worden. Zahlreiche Publikationen sind in Kooperation mit dem Deutschen Kinderhilfswerk produziert und der lokalen Ebene zugänglich gemacht worden.
• Des Weiteren sind aufwändige Fortbildungsreihen angeboten worden, durch die nicht nur Pädagoginnen und Pädagogen zu Beteiligungsfachkräften qualifiziert worden sind (mittlerweile sind mehr als 100 dieser Fachkräfte in Schleswig-Holstein tätig).
• Diese »Moderatorinnen und Moderatoren für Alltagsdemokratie und Kinderfreundlichkeit« sind in einem Netzwerk verbunden, das von der schleswig-holsteinischen Landesregierung gepflegt wird, indem zum Beispiel regelmäßige Treffen und ergänzende Fortbildungsangebote organisiert werden.
• Auf Initiative der Landesregierung konnten Lehrveranstaltungen zum Thema Kinder- und Jugendbeteiligung in der Ausbildung von Lehrkräften sowie an der Verwaltungsfachhochschule implementiert werden.

Flankierende Maßnahmen. In Schleswig-Holstein ist offenkundig verstanden worden, dass es bei Weitem nicht ausreicht, die Kinder- und Jugendbeteiligung per Gesetz zu einem Standard des Verwaltungshandelns zu erheben. Im Rückblick auf die Entwicklung der Beteiligungskultur des nördlichen Nachbarn liegt sogar der Schluss nahe, dass gerade diese flankierenden Maßnahmen darüber entschieden haben, wo auf der lokalen Ebene Kinder- und Jugendliche als Expertinnen und Experten ihrer eigenen Lebenswelt ernst genommen worden sind, wo Macht abgegeben und Verantwortung geteilt worden ist und wo die demokratiepädagogisch so bedeutsamen Erfahrungen der Selbstwirksamkeit ermöglicht worden sind.
Auf der Grundlage dieser Erwägungen lässt sich auch nachvollziehen, wieso die Einführung der Beteiligungsverpflichtung im Bezirksverwaltungsgesetz die Kinder- und Jugendbeteiligung in Hamburg noch nicht deutlicher vorangebracht hat.
Da die erforderlichen Maßnahmen Ressourcen binden, wird es erforderlich sein, die Bedeutung und den Nutzen der Partizipation noch deutlicher herauszustellen. Hierfür stehen mittlerweile umfangreiche Sammlungen von angenommenen Wirkungen der Kinder- und Jugendbeteiligung zur Verfügung, die einen guten Überblick darüber bieten, aus welchen Blickwinkeln argumentiert werden kann. In einer Publikation der Bertelsmann Stiftung werden zum Beispiel genannt4:
• verbesserte Infrastruktur für Heranwachsende
• größere Generationengerechtigkeit
• höhere lokale Kinder- und Jugendfreundlichkeit
• Stärkung der Halte- und Bindekräfte einer Region
• Verbesserung der weichen Standortfaktoren im Kampf um Industrieansiedlung und Arbeitsplätze
• Aufrechterhaltung der Innovationsfähigkeit
• »frischer Mut und Schwung in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik«5
• Kosteneinsparungen durch die Nutzung der Nutzer öffentlicher Dienstleistungen als »externe Produktionsfaktoren«6
• Stärkung der Konsumentenmacht von jungen Menschen als Kunden öffentlicher Dienstleistungen
• Öffnung der Verwaltung für eine bedeutsame und folgenreiche Einflussnahme durch junge Menschen
• höhere Qualität von Planungen
• stärkere Wahrnehmung der Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen
• soziale Integration von Minderheitengruppen
• Vermeidung und Bekämpfung von Ausgrenzung
• Gesundheitsprävention (Drogenkonsum etc.)
• Kriminalprävention (sexueller Missbrauch etc.)
• politische Prävention (Rechtsextremismus etc.)
• Schutz vor Vandalismus und Verschmutzung
• stärkere »demokratische Ausgestaltung und Legitimierung der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Erneuerung der EU«7.

So beeindruckend diese Ansammlung von Wirkungen auch erscheinen mag, sollte auf jeden Fall berücksichtigt werden, dass es sich hierbei lediglich um mehr oder weniger plausible Annahmen handelt. Da in der Regel wissenschaftliche Belege für die aufgeführten Wirkungen noch ausstehen, wird eine Argumentation für eine stärkere strukturelle Absicherung von Beteiligungsmöglichkeiten nicht dadurch glaubwürdiger, dass möglichst viele Effekte angeführt werden.

Hiermit ließe sich auch nicht umgehen, dass die Partizipation von Kindern und Jugendlichen letztlich immer und vor allem eine politische Frage bleibt, bei der es um die Verteilung von Macht und die vorherrschenden Vorstellungen von der Zukunft der Demokratie geht: »Je nachdem, welchen Begriff von Demokratie wir uns machen, sieht auch die Zukunft der Demokratie verschieden aus; und je nach der Zukunft sieht man dann auch in der Gegenwart schon Probleme, von denen man glaubt, dass andere sie nicht sehen oder sie nicht ernst genug nehmen.«8

Zurück nach Kropp. Wenn die dortige DLRG-Jugend, der keine Räumlichkeiten für Sitzungen und Veranstaltungen zur Verfügung standen, von der ersten Kontaktaufnahme mit der Gemeinde über die erforderliche Baugenehmigung bis hin zum Richtfest ihrer selbst gebauten »Jugendhütte« nicht einmal ein halbes Jahr benötigt, dann ist das einerseits ein Zeichen für engagierte Jugendliche. Andererseits ist dies aber auch ein Beleg dafür, was möglich ist, wenn eine kommunale Beteiligungsverpflichtung ernst genommen wird und sowohl in der Verwaltung als auch über alle Parteigrenzen hinweg Einigkeit darüber besteht, dass Gemeinwesen auf Bürgerinnen und Bürger angewiesen sind, die schon in jungen Jahren die Erfahrung gemacht haben, dass sich bürgerschaftliches Engagement lohnt.
Diese Erfahrungen der Selbstwirksamkeit lassen sich jedoch nicht über Beteiligungsformate generieren, bei denen lediglich eine Bedürfnisartikulation von Kindern und Jugendlichen öffentlichkeitswirksam zelebriert wird, um einer Verwaltungsvorschrift zu genügen. Auch in Schleswig-Holstein sind seit 1996 einige Sackgassen beschritten worden. Einzelne projekt-orientierte Ansätze haben dabei genauso Schiffbruch erlitten wie Kinder- und Jugendbeiräte oder andere Formen der Gremien-Partizipation. Die Form der Beteiligung allein gibt nicht den Ausschlag.
Hamburg ist zu wünschen, dass auf der Basis der Erfahrungen in anderen Bundesländern die bekannten Sackgassen umschifft werden und berücksichtigt wird, dass angemessene und erfolgreiche Kinder- und Jugendbeteiligung in den Köpfen der Erwachsenen beginnt und auch »in diese« am meisten investiert werden muss. Die jungen Bürgerinnen und Bürger merken ohnehin, wenn wir es nicht ernst mit ihnen meinen – egal, wo wir von der A7 abfahren.


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Info: Beteiligung in Schleswig-Holstein
Einen umfassenden Überblick über die im Hohen Norden gesammelten Erfahrungen bietet die Multimedia-CD »verbindlich – vielfältig – vorbildlich«. Kinder- und Jugendbeteiligung in Schleswig-Holstein«, die unter anderem ein umfangreiches Methodenhandbuch und zahlreiche Praxisportraits beinhaltet. Weitere Informationen unter: www.mitwirkung-sh.de/1

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Anmerkungen
1. § 33 Hamburger Bezirksverwaltungsgesetz: »Das Bezirksamt muss bei Planungen und Vorhaben, die die Interessen von Kindern und Jugendlichen berühren, diese in angemessener Weise beteiligen. Hierzu entwickelt das Bezirksamt geeignete Verfahren.«
2. § 47 f Gemeindeordnung Schleswig-Holstein: »Die Gemeinde muss bei Planungen und Vorhaben, die die Interessen von Kindern und Jugendlichen berühren, diese in angemessener Weise beteiligen. Hierzu muss die Gemeinde über die Beteiligung der Einwohnerinnen und Einwohner nach den §§ 16 a bis 16 f hinaus geeignete Verfahren entwickeln.«
3. Vgl. M. Freitag: Zehn Jahre Beteiligungsverpflichtung in der Gemeindeordnung von Schleswig-Holstein, in: Jugendliche planen und gestalten Lebenswelten. Partizipation als Antwort auf den gesellschaftlichen Wandel, T. Ködelpeter & U. Nitschke (Hrsg.), Wiesbaden 2008, S. 94
4. Vgl. Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Mehr Partizipation wagen. Argumente für eine verstärkte Beteiligung von Kindern und Jugendlichen, Gütersloh 2007, S. 66 – 99
5. Ebd., S. 76 | 6. Ebd., S. 78 | 7. Ebd., S.99
8. N. Luhmann: Die Zukunft der Demokratie, Darmstadt 1986,
S. 207