Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 1-2013, Rubrik Titelthema

Von Comic bis Klassiker

Timo Ogrzal über Bücher von Thomas Mann, Mary Shelley und Moores & Lloyds

Beginnen möchte ich meine Buch-Empfehlungen mit zwei Texten Thomas Manns, die in einem hohen Maße für den Einsatz meines eigenen Interesses für »Literatur« während meiner Jugendzeit verantwortlich sind und die im Jahr 2013 einen »runden Geburtstag« feiern. Dabei handelt es sich um die Erzählung »Tonio Kröger«, veröffentlicht im Jahr 1903, und um die Novelle »Der Tod in Venedig«, die bereits 1912 in kleiner Auflage erschien, dann aber ab 1913 als Einzeldruck in großer Auflage veröffentlicht wurde. Natürlich haftet an diesen Texten problematisch das Etikett »Schul-Lektüre« und »hohe (Bildungs-)Literatur«, aber es gibt ein Gerücht um diese Texte, das ich aus meiner eigenen Erfahrung nur bestätigen kann: Wer in die spannungsreiche Welt der Gegensätze von Kunst und Leben, Nord und Süd, Hans Hansen und Tonio Kröger einmal eintaucht und sich verliert, der wird ein anderer, auch ein anderer Leser. Man kann an Thomas Mann und seinen Texten, in historischer Distanz zumal, manches kritisieren: die Statik einer zum Klischee neigenden Konstruktion, die zum Teil gestelzt wirkenden Satzgebilde, die ausbleibende Öffnung hin zum radikalen Sprach-Experiment, das andere Zeitgenossen gewagt hatten. Aber eines bleibt in und mit diesen Texten: Sie können ein Einstieg sein, und zwar ein Einstieg zum Lesen und Weiterlesen im zwar »zugangsbeschränkten« aber unendlichen Feld der Weltliteratur. Diese Texte sind nach wie vor Türöffner zum Unendlichen – für diejenigen, die eintreten mögen.
Außerdem möchte ich einen Klassiker und einen Comic bzw. eine Graphic Novel empfehlen:
Ein Buch von unvergleichlicher Qualität ist für mich der Text einer 21-Jährigen Autorin: der Roman »Frankenstein oder Der moderne Prometheus«, veröffentlicht von Mary Shelley im Jahr 1818 – meine Klassikerempfehlung! Auch der Zugang zu diesem Text ist vielleicht durch die geradezu sprichwörtliche Popularität und die unzähligen Wiederaufnahmen des Stoffes, vor allem im Film, ein wenig verstellt, aber mich fasziniert vor allem die gekonnte Stringenz der Erzählführung, in der sich jedes Kapitel als ein kluger Zug eines immer komplexer werdenden Spiels und Gefüges erweist. Wer mag, kann darin die berühmte Schauergeschichte vom konstruierten Monster wahrnehmen, unter der Hand liest man allerdings auch eine intelligent ausgeführte Parabel einer Konfrontation des aufgeklärten, modernen Menschen mit seinen Problemen und Herausforderungen: Wie steht es mit der Natur im Zeichen der Möglichkeiten der modernen Technik und Wissenschaften? Was ist gut, was ist böse? Was ist Glauben, was ist Wissen? Wie und wo verläuft die Grenze zwischen Wahnsinn und Vernunft?
Literatur wird so zum Impuls für die wirklich kritischen Fragen unserer Lebenswelt, Kultur und Gesellschaft und in diesem Horizont situiert sich auch die Graphic Novel »V for Vendetta« von Alan Moore (Autor) und David Lloyd (Zeichner), die fortlaufend in den 80er Jahren entstanden ist und 1990 in einer Buchfassung veröffentlicht wurde. Die nahe Zukunft sieht darin düster aus: die Handlung spielt in England im Jahr 1997, das nach einem apokalyptischen Krieg von einem faschistischen Regime unterjocht wird. Der in der berühmten Guy Fawkes-Maske auftretende anarchistische Widerstandskämpfer V jedoch bekämpft das Regime mit Gewalt, wird damit aber auch zum gewalttätigen Terroristen. Die kritische Hinterfragung von totalen Überwachungen, der Verweis auf die Ausgrenzung und Vernichtung Andersdenkender und die in Spannung gehaltene Frage, wie kritischer Widerstand möglich ist, ohne sich selbst in fragwürdige Gewaltzusammenhänge zu verstricken, sind nur einige Aspekte, die einem nach der Lektüre dieses spannungsreichen Gefüges zwischen Text und Bild nachhaltig zu denken geben. Wer mag, der kann diesen Lektüre-Eindruck mit der opulenten Hollywood-Verfilmung aus dem Jahr 2006 vergleichen. In meiner Wahrnehmung und Wertung übertrifft jedoch die Eindrücklichkeit und Raffinesse der Graphic Novel den Film um Längen.
Da Mary Shelleys »Frankenstein« und Moores & Lloyds »V for Vendetta« ursprünglich englischsprachig sind, nehme ich dies ich gern zum Anlass, zur möglichen Lektüre der Originale zu ermutigen.

Bücher: Thomas Mann, Der Tod in Venedig und andere Erzählungen, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012. Enthält auch Tonio Kröger | Mary Shelley, Frankenstein or The Modern Prometheus, Oxford University Press, New York 1993 | Mary Shelley, Frankenstein oder Der moderne Prometheus, Text der Urfassung, DTV, München 2013 | Alan Moore & David Lloyd, V wie Vendetta, Panini, München 2007 | Alan Moore & David Lloyd, V for Vendetta, DC Comics, New York 1990.

Timo Ogrzal ist Lehrbeauftragter u.a. am Institut für Germanistik II der Universität Hamburg und Dramaturg sowie Darstellungstheoretiker des Performance-/ Forschungskollektivs Agentur für Überschüsse (www.agenturfü.de). Aktuelle Publikation: zus. mit Ulrich Wergin (Hg.), Romantik – Mythos und Moderne, Königshausen & Neumann, Würzburg 2013