Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 1-2023, Rubrik Titelthema

Zur Aktualität von Nationalsozialismus und Shoah

Rede auf einer Veranstaltung des Landesjugendrings im Rahmen des Bertini-Preises

Von Sven Kramer, Leuphana Universität Lüneburg*

Vor neunzig Jahren kamen die Nationalsozialisten an die Macht; vor 78 Jahren befreiten sowjetische Truppen Auschwitz. Junge Erwachsene leben heute in der vierten Generation nach den Ereignissen. In den Familien gibt es kaum noch Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Erinnerungsforscher wie Jan und Aleida Assmann diagnostizieren einen Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis, das heißt, dass Erlebtes kaum mehr mündlich, von Person zu Person, weitergegeben wird, sondern dass andere Überlieferungsmedien in den Vordergrund treten. Langsam geht damit auch die Dringlichkeit verloren, die die Erinnerung an die Zeit zwischen 1933 und 1945 für die Überlebenden und weitere Angehörige der Zeitzeugengeneration hatte. Die Nachgeborenen – also wir – stehen immer wieder vor der Aufgabe, die mit dem Nationalsozialismus und der Shoah [1] verbundene Brisanz deutlich zu bezeichnen. Dabei tritt die Erinnerung an die Vergangenheit in Konkurrenz mit Themen, die die heutigen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen beschäftigen – etwa die Klimakrise, post- und neokoloniale Strukturen oder die neuen Autokratien, die sich von Erdogan über Orban bis Putin in verschiedenen Ausprägungen etablieren konnten. Neben diesen aktuellen Phänomenen wird die Erinnerung an den Nationalsozialismus und die Shoah nur gehört, wenn die exemplarische Bedeutung der Ereignisse zwischen 1933 und 1945 für die Gegenwart bezeichnet wird. Abstrakte Forderungen nach Erinnerung helfen kaum weiter: das routinierte Gedenken läuft irgendwann leer. Nötig sind Aktualisierungen, die das Gewesene auf gegenwärtige Problemlagen beziehen. Das kann auf unterschiedliche Weise geschehen: durch die Befragung der Archive nach neuen Gesichtspunkten, durch aktualisierende Debatten oder durch die Rezeption von Kunstwerken. Wichtig ist, dass die Verbindung zur Gegenwart hergestellt wird. Denn aus der Geschichte lernen heißt ja, dass die historischen Erfahrungen und das überlieferte Wissen der jeweiligen Gegenwart in eine Richtung weisen. Historisches Wissen kann dann zum Orientierungswissen werden.

Im Folgenden möchte ich über verschiedene Aktualisierungen sprechen, selbst einige vornehmen und dabei am Rande auch auf die Rolle von Bildungseinrichtungen eingehen. Dabei wird die Erinnerung an den Holocaust in Zentrum stehen. Einleitend möchte ich aber einige knappe Bemerkungen zur Relevanz der Erinnerung an den Nationalsozialismus jenseits des Holocaust machen. In einer Zeit, in der die AfD hohe Stimmengewinne einfährt und in vielen Ländern autoritäre und sogar neofaschistische Bewegungen an Stärke gewinnen, liegt es auf der Hand, die nationalsozialistische Organisation und Politik neu zu befragen. – Lassen Sie mich also hinsichtlich des Nationalsozialismus stichwortartig fünf aktuelle Anknüpfungspunkte benennen: Weiterhin aktuell sind erstens die Mechanismen, mit denen die Nationalsozialisten Zustimmung und Gefolgschaft generiert haben – nur dass sie heute überwiegend ins Internet verlegt wurden. Unter vielen anderen hat der Philosoph Christoph Türcke auf dieses Phänomen hingewiesen; sein empfehlenswertes Buch heißt Digitale Gefolgschaft. – Aktuell ist zweitens auch die Aufspaltung der Welt in ein Wir und in die Anderen. Jeder, der damals nicht zu diesem Wir gezählt wurde, gehörte nicht zur sogenannten Volksgemeinschaft und wurde stigmatisiert, marginalisiert und – mal stärker, mal schwächer – verfolgt oder – im Falle der Juden – sogar umgebracht. Heute mag es andere Begriffe dafür geben, wie zum Beispiel den des Othering, aber in der Sache handelt es sich hier ebenfalls um Formen oder Vorformen der Ausgrenzung. Die ›Volksgemeinschaft‹ wurde natürlich unterdessen durch andere Bezugsgrößen ersetzt. – Ebenfalls aktuell ist drittens die Lehre aus der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933. Sie konnte nur erfolgreich sein, weil die Weimarer Demokratie zuvor ausgehöhlt worden war und sich Antifaschisten gegenseitig bekämpften. Als Handreichung für den Widerstand gegen Autoritarismus empfehle ich Timothy Snyders Buch Über Tyrannei. – Viertens muss der Einsatz von Propaganda genannt werden, die in autoritären Staaten heute im Internet unter dem Vorzeichen der Public Relations wiederkehrt und dabei mit der Monopolisierung der medialen Kanäle und der digitalen Abschottung des Geoblocking arbeitet. – Fünftens bleibt die Erkenntnis aktuell, dass populistische Herrschaft oft in den Krieg mündet, weil der Krieg eine Möglichkeit ist, den Ausnahmezustand auszurufen und damit die eigene Herrschaft zu verlängern. Die alte Formel: ›Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!‹ bezeichnet deshalb einen noch heute aktuellen Zusammenhang.

Jeder dieser Punkte eignet sich dafür, in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen ausführlicher diskutiert zu werden. An Stoff für die Aktualisierung besteht also kein Mangel. – Lassen Sie mich nun etwas umfangreicher auf jenes Merkmal des deutschen Faschismus eingehen, das ihn vom italienischen und vom spanischen Faschismus unterscheidet. Ich meine den bis zum Genozid getriebenen, eliminatorischen Antisemitismus des Nationalsozialismus. Als Nachgeborene sind wir für den Holocaust selbst ja nicht verantwortlich; wir sind auch nicht schuldig geworden. Aber die Tatsache, dass dieser Genozid aus unserer politischen Kultur hervorging und dass er von vielen unserer Familienmitglieder toleriert, unterstützt oder sogar verübt wurde, verlangt nach der Befragung dieser Kultur und legt uns eine besondere Verantwortung auf. Denn dass sich weder Auschwitz noch etwas Ähnliches bei uns je wieder ereignen darf, ist zurecht zu einem unverrückbaren ethischen Bezugspunkt unseres demokratischen Gemeinwesens geworden. – Lassen Sie mich also einige Zugänge skizzieren, die Verbindungen zu aktuellen Fragen herstellen. Dabei wird es nicht in erster Linie um tagesaktuelle Fragen gehen, sondern um eine Aktualität mit längerem Verfallsdatum: um eine Standortbestimmung der Moderne, in der wir leben.

Der Historiker Dan Diner erkennt in den nationalsozialistischen Todeslagern einen Kulminations- und Wendepunkt der europäischen Kulturgeschichte. Er sprach schon 1988 von einem Zivilisationsbruch, der in Lagern wie Auschwitz stattgefunden habe. Der Name Auschwitz bezeichnet einerseits einen konkreten Ort des Massenmords. Andererseits nimmt er auch eine Funktion innerhalb des Nachdenkens über den eigenen historischen Standort ein. Geschichtsphilosophisch gesprochen, kommt – spätestens – mit Auschwitz eine Epoche an ihr Ende, die ihre Emphase aus der Aufklärung des 18. Jahrhunderts bezogen hatte und seither zuinnerst mit den bürgerlichen und sozialistischen Freiheitsbewegungen verbunden war. Geschichte wurde als ein Fortschreiten zum Besseren begriffen, das durch menschliches Handeln Stück für Stück erreicht werden würde. Seit Auschwitz, so Diner und andere, könne die Geschichte der Menschheit aber nicht mehr umstandslos als eine Fortschrittsgeschichte gedacht werden, nicht mehr im Sinne der aufklärerischen Perfektibilität, nicht mehr als Höherentwicklung, als langer Marsch zu mehr Freiheit, mehr Humanität. Auschwitz dementiert diese Vorstellungen vom Fortschritt, weil die Mittel, die die Zivilisation der Moderne hervorgebracht hat, sich an den Stätten des Massenmords gegen die Absichten derjenigen kehrten, die die modernen Emanzipationsbewegungen einst in Gang gesetzt hatten.

Das gilt zunächst für den technischen Fortschritt, zum Beispiel für die vielgerühmte deutsche Ingenieurskunst sowie für das Fachwissen der Chemikerinnen und Chemiker. Historiker wie Jean-Claude Pressac konnten detailliert herausarbeiten, wie Vertreter dieser Berufsgruppen ihre Anstrengungen im Bereich der Forschung keineswegs für die Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen einsetzten, wie es die Vorstellung vom technischen Fortschritt zunächst nahelegt. [2] Im Einzugsbereich der Todeslager floss ihr innovatives Potenzial und das, was man zynisch die ›Kreativität‹ ihrer Forschung nennen könnte, in die Herstellung und Optimierung von Menschentötungsanlagen. So verbesserten sie systematisch die technischen Voraussetzungen dafür, möglichst viele Menschen in kurzer Zeit und mit vergleichbar wenig Aufwand umbringen zu können. Wurde in Auschwitz zunächst noch mit Genickschussanlagen getötet, so verfielen die Fachleute danach auf Gas. Die ersten Massenvergasungen an Jüdinnen und Juden fanden im Lager Kulmhof in dafür umgebauten Lkw’s mit Hilfe von Abgasen statt. Später wurden Gaskammern entwickelt, die eine größere Gruppe von Menschen aufnehmen konnten. In den Lagern der Aktion Reinhardt – also Sobibór, Bełżec und Treblinka – wurde mit Abgasen von Motoren getötet. [3] In Auschwitz-Birkenau ›optimierten‹ die Chemiker das Verfahren. Die Verwendung von Zyklon B verkürzte den Erstickungstod und ermöglichte dadurch die Erhöhung der Tötungen pro Tag. Auch die Ingenieure trugen ihren Anteil bei. Durch die architektonische Kombination von Gaskammern mit angeschlossenen Krematorien wurde der Verfahrensablauf weiter gestrafft, so dass von den hier umgebrachten Menschen binnen einer haben Stunde nicht mehr als etwas Asche und ein wenig Rauch übrigblieb – ein Grab in den Lüften, wie der Lyriker Paul Celan es ausdrückte.

Das Beispiel zeigt, warum die Shoah den Glauben an den technisch-zivilisatorischen Fortschritt in Frage stellt: Sie deckt die technische Janusköpfigkeit, die Doppelwertigkeit, der Moderne auf. Der Begriff des Zivilisationsbruchs geht über diesen technischen Aspekt allerdings noch hinaus und thematisiert auch die moralische Janusköpfigkeit der Moderne. Trotz der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 und trotz aller Emanzipationsbestrebungen der bürgerlichen Epoche wurde an ihrem Ende ein Teil der Bevölkerung von den damaligen Repräsentanten der Mehrheit zu nicht Zugehörigen erklärt, zu Rechtlosen gemacht und in einem administrativ geordneten, von Staats wegen betriebenen Verfahren physisch liquidiert. Hier versagt der Begriff des Fortschritts vor der historischen Entwicklung. Der Philosoph Hegel versuchte einst den Fortschrittsbegriff zu retten, indem er Kriege und Tyranneien, also Ereignisse, in denen »die Individuen […] aufgeopfert und preisgegeben werden« [4] und die offensichtlich nicht zum Fortschritt beitrugen, mit Hilfe der Wendung von der ›List der Vernunft‹ erklärte. Auf verborgene Weise – vielleicht auch dadurch, dass sie auf folgende Generationen abschreckend wirken – würden sie letztlich doch helfen, der Vernunft in der Geschichte – und damit dem Fortschreiten der Gattung – Geltung zu verschaffen. Die Shoah lässt sich durch solche Hilfskonstruktionen aber nicht in eine Geschichte der Vernunft oder des Fortschritts integrieren. Dem Skandal, dass millionenfach willkürlich und zugleich systematisch gemordet wurde, würde dadurch ein Sinn unterschoben werden. In ihrem rassistischen Antisemitismus glaubten die Nationalsozialisten tatsächlich an den Sinn des von ihnen betriebenen Genozids, den sie verharmlosend die ›Endlösung‹ nannten. Diese aus dem Wahn hervorgegangene Sinngebung muss natürlich zurückgewiesen werden – allerdings ebenso wie alle anderen, auch die gut gemeinten. Daran, dass es Auschwitz gab, ist nichts Gutes. Das gehört zu der schwer auszuhaltenden Aktualität der Shoah. Denn auch in unserer politischen Gegenwart sind Rechtfertigungen für Massentötungen keineswegs verschwunden – und oft genug münden sie in reale Massaker (wie jüngst in Butscha). Die Erinnerung an die Shoah heute liegt also nicht zuletzt darin, das historische Geschehen als einen Einspruch gegen Vereinnahmungen durch neue Sinngebungen zu begreifen. In der Summe dieser Überlegungen heißt das: Jedes bruchlose Anknüpfen an den Fortschrittsbegriff ist ›nach Auschwitz‹ geschichtsvergessen und wird zur Ideologie.

In der Gegenwart, die symbolisch mit dem 27. Januar 1945 beginnt (also mit der Befreiung des Lagers Auschwitz durch die Rote Armee) und die als die Zeit ›nach Auschwitz‹ gefasst werden kann, – in dieser Gegenwart gilt deshalb ein neuer Maßstab, den der Philosoph Theodor W. Adorno mit Blick auf Immanuel Kant so formulierte: »Hitler hat den Menschen […] einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.« [5] Das heißt ganz konkret, Ausgrenzungen und Entrechtungen entgegenzutreten. Hier ist neben dem Staat auch die Zivilgesellschaft gefragt, die der Bertini-Preis stärkt, indem er das mutige Verhalten Einzelner unterstützt. Schulen und Universitäten können ebenfalls ihren Beitrag zur Zivilisierung der Gesellschaft leisten. Bereits die Schaffung einer solidarischen Lernsituation ist hoch einzuschätzen. Wenn es um den Geschichtsunterricht und die universitäre Lehre geht, wäre mit Bezug auf den curricularen Aspekt zunächst dafür zu sorgen, dass die historischen Fakten rund um die Shoah weiter bekanntgemacht werden – und dass dabei Holocaustleugnern entschieden entgegengetreten wird. Entscheidend ist auch hier, dass die Vorgänge in ihrer Relevanz für die Gegenwart perspektiviert werden. Dazu gehört zum Beispiel die Sensibilisierung für aktuelle Erscheinungsformen der Ausgrenzung, also etwa des Antisemitismus, der sich in verschiedenen Gestalten zeigt, unter anderem als sekundärer Antisemitismus, als Antisemitismus wegen Auschwitz. Natürlich sollte dabei auch auf die Ausgrenzung anderer Gruppen eingegangen werden oder auf die Mehrfachausgrenzungen, die unter dem Begriff der Intersektionalität gefasst werden. Hier sind zunächst alle geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer gefordert, keineswegs nur die Geschichtswissenschaft. Und anknüpfend an die Überlegungen, die ich in Bezug auf die Chemiker und die Ingenieure vorgetragen hatte, können viele weitere Berufsgruppen genannt werden, in denen Akteurinnen und Akteure ihr Handeln überprüfen sollten. Es gab Mediziner, die Zwangssterilisierungen und Menschenexperimente durchgeführt haben; Juristen hielten die sogenannte Rechtsprechung im Unrechtsstaat aufrecht; Biologen agierten im Sinne der Rassenlehre; Public-Relations-Spezialisten arbeiteten an einer verhüllenden, euphemisierenden Sprache. Im Grunde stellt sich für alle Berufsgruppen und für alle Fächer die Frage, ob die Einzelnen mitmachen oder nicht. Eine Verengung der Bildungsgänge in diesen Fächern auf Ausbildung würde die gesellschaftlichen Funktionen der ausgeübten Berufe ignorieren. Die fachbezogenen Kompetenzen – wie es heute heißt – sollten demgegenüber im Rahmen eines breiter angelegten Bildungskonzepts erlernt werden. Elemente der politischen Bildung gehören mit in die Ausbildung hinein.

Aber, meine Damen und Herren: Selbst wenn dies geschieht, stoßen Konzepte an Grenzen, die ausschließlich am Individuum anknüpfen. Wir können es am Nationalsozialismus studieren und sehen es heute in Russland und in China: Manchmal wird der Preis für das Nicht-Mitmachen einfach zu hoch. So wertvoll der Nonkonformismus und die Dissidenz Einzelner sind – nur selten bringen sie die organisierte Staatsmacht des Autoritarismus ins Straucheln. Aktualisierungen der Shoah sollten deshalb einerseits das Bewusstsein für die je individuelle Verantwortung für das Gemeinwesen stärken – und andererseits auch über strukturelle Faktoren aufklären, die über die Entscheidungen Einzelner hinausgreifen.

Während der letzten Phase des Zweiten Weltkriegs legten sich die Philosophen und Sozialwissenschaftler Adorno und Horkheimer im kalifornischen Exil die noch heute aktuelle Frage vor, »warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt«. [6] Ich möchte hier nicht den aus heutiger Sicht vielleicht erklärungsbedürftigen Begriff des Barbarischen diskutieren. Gemeint war damit, dass Forschung klären muss, warum es zu Auschwitz kam – und warum es bis heute zu Kriegen, Genoziden, Folterungen, Vergewaltigungen und systematischer Gewaltausübung kommt. Aufklärung muss sich, im Sinne einer Friedensforschung, darüber hinaus gegen die Entsolidarisierung wenden und sich um Möglichkeiten der Zivilisierung des Zusammenlebens auf dieser Erde kümmern. Damit ist zweifellos ein weites Feld umrissen, ein Feld, das unabsehbar wird, wenn man sich klarmacht, dass die gesuchten Ursachen vielfach im Verborgenen liegen und dass sie keineswegs nur auf bewusstes Handeln zurückzuführen sind. Horkheimer und Adorno haben am Konzept der Aufklärung festgehalten, um die untergründig wirksamen Ursachen für die Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts herauszuarbeiten. Ihr Epoche machendes Buch von 1947 heißt Dialektik der Aufklärung, weil die Autoren davon ausgingen, dass noch in bestimmten Formen der Aufklärung die destruktiven Tendenzen wirkten, dass also, kurz gesagt, an Aufklärung nur festgehalten werden könne, wenn sich die Aufklärung auch auf sich selbst bezieht – wenn sie also zur Selbstaufklärung beiträgt.

Für die Verhinderung weiterer Genozide und für die Zivilisierung der Gesellschaft bedeutet dies, dass verborgene Strukturen erforscht werden sollten, die das Handeln der Zeitgenossen mitbestimmen. Man könnte in diesem Zusammenhang mit Recht auf die Ökonomiekritik eingehen, die – vor allem seit Karl Marx – das Modell für die Aufklärung über solche Strukturen etabliert hat. Noch heute gilt: »Wer […] vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen«. [7] Zur Wahrheit über den Nationalsozialismus gehört allerdings auch, dass gerade die Shoah nicht umstandslos aus der Kapitallogik abgeleitet werden kann. Noch wichtiger für unser Thema scheint mir deshalb der Hinweis auf die Sozialpsychologie zu sein. Sigmund Freud hatte erstmals umfangreich beschrieben, dass die Psyche der Menschen neben dem Bewusstsein auch das Unbewusste umfasst. Denken und Handeln verlaufen nie ausschließlich rational, sondern in ihnen setzen sich Trieb- und Affektanteile durch. In den Einzelnen selbst liege ein weitgehend unentdeckter Erdteil, den es aufzuklären gelte. Freud hat in Untersuchungen wie Massenpsychologie und Ich-Analyse auch die kollektiven Anteile an der individuellen Psyche beschrieben. Hier knüpft die Sozialpsychologie an, die seit den 1930er Jahren das Phänomen der Gefolgschaft untersucht und dabei auf eine Disposition stieß, die sie den autoritären Charakter nennt. Mit ihm verbunden sind psychische Vorurteilsstrukturen, die sozial hervorgebracht und verstärkt werden.

Bereits damals veranlasste man empirische Untersuchungsreihen, um Vorurteile zu erforschen, die zum Beispiel den Antisemitismus mit hervorbringen. Wie aktuell dieser Ansatz ist, zeigen die von Elmar Brähler und Oliver Decker initiierten Leipziger Autoritarismus-Studien. Sie sind bekannter unter dem Namen Mitte-Studien, weil sie den Autoritarismus in psychischer Hinsicht nicht nur als ein Phänomen rechter Akteure und Akteurinnen sehen. Zu einem gewissen Prozentsatz reicht er in die Mitte der Gesellschaft hinein. In Bezug auf ein solches Phänomen bedeutet Aufklärung im Sinne der Selbstaufklärung, dass die eigene unbewusste psychische Verstricktheit in gesellschaftlich hervorgebrachte Vorurteile erforscht und thematisiert werden muss. Neben die aktualisierende Erinnerung an die Opfer und das Leid, das ihnen widerfahren ist, gehört deshalb auch die Täterforschung. Das hat zum Beispiel die Historikerin Ulrike Jureit vehement eingefordert. Sie argumentiert, dass es heute sehr leicht und moralisch billig sei, sich mit den damaligen Opfern zu identifizieren und bezeichnet die Deutschen polemisch als ›Olympioniken der Betroffenheit‹. [8] Nötig wäre es demgegenüber, so Jureit, die Verstrickungen der Mehrheitsgesellschaft in die Shoah zu thematisieren. Ein sehr interessantes Angebot macht in dieser Hinsicht die KZ-Gedenkstätte Neuengamme: Neben Seminaren für Angehörige von NS-Verfolgten bietet sie in ihrem Bildungsprogramm auch Seminare für Angehörige von NS-Tätern an, in denen zum Beispiel über Fragen der Loyalität und Illoyalität gegenüber Tätern in der eigenen Familie gesprochen wird.

Wenn ich nun zum großen Bogen meiner Überlegungen zurückkehre, möchte ich resümierend sagen: Obwohl wir den Fortschrittsoptimismus der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, wie er sich zum Beispiel bei Lessing oder Kant zeigt, ›nach Auschwitz‹ nicht mehr teilen können, so dürfen wir den Begriff und das Konzept der Aufklärung auch nicht vollständig fallenlassen, wenn wir der Entsolidarisierung entgegenarbeiten wollen. Aufklärung – im Sinne der journalistischen Recherche und der politischen Analyse – vermittelt unverzichtbares Wissen über die Neue Rechte, den aktuellen Antisemitismus sowie über andere Formen des Rassismus. Darüber hinaus sollte Aufklärung auch in Sinne der Selbstaufklärung betrieben werden, sollten die tieferen und weniger sichtbaren, die strukturellen Verstrickungen bedacht werden, die auch in Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft wirksam sind. Auf allen diesen Ebenen bleibt die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus und der Shoah aktuell.

Lassen Sie mich mit einer persönlichen Erinnerung schließen. Ich weiß aus eigener Anschauung, wie prägend das persönliche Zeugnis der Verfolgten sein kann. Denn ich erinnere mich bis heute an einen beeindruckenden und berührenden Besuch von Arie Goral (1909 – 1996) in meiner damaligen Schule in Hamburg. [9] Weil es heute kaum mehr eine Gelegenheit gibt, den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zuzuhören, sollten wir versuchen, im Reden über die Shoah etwas von der Dringlichkeit zu transportieren, die sie so eindrucksvoll vermitteln konnten.
 

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Fußnoten:

[1] Im Laufe der Jahrzehnte wurden unterschiedliche Bezeichnungen für den Genozid an den Jüdinnen und Juden Europas verwendet. Zwei Filme beeinflussten den hiesigen Sprachgebrauch maßgeblich: erstens die 1979 in der BRD ausgestrahlte Mini-TV-Serie Holocaust von Marvin Chomsky, zweitens der Dokumentarfilm Shoah (1985) von Claude Lanzmann. Während sich ›Holocaust‹ als Bezeichnung in der englischsprachigen Welt durchsetzte, wurde die Prägung kritisiert, weil sie das ›Brandopfer‹ als eine ihrer Bedeutungen mit sich führt. Damit aber sei eine Sinngebung des Verbrechens verbunden, sagen die Kritiker. Im Folgenden ist von ›Shoah‹ in der französierten Schreibweise die Rede – nicht zuletzt, weil damit auf Lanzmanns bedeutenden Film verwiesen werden kann.

[2] Vgl. Jean-Claude Pressac: Die Krematorien von Auschwitz. Die Technik des Massenmordes, München 1995.

[3] Zur Aktion Reinhardt vgl. Stephan Lehnstaedt: Der Kern des Holocaust. Bełżec, Sobibór, Treblinka und die Aktion Reinhardt, München 2017.

[4] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt am Main 1986, S. 49.

[5] Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 6, Frankfurt am Main 1973, S. 7 – 412, S. 358.

[6] Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, in: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften, Bd. 5, hg. von Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt am Main 1987, S. 16.

[7] Max Horkheimer: Die Juden und Europa, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4, hg. von Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt am Main 1988, S. 308 f.

[8] Vgl. Ulrike Jureit und Christian Schneider. Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart 2010, S. 19.

[9] Hier seien zwei Gedichtbände von ihm genannt, vgl. Arie Goral-Sternheim: Jiskor Hamburger Juden Memento, Hamburg 1988; ders.: Hamburger Heiligengeist Felddomkantate Hundepsalm, Hamburg 1992.

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* Veranstaltung am 24. Januar 2023 mit dem Titel »Wozu erinnern?« zum 25jährigen Bestehen des Bertini-Preises (www.bertini-preis.de)