Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 4-2022, Rubrik Titelthema

Kritische Perspektiven auf die Partizipationspraxis von Kinder- und Jugendarbeit

Was kann und könnte Jugendarbeit heute leisten?

Von Moritz Schwerthelm, Universität Hamburg

Die Felder der Kinder- und Jugendarbeit bezeichnen sich selbst als Orte der Demokratiebildung (BAG OKJE 2022) bzw. »Werkstätten der Demokratie« (DBJR 2018). Einerseits weisen offene und verbandliche Jugendarbeit Potenziale für Partizipation und Demokratiebildung auf, andererseits zeigen Studien, dass diese Potenziale nicht immer genutzt werden (Riekmann 2011; Sturzenhecker & Schwerthelm 2016; Ahlrichs 2019; Deutscher Bundestag 2020). Der vorliegende Beitrag beschreibt sowohl Potenziale als auch kritische Perspektiven auf Partizipationspraxen der Jugendarbeit, unterscheidet dabei aber auch zwischen inneren und äußeren Einflussfaktoren, die die Partizipationspraxis erschweren können. [1] Dabei nimmt er auch sozialräumliche Perspektiven auf und plädiert für eine verstärkte Beachtung der Jugendarbeit bei der Jugendhilfeplanung sowie der kommunalen Kinder- und Jugendbeteiligung.

Zunächst soll aber sichergestellt werden, dass Leser:innen nachvollziehen können, was hier mit Partizipation und Demokratiebildung gemeint ist und in welchen Facetten diese sich in der Jugendarbeit ausprägen können. Denn es wird sehr viel Unterschiedliches unter diesen Begriffen verstanden.

Facetten von Partizipation und Demokratiebildung in der Jugendarbeit
Das beginnt damit, dass nicht alle Akteure des Feldes den notwendigen Zusammenhang zwischen Partizipation und Demokratiebildung (an)erkennen. Sie verstehen dann Demokratiebildung als eine bestimmte Form der politischen Bildung, die sich im Wesentlichen auf den Wissenserwerb über Politik und Demokratie als Regierungsform reduziert und insofern Wissen vermitteln will oder ›Fehlentwicklungen‹ bei Jugendlichen präventiv verhindern möchte. Dies kann auf sehr undemokratische Weise geschehen. Hier wird eine andere Position eingenommen: in diesem Beitrag wird das (partizipative bzw. demokratische) Handeln junger Menschen und die Realisierung ihrer (politischen) Beteiligungsrechte in den Mittelpunkt gestellt. Denn Demokratiebildung, wie sie hier verstanden wird, beginnt beim demokratischen Handeln. Es wird davon ausgegangen, dass sich Menschen Demokratie aktiv aneignen müssen, indem sie diese selbst aus-üben (Richter et al 2016). Unter Demokratie wird dabei nicht nur die Regierungsform verstanden, sondern auch Demokratie als Lebensform (Dewey 1916). Damit geht es auch nicht nur um die Mitwirkung an Politik in den verfassten Formen, sondern um die (alltägliche) Mitgestaltung und Mit-entscheidung aller gesellschaftlichen Bereiche.

In Theorien und Konzepten außerschulischer Demokratiebildung wird deshalb genauer begründet, warum man sich dabei nicht an der liberalen aktuell existierenden Demokratie der Bundesrepublik, sondern an einer deliberativen Demokratie (Habermas 1981) orientieren müsste. Denn letztere richtet den Fokus nicht auf Wahlen und Wahlkämpfe, sondern die Meinungs- und Willensbildung sowie konsens- und kompromissorientierte Aushandlungsprozesse. Mit diesen Aspekten demokratischen Handelns gehen wichtige Bildungserfahrungen einher. Wollen also pädagogische Felder die Demokratiebildung junger Menschen fördern, müssen sie zunächst demokratisches Handeln ermöglichen, das vor allem Meinungsbildungs- und Aushandlungsprozesse umfasst (aber selbstverständlich die Entscheidungen und Mitverantwortung dabei nicht ausklammert). Das beginnt in den eigenen Organisationen, Einrichtungen, Maßnahmen und Angeboten, geht aber auch über in sozialräumliche und kommunale Settings.

Dass Kinder und Jugendliche ein Recht auf eine solche Beteiligung haben, wird an unterschiedlicher Stelle gesetzlich versichert: allgemeiner in der UN-Kinderrechtkonvention (insbesondere §12) und in Bezug auf die Kinder- und Jugendhilfe bzw. -arbeit in den §§ 1, 8 und 11 des Sozialgesetzbuches (SGB) VIII und in Hamburg § 28 des AG SGB VIII sowie durch den §33 des Bezirksverwaltungsgesetzes. Allerdings ist dort nicht von demokratischer Partizipation die Rede. Es werden Begriffe wie »berücksichtigen« oder »in angemessener Weise beteiligen« genutzt, und meist wird diese Beteiligung unter einen Alters- oder Reifevorbehalt gestellt. In Konzepten der außerschulischen Demokratiebildung ist jedoch nicht das Alter, nicht die Reife und auch nicht die Kompetenz entscheidend, sondern einzig und allein die Betroffenheit. Ob sich also junge Menschen an Aushandlungen und Entscheidungen beteiligen, sollte davon abhängig sein, ob sie von diesen betroffen sind oder nicht. Das ist ein Grundgedanke der Demokratie, und so steht es auch im SGB VIII und im Bezirksverwaltungsgesetz. Partizipationsprozesse müssen dann vielmehr so gestaltet werden, dass alle Betroffenen (trotz ihrer Unterschiedlichkeit) daran teilnehmen können. So gesehen ist das eine inklusive Perspektive auf Partizipation.

Will eine Gesellschaft Demokratiebildung ermöglichen, reichen ›Berücksichtigung‹ oder ›Anhörung‹ auch nicht aus. Denn mit diesen Partizipationsformen werden junge Menschen wichtige – eben demokratische – Bildungserfahrungen vorenthalten. Die einfache Formel lautet: Ohne demokratische Partizipation keine Demokratiebildung. So zeigen Studien (van Deth 2013), dass es darauf ankommt, welche Formen der Partizipation Menschen eröffnet werden und wie demokratisch diese sind. Zentral ist dabei auch, dass es laut dieser Studien nicht ausreicht, alle vier Jahre wählen zu gehen und sich dann regieren zu lassen. Demokratie lernt man vielmehr im Rahmen einer gesellschaftlich-demokratischen Auseinandersetzung, Mitentscheidung und Mitverantwortung (Sturzenhecker & Schwerthelm 2016). Also gilt auch hier: Demokratie nicht nur als Regierungs- sondern als Lebensform zu verstehen, ist entscheidend für die Fortentwicklung und Stabilität der Demokratie. Denn eine Demokratie ist auf Büger:innen angewiesen, die sich demokratisch beteiligen wollen und die die Vorzüge einer solchen Form des Zusammenlebens anerkennen. Dazu brauchen demokratische Gesellschaften mindestens Bereiche, die auch jungen Menschen eröffnen, sich auf demokratische Weise einzubringen und entsprechende Erfahrungen machen können. Dies gilt insbesondere dann, wenn Studien (van Deth 2014) gleichzeitig darauf hinweisen, dass soziale Ungleichheit auch zu politischer Ungleichheit führt und andersherum: Je nachdem, wo und in welchem Kontext wir aufwachsen, haben wir unterschiedliche Voraussetzungen am Politischen mitzuwirken und so auch unsere soziale Teilhabe einzufordern. Zusätzlich sind junge Menschen davon betroffen, dass ihre Partizipationsversuche (auch in der Jugendarbeit) häufig nicht als solche wahrgenommen und anerkannt werden (Schwanenflügel 2015; Schwerthelm 2018). Daraus und aus dem systematischen Vorbehalt sich nicht demokratisch an Demokratie beteiligen zu können, entsteht ein zusätzlicher Unterstützungsbedarf junger Menschen.

Für eine solche demokratische Partizipation und Demokratiebildung haben offene und verbandliche Jugendarbeit nun spezifische Qualitäten, die so keine anderen Felder aufweisen: nicht die Familie, nicht die Schule und auch nicht andere Felder der Kinder- und Jugendbeteiligung (Sturzenhecker & Schwerthelm 2016). Dies soll im Folgenden aufgezeigt werden. Dabei wird angenommen, dass Einrichtungen und Verbände als »embryonic societys« (Dewey 1925) verstanden werden können, in der alle gesellschaftlichen Konflikte eine Rolle spielen können, weil sie untrennbar mit der Gesellschaft verbunden sind und die sich selbst demokratisch strukturieren könnten und so auch ihren Mitgliedern bzw. Adressat:innen demokratische Partizipation eröffnen könnten.

Potenziale und Kritiken zur Partizipationspraxis verbandlicher und offener Jugendarbeit [2]
Für die verbandliche Jugendarbeit haben sich vor allem Richter (1998) und daran anknüpfend Riekmann (2011) und Ahlrichs (2019) damit beschäftigt, welche spezifischen Potenziale sie allein durch ihre Struktur und ihren Anspruch, »Werkstätten der Demokratie« zu sein, aufweisen. Das beginnt damit, dass die Teilnahme an Angeboten und Mitgliedsstrukturen – wie in der offenen Jugendarbeit – freiwillig ist. Anders als in anderen pädagogischen Feldern können Kinder und Jugendliche selbst entscheiden, ob sie teilnehmen oder nicht. Anders als die überwiegende Anzahl der Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit (OKJA) organisieren sich die Jugendverbände in Vereinen, in denen die Jugendlichen selbst Mitglieder sein können. Damit weisen sie einerseits einen Vereinszweck auf, dem man sich selbstbestimmt anschließen und diesen dann mitbestimmen kann. Gleichzeitig regeln Vereine ihre Mitgliedschaft, klären damit, wer zum demos gehört und damit entscheidungsberechtigtes Mitglied mit entsprechenden Rechten und Pflichten ist. In der Differenz zur OKJA geben solche Vereine zum Teil jedoch ein gewisses Maß an Offenheit auf, weil das Thema damit festgelegt und nur begrenzt veränderbar ist. In der Praxis spielen selbstverständlich trotzdem die konkreten und alltäglichen Themen und Anliegen der jungen Menschen eine Rolle. Die Studie von Riekmann (2011) zeigt jedoch, dass dieses Potenziale der Mitgliedschaft nur begrenzt genutzt wird und einerseits eine Verbetrieblichung und andererseits eine Familiarisierung dazu führen, dass nur ein kleiner Teil der Mitglieder an den wesentlichen demokratischen Prozessen beteiligt ist. Bei der Verbetrieblichung werden die Mitglieder eher als Kundinn:en adressiert und werden so weniger Mitgestaltende als Konsumentinn:en von Angeboten. Die Familiarisierung führt zu einer gewissen Homogenisierung der Mitglieder und erzeugt Zugangsbarrieren. Damit bilden sie auch die Diversität der Gesellschaft nicht ab und erreichen so nicht alle Jugendlichen, wie auch der aktuelle 16. Jugendbericht beschreibt (Deutscher Bundestag 2020). Darum fragen Richter und Sturzenhecker (2011), ob die »Demokratiebildung [im Jugendverband] am Ende« sei.

Nun könnte man davon ausgehen, dass es sich in der OKJA durch ihre Offenheit anders gestaltet. Hier führt jedoch andersherum die fehlende Klärung der Mitgliedschaft und damit verbundener Mitgestaltungsrechte dazu, dass soziale Selektionsmechanismen (Schmidt 2010) wirken. Die, vor allem von Sturzenhecker (2013) herausgearbeiteten, Strukturmerkmale der Freiwilligkeit, Offenheit und Diskursivität werden so nur begrenzt zur Förderung von Partizipation genutzt. Trotzdem zeigen Studien, dass die Kombination von Freiwilligkeit und Offenheit dazu führt, dass die Beteiligten in der offenen Arbeit notwendigerweise miteinander klären müssen, was wann wie gemacht wird. Andernfalls können die Adressat:innen ›mit den Füßen abstimmen‹, wenn ihnen das Angebot nicht passt. Fachkräfte der OKJA sind also zu einem gewissen Grad grundsätzlich auf die Partizipation junger Menschen angewiesen.

Die Offenheit birgt zwei weitere Potenziale: Erstens erzeugt sie eine gewisse Diversität unter den Besucher:innen. Dies führt immer wieder zu In-teressenkonflikten, und Studien (Delmas & Scherr 2005, Schwanenflügel 2015, Schwerthelm 2015) können zeigen, dass junge Menschen in diesen Zusammenhängen lernen, mit Diversität umzugehen, Konflikte zu lösen und so prodemokratische Fähigkeiten erwerben. Zweitens, und vielleicht zwingender als in der verbandlichen Jugendarbeit, tragen Adressat:innen ihre sozialräumlichen und kommunalen Anliegen und Konflikte mit in die Einrichtungen: Eine Gruppe von Jugendlichen erzählt der Fachkraft, dass sie immer ›Stress‹ mit den Anwohner:innen eines nahegelegenen Parks haben, eine andere vielleicht, dass überall im Kiez auf einmal Plakate mit Politiker:innen, die sie nicht kennen, herumhängen oder eine Gruppe gerät direkt vor der Einrichtung in Konflikt mit Anwohner:innen. Diese Beispiele sollen deutlich machen, dass Einrichtungen der Jugendarbeit sozialräumlich und kommunal verortet sind. Die dort für die Jugendlichen relevanten gesellschaftlichen und politischen Themen könnten von den Fachkräften aufgegriffen werden (auch wenn die Jugendlichen sie selbst vielleicht nicht als solche bezeichnen würden). Sie können demnach zwar als »embryonic societys« bezeichnet werden, in denen auch alle gesellschaftlichen Konflikte eine Rolle spielen und demokratisch bearbeitet werden können. Wie kurz skizziert wurde, organisieren sie sich jedoch nur begrenzt als »embryonic democracys« (Schwerthelm 2015), weil wesentliche Prozesse und Entscheidungen einem kleinen Teil der Beteiligten (mal dem pädagogischen Personal, mal einer kleinen Gruppe von Mitgliedern bzw. Adressat:innen) vorbehalten bleibt. In beiden Feldern entstehen so Expert:innendemokratien (Richter et al 2016).

Somit werden einem Großteil der Adressat:innen bzw. Mitglieder von Jugendarbeit wesentliche Aspekte demokratischer Partizipation vorenthalten und damit Erfahrungen der Demokratiebildung, aber auch Chancen für diese jungen Menschen ihre Rechte zu realisieren und Teilhabe einzufordern. In beiden Feldern entwickeln sich Hürden der demokratischen Partizipation: in der verbandlichen ist es die Mitgliedschaft in Verbindung mit der Formalität, die zu Selektion führt, und in der offenen die Offenheit verbunden mit Informalität, die ebenfalls zu Selektion führt. Damit wird deutlich, dass sich die Potenziale in beiden Feldern zu Hürden entwickeln können, wenn sie nicht angemessen von dem pädagogischen Personal bearbeitet und demokratisch strukturiert werden. Das verdeutlicht zugleich, dass Partizipation und Demokratiebildung pädagogisch ermöglicht werden müssen, und es dazu qualifiziertes pädagogisches Personal braucht.

Dies sind nun vor allem Kritiken, die auf die interne Partizipationspraxis von Einrichtungen und Angeboten der Jugendarbeit zielen. Insgesamt wird deutlich, dass auch sie von einer Praxis geprägt ist, in der die partizipative Teilnahme von jungen Menschen noch selten Auswirkungen auf deren Teilhabe und die Realisierung ihrer Rechte hat, besonders, wenn es um die Partizipation in Sozialraum und Kommune geht (Schwerthelm 2022). Für diese Versäumnisse könnte man nun zu einfach das pädagogische Personal verantwortlich machen. Das scheint zum Teil auch berechtigt, wie beispielsweise Scherr und Sturzenhecker (2021) pointiert beschreiben. Wir haben es in diesen Feldern jedoch auch mit mächtigen externen Einflussfaktoren zu tun, die Jugendarbeit in ihren Potenzialen der Partizipation einschränken. Dazu gehören die oben beschriebenen gesetzlichen Rahmenbedingungen, die es Fachkräften erschweren demokratische Partizipation außerhalb ihrer Einrichtungen und Angebote zu verwirklichen, wenn dort nur die Berücksichtigung und Anhörung junger Menschen gewollt ist. Hinzu kommt gerade in der OKJA eine starke Tendenz, diese mit arbeitsfeldfremden Aufgaben (Stichwort: Hausaufgabenhilfe und Einzelfallhilfe) in Dienst zu nehmen. Dies führt dazu, dass vielerorts nicht mehr die jugendlichen Gruppen mit ihren eigensinnigen und dennoch gesellschaftlich relevanten Themen im Zentrum stehen, sondern gesellschaftliche Anforderungen, die der*die einzelne Jugendliche bewältigen soll. Damit verändert sich auch die Perspektive auf Jugendliche: von handlungsfähigen, engagierten zu hilfs- oder gar kontrollbedürftigen jungen Menschen (Schwerthelm 2021). Dies hat die Corona-Pandemie noch einmal verstärkt, vergewissert man sich der medialen Berichterstattung. Diese Indienstnahmen der Jugendarbeit hängen auch zusammen mit der Marginalisierung des Feldes im Gefüge der gesamten Jugendhilfe, was vor allem an der Finanzierung deutlich wird.

Perspektiven auf die sozialräumliche und kommunale Beteiligung
Die hier angerissenen Kritiken sollen darum auch nicht zeigen, dass die Jugendarbeit ihren Auftrag nicht erfüllt, und erst recht nicht klären, ob nun die offene oder verbandliche geeigneter für Partizipation und Demokratiebildung ist. Vielmehr ginge es darum, die Qualitäten dieser Felder – auch in gemeinsamer Arbeitsteilung für die Demokratiebildung aller Kinder und Jugendlichen – anzuerkennen und entsprechend zu fördern und zu qualifizieren. So führen aktuell unterschiedliche Projektförderlogiken dazu, dass finanzielle Ressourcen für Partizipation und Demokratiebildung entweder nicht direkt in die Strukturen der Jugendarbeit fließen, sondern über externe Akteuren, die sich als Bildungsdienstleister verstehen und so auch qualifiziert werden oder aber in Felder der Jugendhilfe, die sich nur begrenzt demokratisch strukturieren können und erst in Kontakt mit Jugendlichen treten, wenn ein »erzieherischer Bedarf« nach §27 SGB VIII und damit ein Defizit in Familie oder bei Jugendlichem*r festgestellt wurde. Dies prägt nicht nur die Perspektive auf die einzelnen Jugendlichen vor, sondern ist für die Jugendhilfe und damit die Gesellschaft auch sehr teuer.

Was beide Felder der Jugendarbeit neben ihrer prodemokratischen Potenziale hingegen auszeichnet und was für die Förderung demokratischer Partizipation junger Menschen wie für jede Art der Förderung und Bildung relevant ist, sind die (biografisch relevanten) Beziehungen zwischen Hauptamtlichen und Jugendlichen, aber auch unter den Jugendlichen selbst (Schwanenflügel 2015). Diese ermöglichen Jugendlichen Partizipationsprozesse, die sie sich ohne diese haltgebenden und begleitenden Beziehungen (Bimschas & Schröder 2003) oft nicht zutrauen würden (Schwerthelm 2015). Dies ist vielleicht auch ein wichtiger Unterschied gegenüber ›klassischen‹ kommunalen Beteiligungsstrukturen sowie den eben erwähnten anderen externen Akteuren, die nicht immer über solche kontinuierlichen Beziehungen verfügen.

Anders als bisher in Hamburg gestaltet, könnten mit diesem Wissen sozialräumliche Hilfen – besser dann sozialräumliche Bildungsstrukturen – mit der spezifischen Perspektive der Jugendarbeit auf die sozialräumlichen und kommunalen Anliegen junger Menschen entwickelt werden, die nicht die*den einzelne*n Jugendliche*n und ihre*seine erzieherischen Bedarfe fokussieren, sondern Jugendliche in ihren sozialen Gefügen und ihre Teilnahmeversuche an einer demokratischen Gesellschaft. Sie könnten die politische Teilnahme mit dem Ziele der sozialen Teilhabe und einer selbstbestimmten Integration in eine von ihnen mitgestaltete Gesellschaft flächendeckend organisieren und so auch den § 33 BezVG als eine Demokratie als Lebensform mit dem Potenzial der Demokratiebildung realisieren.

Trotz der hier umrissenen Kritiken wäre die Kinder- und Jugendarbeit damit eine der wichtigsten Akteurinnen, wenn es darum geht, junge Menschen in ihrer Lebenswelt (demokratisch) zu beteiligen und ihre Rechte zu realisieren. Denn die partizipativen, prodemokratischen Grundvoraussetzungen, in Kombination mit den pädagogischen Beziehungen, weist so kein anderes Feld auf. Diese Potenziale gilt es zu stärken und zu qualifizieren sowie bei Jugendhilfeplanung und kommunaler Beteiligung zu berücksichtigen.

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Fußnoten

[1] Dies kann hier nur exemplarisch geschehen; ausführlicher zu finden in Schwerthelm (2020), Schwanenflügel & Schwerthelm 2021) und in Bezug auf sozialräumliche Partizipation in Schwerthelm (2022).

[2] Analytisch müsste eigentlich zwischen mitgliedsorientierten und offenen Angeboten unterschieden werden (Schwerthelm 2022). Denn ob demokratische Partizipation in einer Einrichtung oder einem Angebot möglich ist, hängt vielmehr von der Form als vom Träger ab; vor allem dort, wo sich Träger beider Angebotsformen in Vereinen organisieren. Empirisch weisen sowohl offene als auch verbandliche Jugendarbeit sowohl offene als auch Gruppenangebote auf.

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Literatur

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