Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 3+4-2018, Rubrik Titelthema

Sexualisierte Peergewalt und Jugend(verbands-)arbeit

Problemaufriss und Eckpunkte zur Weiterentwicklung der Präventionsarbeit

Von Beate Steinbach, Bayerischer Jugendring

Jugendarbeit will jungen Menschen Freiräume bieten, in denen sie weitgehend selbstbestimmt und ohne die Beobachtung Erwachsener handeln und Erfahrungen sammeln können und so lernen, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Die Erprobung sexueller Lebensführung sowie die sexuelle Identitätsentwicklung gehören dazu. Dabei kann es im Umgang mit dem Gegenüber auch zu misslungenen Annäherungsversuchen, Missverständnissen und Grenzverletzungen kommen. Mädchen und Jungen lernen etwas Neues kennen, und daher ist es völlig normal, unsicher oder ungeschickt zu sein. Allerdings geschehen nicht alle sexuellen Grenzverletzungen unter Jugendlichen unbeabsichtigt und aus Versehen – auch gezielte sexuelle Übergriffe und Sexualstraftaten werden durch Gleichaltrige verübt. Die Bandbreite sexualisierter Peergewalt ist groß und reicht von verbalen sexualisierten Beleidigungen bis hin zu massiven, auch strafrechtlich relevanten Formen sexueller Gewalt. In pädagogischen Kontexten können unbemerkt Gelegenheiten für Übergriffe entstehen – in der Schule, in Einrichtungen der Jugendhilfe, aber auch in Jugendverbänden, im Jugendtreff oder im Sportverein. Daher muss sich auch Jugendarbeit damit auseinandersetzen, wie sie präventiv mit der Problematik umgehen kann.

Ein Schritt dazu war der Fachtag »Jetzt hör' endlich auf! Jugendarbeit und sexualisierte Peergewalt«, den der Deutsche Bundesjugendring (DBJR) und der Bayerische Jugendring (BJR) im Oktober 2017 gemeinsam mit dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) ausrichtete. Auf der Grundlage von wissenschaftlichen Erkenntnissen und im Austausch mit Praxiserfahrungen aus der Jugendarbeit wurde diskutiert, wie die Problematik der sexuellen Grenzverletzungen durch Jugendliche bei der Entwicklung von Schutzkonzepten sinnvoll berücksichtigt werden kann. Der vorliegende Beitrag greift einige Ergebnisse des Fachtages auf.

Was ist ein Übergriff?
Eine allgemein verbindliche Definition sexueller Gewalt gibt es nicht. Im Zusammenhang mit sexualisierter Peergewalt werden verschiedene Begriffe, wie z. B. »sexuelle Gewalt«, »sexualisierte Gewalt«, »sexuell aggressives Verhalten«, sexuelle Grenzverletzungen«, »sexuelle Übergriffe« nicht einheitlich und häufig synonym verwendet. Immer sind damit Formen sexueller Äußerungen und Handlungen gegen den Willen einer anderen Person gemeint.

Ursula Enders definiert sexualisierte Peergewalt so: »Ein Sexueller Übergriff liegt vor, wenn …
• ein Mädchen oder Junge gezwungen wird oder sich unfreiwillig an sexuellen Handlungen beteiligt,
• ein Machtgefälle von dem/der übergriffigen Jugendlichen gegenüber dem betroffenen Jungen oder Mädchen ausgenutzt wird.

Machtgefälle kann resultieren aus:
• sozialem Status,
• Status innerhalb der Gruppe,
• Geschlecht,
• Altersunterschied,
• Migrationshintergrund,
• Intelligenz/Behinderung,
• familiale/persönliche Belastungen (z. B. Trennung, Krankheit, Schulprobleme, finanzielle Probleme).« [1]

Die Handlungen, die unter dem Begriff »sexualisierte Peergewalt« zusammengefasst werden, umfassen eine große Bandbreite, von flüchtigen Berührungen über verschiedene »Hands-Off«-Taten wie sexualisierte Kommentare oder Zeigen von pornografischen Abbildungen bis hin zu massiven Handlungen wie Nötigungen oder Vergewaltigungen. Beispiele für sexuelle Grenzverletzungen und Übergriffe sind:
• Sexualisierte Beschimpfungen und Beleidigungen,
• Sexualisiertes Mobbing, d.h. Bloßstellung einer anderen Person wegen ihres Aussehens, ihrer sexuellen Orientierung …,
• Aufnehmen und/oder Weitergeben von intimen Fotos und Filmen ohne Zustimmung,
• Sexuelle Anmache/Aufforderungen zu sexuellen Handlungen (auch über digitale Medien),
• Zeigen von pornografischen Inhalten,
• Entblößen vor anderen,
• Körperliche sexualisierte Übergriffe : Ungewolltes Küssen, Umarmen, Grapschen bis hin zur Vergewaltigung.

Versehen oder Absicht?
Für die Bewertung und Einordnung von unerwünschten sexuellen Handlungen durch Jugendliche werden in der Fachliteratur eine Reihe von Kriterien genannt : Machtgefälle zwischen den Beteiligten, Freiwilligkeit, Handlungsmotive und Intention, Entwicklungsstand, Art der sexuellen Handlungen, Häufigkeit der Verhaltensweisen, Reaktion auf pädagogische bzw. korrektive Interventionen, potenzieller Schaden für die beteiligten Kinder/Jugendlichen sowie alters- und kulturspezifische Normen. [2]

Das richtige Einschätzen des (sexuellen) Verhaltens Jugendlicher untereinander ist also keine ganz einfache Angelegenheit. Übergänge von einvernehmlichen Handlungen zu Übergriffen sind häufig fließend und die tatsächlich dahinter liegenden Motive meist nicht ohne weiteres erkennbar. Sexuelle Grenzverletzungen – insbesondere sog. »Hands-off«-Formen ohne Körperkontakt – kommen im Alltag häufig vor und innerhalb eines gewissen Rahmens können sie auch als Ausdruck einer spezifischen Jugendkultur/Jugendsprache interpretiert werden.

Eine zentrale Rolle dabei spielt die Frage, ob ein Übergriff absichtlich oder aus Versehen verübt wurde. Carmen Kerger-Landleif beschreibt einige zentrale Unterschiede zwischen »Test oder Tat« [3]:

Testerinnen/Tester
• Nehmen Signale wahr und reagieren darauf,
• hören auf, wenn sie einen Fehler gemacht haben,
• fragen nach,
• entschuldigen sich.
Täterinnen/Täter
• Ignorieren die Signale und machen weiter,
• zeigen keine Einsicht,
• manipulieren ihr Gegenüber und das Umfeld,
• geben anderen die Schuld, wenn ihr Verhalten bekannt wird.

Forschungsergebnisse: Wie häufig kommt sexuelle Gewalt unter Jugendlichen vor?
»Bei grenzverletzender und einvernehmlicher Sexualität handelt es sich um menschliche Verhaltensweisen, die zum Großteil im Verborgenen stattfinden und daher der empirischen Forschung nur indirekt zugänglich sind. (…) Daher ist bei Hell- und Dunkelfeldstatistiken generell zu bedenken, dass diese lediglich als vage Hinweise auf den ›wahren‹ Anteil sexueller Übergriffe oder Missbrauchshandlungen angesehen werden können.« [4]

Erkenntnisse aus dem Hellfeld
Eine mögliche und häufig zitierte Quelle für Angaben zur Häufigkeit von Straftaten ist die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS). Um Auskünfte über das Ausmaß von sexualisierten Grenzverletzungen und Übergriffen durch Gleichaltrige in Peergruppen zu erhalten, sind die in der PKS erfassten Daten jedoch wenig geeignet. Dies hat mehrere Gründe:

In dieser Statistik wird nur das Hellfeld erfasst – also nur solche Taten, auf die zwei Bedingungen zutreffen: Erstens müssen sie einen Straftatbestand nach dem Strafgesetzbuch erfüllen, also in Bezug auf die bestehende Gesetzgebung relevant sein. Viele Handlungen, wie z. B. verbale sexuelle Belästigungen, die von Betroffenen durchaus als verletzend wahrgenommen werden können, sind jedoch nicht strafbar und werden daher auch nicht erfasst. Zweitens können in der PKS auch nur diejenigen Straftaten erfasst werden, die der Polizei überhaupt bekannt wurden. Allerdings muss davon ausgegangen werden, dass dies nur auf einen kleineren Teil der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zutrifft.

Zu diesen Einschränkungen kommt ein weiteres Problem: In der PKS finden sich zwar Angaben zur Häufigkeit der angezeigten Fälle nach den einzelnen Delikten im Strafgesetzbuch (StGB), ebenfalls Zahlen zu Opfern und Tatverdächtigen in den unterschiedlichen Altersgruppen. Für das Jahr 2017 weist sie etwa 12.537 sexuelle Missbrauchsdelikte gegen Minderjährige aus, davon 11.547 Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern (§§ 176, 176a, 176b StGB) und 990 Fälle des Missbrauchs von Jugendlichen (§182 StGB). Damit ist jedoch noch nichts über das Alter derjenigen ausgesagt, die die Straftaten verübt haben sollen. Informationen über das Alter der – zumindest nach den polizeilichen Ermittlungen vermutlichen – Täter/innen finden sich in den Angaben zu den sog. Tatverdächtigen (TV). Hinsichtlich der spezifischen Problematik der sexualisierten Peergewalt lassen sich aus diesen Angaben jedoch keine eindeutigen Rückschlüsse ableiteten, weil es nicht möglich ist, die einzelnen Angaben miteinander zu verknüpfen. »Ob junge TV sexuelle Nötigungen/Vergewaltigungen also an ebenfalls jungen Menschen oder an Älteren begangen haben, lässt sich der PKS nicht entnehmen« [5]

Auch die Betrachtung der Tatverdächtigenbelastungszahlen (TVBZ) ist in ihrem Aussagewert speziell bezüglich sexualisierter Peergewalt wenig hilfreich, weil ihr die für eine differenzierte Einschätzung der Taten notwendigen Unterscheidungen bzw. Zuordnungen nicht zu entnehmen sind. »Welche Konstellationen in der PKS erfasst werden, lässt sich nicht feststellen, ist es doch (…) schon nicht möglich, das Alter von Opfer und TV in Beziehung zu setzen und so Sexualdelikte als solche in einer Peergroup zu identifizieren. Die Daten der PKS setzen Erkenntnissen also enge Grenzen. Sie werfen aber Fragen auf und weisen auf Probleme hin.« [6]

Das für die Jugendarbeit in diesem Zusammenhang zentrale Problem ist die Formulierung des §176 StGB, nach dem alle sexuellen Handlungen an Kindern unter 14 Jahren verboten sind – und zwar unabhängig davon, wer diese Handlungen vornimmt. Sex ist für junge Menschen unter 14 Jahren verboten – auch, wenn ausschließlich Kinder oder wenig ältere Jugendliche an den sexuellen Handlungen beteiligt sind.

Ergebnisse der Dunkelfeldforschung
Die Dunkelfeldforschung versucht, durch die Befragung ausgewählter Personengruppen Erkenntnisse über diejenigen Taten zu erhalten, von denen die Polizei nicht erfahren hat. In den meisten Fällen orientieren sich die hier verwendeten Definitionen von sexualisierter Gewalt nicht an den im Strafgesetzbuch definierten Tatbeständen, sondern es wird eine größere Bandbreite an ungewollten sexuellen Kontakten abgefragt. So werden beispielsweise auch verbale sexuelle Belästigungen einbezogen, die keinen Straftatbestand erfüllen.

Erste Dunkelfeldstudien in Deutschland zur Häufigkeit bzw. Verbreitung sexualisierter Gewalt unter Jugendlichen in den 1990er Jahren deuteten bereits darauf hin, dass ein beträchtlicher Anteil von jungen Frauen und Männern sexuelle Handlungen unter Zwang und Gewalt erleben. [7] Umfangreichere Dunkelfeldforschungen zu der Thematik gibt es im deutschsprachigen Raum jedoch erst seit wenigen Jahren. Diese bestätigen, dass sexuelle Übergriffe durch Jugendliche insgesamt nicht selten, für einige Kinder und Jugendliche sogar alltäglich sind.

So zeigte etwa die sog. »Optimus«-Studie [8] aus der Schweiz, dass …
• etwa 15 % der befragten Jugendlichen mindestens einmal einen sexuellen Übergriff mit Körperkontakt, etwa ein Drittel Belästigungen ohne Körperkontakt erlebt hatten,
• Mädchen etwa dreimal häufiger sexuelle Übergriffe durch den Liebespartner erfahren als Jungen,
• Ein Großteil der Täter männlich, zwischen 14 und 18 Jahren und den betroffenen Jugendlichen bekannt war,
• Jugendliche sexuelle Gewalt häufig im Rahmen erster Liebesbeziehungen zu etwa Gleichaltrigen erleben.

Deutliche Ergebnisse liefern auch zwei neue Studien zu dem Thema. In einer repräsentativen Befragung von Schülern/innen der 9. Jahrgangsstufe in Deutschland [9] (Studie »Schülerwissen«) …
• berichteten 59 % von mindestens einer Situation, in der sie sexualisierte Gewalt erlebt haben,
• gaben ca. 15 % der Mädchen und 5 % der Jungen an, innerhalb der letzten 3 Jahre sexuelle Gewalt mit Körperkontakt erlebt zu haben,
• wurden als Täter/innen größtenteils andere Schüler/innen benannt,
• fand die Mehrheit der Situationen in der Schule (Pausenhof, Klassenzimmer, etc. …) statt.

Laut einer Befragung von Schülern/innen aus allgemeinbildenden Schulen in Hessen [10] (Speak!-Studie) …
• gaben ca. 30 % der Mädchen und 5 % der Jungen an, bereits einmal sexuelle Gewalt mit Körperkontakt erlebt zu haben,
• 41 % der Mädchen und 26 % der Jungen gaben an, bereits mit nicht-körperlicher sexualisierter Gewalt konfrontiert gewesen zu sein,
• bei den fünf am häufigsten genannten Tätern/innen handelte es sich um männliche und meist gleichaltrige Personen (fremde männliche Personen, Freund, Mitschüler, Bekannter, Ex-Partner).

In allen Studien wird deutlich, dass digitale Medien bei sexuellen Grenzverletzungen und Übergriffen durch Jugendliche zunehmend eine Rolle spielen. Die Grenze zwischen »Cybermobbing« und sexuellem Übergriff ist dabei fließend. Anders als beim Mobbing können Opfer online anonym »zurückschlagen«, wodurch Betroffene häufig Opfer und Täter zugleich sind.

Ebenso zeigt sich durchgehend, dass viele Jugendlichen mit niemandem über die erlebten sexuellen Übergriffen sprechen. Diejenigen, die das tun, sind deutlich häufiger Mädchen als Jungen, allerdings kontaktieren jugendliche Opfer nur selten offizielle Melde- oder Beratungsstellen. Auch Eltern oder andere erwachsene Bezugs- und Betreuungspersonen werden von ihnen eher selten ins Vertrauen gezogen, überwiegend werden Freundinnen bzw. Freunde einbezogen. [11]

Welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen spielen eine Rolle?
Erste Liebe, erster Kuss, erstes Mal: Sexuelle Erlebnisse und Erfahrungen sollen für Jugendliche ein positives Erlebnis sein. Die einen sind vorsichtig und tasten sich langsam an das Thema heran, andere sind mutiger und neugierig, sie wollen alles ausprobieren. Das Erforschen, sich erproben, das Ausloten von Grenzen auch hinsichtlich der eigenen Sexualität ist ganz normal. Die Entwicklung der eigenen Geschlechterrolle und einer sexuellen Identität gehört zu den zentralen Aufgaben der Jugendphase bzw. des Erwachsenwerdens. Pubertäre Veränderungen sind mit der Intensivierung sexueller Bedürfnisse verbunden und führen zur Aufnahme sexueller Kontakte, auch zur Reflexion über sich selbst und über die Beziehungen zu anderen.

Die Jugendlichen müssen dabei verschiedene Probleme lösen: Wie kann ich einen ersten Kontakt zu dem/der anderen aufnehmen? Wie geht es weiter? Was ist normal und altersgemäß? Wer erwartet was von mir, direkt oder indirekt? Wie positioniere ich mich innerhalb meiner Peergroup? Welche Rolle will ich bei der Partnersuche einnehmen? In diesem Prozess gilt es, eigene Unsicherheiten über Wünsche und Bedürfnisse zu klären, die Wünsche und Bedürfnisse anderer kennenzulernen und darüber hinaus, diese Wünsche und Bedürfnisse mit den (gesellschaftlichen) Erwartungen, die wesentlich auch über die Medien verbreitet werden, in Einklang zu bringen. Dabei gibt es nicht das eine »Richtig« oder »Falsch«, sondern unterschiedliche und veränderliche gesellschaftliche sowie individuelle Werte und Wertesysteme sowie Einflüsse bzw. Vereinnahmungsbemühungen aufgrund von ökonomischen Interessen (Werbung, Pornografie etc.). Angesichts dieser nicht selten durchaus widersprüchlichen Bilder, Botschaften und Anforderungen, mit denen junge Frauen und Männer konfrontiert sind, ist dies ein schwieriger Balanceakt.

»Sexualisierte Peergewalt wird also durch die Doppelmoral begünstigt, aber auch durch andere Faktoren, die sich am ehesten mit Entfremdung vom eigenen Ich umschreiben lassen. Wenn junge Menschen in ihrer psychosexuellen Entwicklung lernen, nicht aus der Reihe zu tanzen, sich einem Druck zu beugen, Gehorsam zu üben, dem heteronormativen Mainstream zu entsprechen, »normal« zu sein – dann wird es schwierig, sich zu spüren und die eigenen Bedürfnisse wie individuellen Grenzen zu erkennen. Dann wird es aber auch schwierig, die Bedürfnisse anderer und deren Grenzen zu erkennen«. [12]

Was tun bei sexuellen Übergriffen durch Jugendliche?
Wenn Kinder oder Jugendliche sexuell übergriffiges Verhalten zeigen, sollte es auf keinen Fall bagatellisiert werden. Für die Intervention sind drei Schritte grundlegend:
• Die betroffenen Jugendlichen müssen geschützt werden. Sie benötigen Trost, Mitgefühl, Parteilichkeit und Stärkung.
• Das Verhalten der übergriffigen Jugendlichen muss möglichst frühzeitig gestoppt, und sie müssen mit ihrem Fehlverhalten konfrontiert werden. Hier sind eindeutige Grenzsetzungen und klare Botschaften mit Blick auf den Regelverstoß erforderlich. Die Jugendlichen müssen lernen, die Rechte anderer zu respektieren und Sexualität nicht als Mittel zum Erleben von Überlegenheit einzusetzen.
• Es muss für die Jugendgruppe, die Mitarbeiter/innen und für die Einrichtung Sorge getragen werden. Dies geschieht zum Beispiel, indem der Vorfall besprochen, Regeln verdeutlicht und ihre Beachtung gesichert wird. Mitarbeitern/innen sollten Hilfen angeboten werden, fachlich-professionell mit sexuellen Übergriffen umzugehen.

Es gelten hier die gleichen Regeln, die auch bei anderen sexuellen Übergriffen empfohlen werden: Ruhe bewahren. Zuhören. Ernst nehmen. Glauben schenken. Nicht bagatellisieren. Nach den Bedürfnissen fragen. Hilfe anbieten. Alle weiteren Maßnahmen absprechen. Unterstützung durch eine Fachberatungsstelle in Anspruch nehmen.

Wichtig ist es, der Hilfe und Unterstützung von Betroffenen und Zeugen/innen des Übergriffes mindestens so viel Aufmerksamkeit zu widmen wie dem/der übergriffigen Jugendlichen. Die Folgen von sexuell grenzverletzendem Verhalten durch Gleichaltrige können ebenso gravierend sein wie bei Übergriffen durch Erwachsene.

Eckpunkte und Weiterentwicklung der Prävention sexualisierter Peergewalt in der Jugendarbeit
Präventionsmaßnahmen und Schutzkonzepte in der Jugendarbeit beschäftigten sich bisher vor allem mit der Verhinderung von sexualisierten Übergriffen, die von Erwachsenen ausgeübt werden. Demzufolge beinhalteten Schutzkonzepte vor allem Maßnahmen, die strukturell bedingte Risikofaktoren in Organisationen bearbeiteten. Neben den grundlegenden Elementen der gelebten Beteiligung von Kindern und Jugendlichen und einer offenen Kommunikations- und Fehlerkultur sind dies …
• Gefährdungsanalyse,
• eindeutige Positionierung,
• Qualifizierung von Mitarbeitern/innen,
• klare Regeln zum Grenzen achtenden Verhalten,
• Beschwerdemöglichkeiten,
• Notfallplan. [13]

Mit Blick auf die Prävention von sexualisierter Peergewalt sollte überprüft werden, ob in den bestehenden Schutzkonzepten die Möglichkeit von Übergriffen durch Jugendliche ausreichend berücksichtigt wurde.

So ist rechtliche Aufklärung beispielsweise nicht nur für Betreuungspersonen sondern auch für Kinder und Jugendliche wichtig, um einschätzen zu können, was verboten und was erlaubt ist – auch im Bereich der Sexualität und Sexualpädagogik.

Bei der Entwicklung von Beschwerdemöglichkeiten muss die Frage beantwortet werden, wie im Team mit (vertraulichen) Mitteilungen von Jugendlichen umgegangen wird, wer darüber informiert wird und ob Verschwiegenheit zugesichert werden kann (oder nicht).

Bei der Gestaltung von Notfallplänen gilt es, auch zu überlegen, wie es informierten Freunden/innen von Betroffenen erleichtert werden kann, Kontakt zu Beratungs- und Unterstützungssystemen aufzunehmen.

Darüber hinaus sollten Maßnahmen der pädagogischen Präventionsarbeit, also Angebote, die sich direkt an Jugendliche richten, in Schutzkonzepte einbezogen werden, z. B. …
• Arbeit an den »Kinderrechten« als Grundlage für einen respektvollen Umgang von Kindern und Jugendlichen miteinander. Die Thematisierung von Rechten (anstatt »Verboten«) setzt ein positives Zeichen und stärkt diejenigen Mitarbeiter/innen und Teilnehmer/innen, die einen Grenzen achtenden Umgang miteinander umsetzen.
• Angebote der Sexualpädagogik und der sexuellen Bildung : Sexualpädagogische Angebote und die Beschäftigung mit der Alltagssexualität von Kindern und Jugendlichen haben seit den 1990er Jahren in der Jugendarbeit stark nachgelassen – bei gleichzeitig verstärkter Thematisierung von sexueller Gewalt. Dies trägt aber eher dazu bei » … Ängstlichkeit gegenüber Sexuellem zu entwickeln. Mädchen und Jungen müssen aber nicht nur Nein-Sagen und Sich-Abgrenzen lernen. Sie brauchen im Feld sexuellen Lebens und Lernens auch die Erlaubnis und bisweilen die Ermutigung, Ja! zu sagen …« [14]
• Medienpädagogische Angebote: Weil digitale Medien ein untrennbarer Teil der Lebenswelt von Jugendlichen sind, müssen sie in Schutzkonzepten gegen sexuelle Gewalt mitgedacht werden. Ein nur auf die Risiken fokussierter, restriktiver Umgang mit digitalen Medien hilft dabei nicht weiter, weil Verbote umgangen werden bzw. Probleme, die in Zusammenhang mit neuen Medien auftreten, verheimlicht werden. Die zentrale Anforderung liegt darin, ein für Kinder und Jugendliche attraktives, interessantes und teilhabeorientiertes Angebot zur Nutzung von Medien zu schaffen, ohne die damit verbundenen Risiken zu ignorieren.
• Weiterentwicklung von »Bystander-Programmen«, z. B. um junge Jugendleiter/innen in ihrer Handlungskompetenz zu stärken: Jugendliche Opfer vertrauen sich eher gleichaltrigen Freunden/innen an als erwachsenen Bezugspersonen. Deshalb könnten sog. »Bystander-Programme«, also Präventionsansätze, die jugendliche Peers als Handelnde bzw. Unterstützer/innen von Betroffenen einbeziehen, für die Jugendarbeit eine passende Methode sein. Bisher sind jedoch noch keine Erfahrungsberichte dazu aus dem deutschsprachigen Raum zugänglich.


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Literatur und Quellen :

Allroggen, Marc/ Rau, Thea/Fegert, Jörg M.: Sexuelle Gewalt unter gleichaltrigen Kindern und Jugendlichen. In: Fegert, Jörg M./Wolff, Mechthild (2015)
Arbeitsstab des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (Hg.): Jetzt hör endlich auf! Jugendarbeit und sexualisierte Peergewalt. Dokumentation zum Fachtag am 18. Oktober 2017 in Berlin. Quelle : www.beauftragter-missbrauch.de/presse-service/pressemitteilungen/detail/news/neuerscheinung-dokumentation-jetzt-hoer-endlich-auf-des-fachtages-zum-thema-jugendarbeit-und/  (Zugriff 17.11.18)
Averdijk, Margit/Müller-Johnson, Katrin/Eisner, Manuel: Sexuelle Viktimisierung von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz. Schlussbericht für die UBS Optimus Foundation November 2011. Quelle: www.optimusstudy.org/fileadmin/user_upload/documents/Full_Report_Schweiz/Optimus_Studie_WissenschaftlicherSchlussbericht_2012_d.pdf (Zugriff 17.11.18)
Bayerischer Jugendring (Hg.): Jugendarbeit setzt sich ein: Für den Schutz von Kindern und Jugendlichen. Position verabschiedet vom 141. Hauptausschuss des BJR vom 19. – 21. Oktober 2012 in Gauting. München 2012
Elz, Jutta: Sexualstraftaten durch Minderjährige im Hellfeld – Aussagen und Grenzen von Statistiken. In : Arbeitsstab des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (2017)
Enders, Ursula: Sexualisierte Übergriffe durch Jugendliche in Einrichtungen. Power-Point-Präsentation Frauennotruf Heidelberg – 20 Jahre Prävention gegen sexualisierte Gewalt. 12.06.2015. Quelle: de.slideshare.net/Zartbitter_Koeln/enders-sexuelle-bergriffedurchjugendliche201  (Zugriff 14.11.2018)
Fegert, Jörg M./Wolff, Mechthild (Hg.): Kompendium »Sexueller Missbrauch in Institutionen«. Entstehungsbedingungen, Prävention und Intervention. Weinheim/Basel 2015
Gnielka, Martin : Sexualpädagogik in der katholischen Jugend(verbands)arbeit. Eine Standortbestimmung im Kontext der neuen Missbrauchsdebatte. In: deutsche jugend. Zeitschrift für die Jugendarbeit. Weinheim, Heft 4/2011
Hofherr, Stefan: Wissen von Schülerinnen und Schülern über sexuelle Gewalt in pädagogischen Kontexten. Kurzbericht über zentrale Ergebnisse. DJI, München 2017. Quelle: www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs2017/hofherr_schuelerwissen_sexuelle_gewalt.pdf (Zugriff 14.11.2018)
Kerger-Landleif, Carmen: Tat oder Test? Wie Jugendliche sexuelle Grenzverletzungen erleben. In: Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen (Hg.) : Grenzverletzungen. Sexuelle Übergriffe unter Jugendlichen. Hannover 2013
Kindler, Heinz: Der aktuelle Forschungsstand zum Dunkelfeld und zur Prävention sexualisierter Gewalt unter Jugendlichen. In: Arbeitsstab des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (2017)
König, Andrej: Sexuelle Übergriffe durch Kinder und Jugendliche. Expertise im Auftrag der Geschäftsstelle AG I »Prävention-Intervention-Information – des runden Tisches »Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits-und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich«. Essen 2011. Quelle: www.fh-dortmund.de/de/fb/8/personen/lehr/koenig/medien/Koenig_2011_Expertise_Sexuelle_Uebergriffe_durch_Kinder_und_Jugendliche.pdf  (Zugriff 14.11.2018)
Krahé, Barbara: Sexuelle Gewalt im Jugend- und Erwachsenenalter. In Oerter, Rolf/ Montada, Leo (Hg.): Entwicklungspsychologie. Ein Lehrbuch. Weinheim 1995
Kröger, Michael: Grenzen achtende Sexualität und gesellschaftliche Entfremdung zwischen Ethik, Kommerz und Selbstbestimmung. In: Arbeitsstab des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (2017)
Maschke, Sabine/Stecher, Ludwig: Sexuelle Gewalt: Erfahrungen Jugendlicher heute. Weinheim 2018


Fußnoten

1 Enders (2015)

2 Vgl. Allrogen/Rau/Fegert (2015)

3 Kerger-Landleif (2013), S. 41

4 König (2011), S. 27

5 Elz (2017), S. 13

6 Ebd., S. 14

7 Z. B. Krahé (1995)

8 Averdijk et al., 2011

9 Hofherr (2017)

10 Maschke/Stecher (2017)

11 Vgl. Kindler (2017), S. 17f.

12 Kröger (2017), S. 22

13 Vgl. Bayerischer Jugendring (2012)

14 Gnielka (2011), S. 155