?: Herr Stolz, der Begriff Bildungslandschaft ist populär geworden. Die Erkenntnis, dass Bildung mehr als Schulbildung ist, scheint Bildungspolitiker dazu bewegen, neben der Schule auch andere Lernorte junger Menschen in den Blick zu nehmen. Was ist unter einer Bildungslandschaft zu verstehen?
Heinz-Jürgen Stolz: Der Begriff Bildungslandschaft steht für kein wissenschaftliches Konzept, sondern ist eine fachpolitische Metapher. Es gibt weder eine klare Definition noch eine klare Unterscheidung, welche Region eine Bildungslandschaft hat bzw. ist und welche nicht. Immer aber geht es dabei um die Vernetzung aller Bildungsanbieter und -institutionen (auch im non-formalen Bereich), um die Erschließung und Verknüpfung eines breiten Spektrums von Lernorten sowie um die Umsetzung eines breiten Bildungsverständnisses unter Einbezug von Persönlichkeitsentwicklung und sozialem Lernen.
Entstanden ist diese Idee als ein Projekt Mitte der 90er Jahre in Nordrhein-Westfalen. Das Land und die Bertelsmann-Stiftung haben damals ein Konzept mit dem Namen »Regionale Bildungslandschaften« entwickelt und durchgeführt. Dieser Ansatz war jedoch noch sehr schulzentriert.
?: Inwiefern schulzentriert?
Stolz: Weil man die Schule zum Ausgangspunkt der Entwicklung einer regionalen Bildungslandschaft genommen hat. Zunächst wurden im ersten Schritt neue Schulstrukturen entwickelt, indem man Schulmanagement und Unterrichtsentwicklung vor Ort förderte und dadurch mehr Selbstständigkeit der Schulen ermöglicht wurde. Im zweiten Schritt vernetzten sich die Schulen miteinander und schufen so eine regionale Schullandschaft. Und erst im dritten Schritt sollte eine regionale Bildungslandschaft entstehen, zu der außerschulische Partner hinzugezogen wurden. Von den drei Schritten waren also die ersten beiden schulzentriert.
?: Konnte dann im dritten Schritt die Einbeziehung außerschulischer Bildungsträger noch gelingen?
Stolz: Nicht umfassend. Die Entwicklung der Bildungslandschaft in Nordrhein-Westfalen blieb im Programmkontext »Selbstständige Schule« zu stark auf die formale Bildung in der Schule fokussiert. Das hat einerseits damit zu tun, dass die Laufzeit mit sechs Jahren nicht lang genug war, um solche prägenden Entwicklungen hinzubekommen. Andererseits zeigten sich institutionelle Schließungsprozesse. Die Schulen haben sich im Projektlauf sehr gut miteinander vernetzt. Und als dann zuletzt die außerschulischen Partner hinzukamen, war es zu spät, da elementare Arbeitsbündnisse schon geschlossen waren und regionale Bildungspartner in ein bereits fertiges Raster eingebunden werden sollten. Doch diese Problematik schulzentrierter Bildungsreformen kennen wir in ganz Deutschland – z.B. bei der Entwicklung von Ganztagsschulen. Man kann es sich ganz einfach nicht leisten, erst Ganztagsschulen konzeptionell zu planen und danach außerschulische Partner hinzuzunehmen. Denn logistisch braucht man die Partner schon im ersten Schritt, um den Nachmittagsbereich der Ganztagsschulen auszubauen. Aus diesen Erfahrungen lernend, wurde dann neben der schulzentrierten eine zweite, kooperationsorientierte Variante von Bildungslandschaften entwickelt, in der die außerschulischen Partner schon im ersten Entwicklungsschritt auf Augenhöhe einbezogen werden sollen.
?: In Hamburg sind Regionale Bildungskonferenzen in allen Bezirken installiert worden. Sind Bildungskonferenzen ein Schritt oder sogar der Königsweg, um perspektivisch Bildungslandschaften zu ermöglichen?
Stolz: Zunächst einmal sind Bildungskonferenzen ein ganz kleiner Mosaikstein in einer lokalen Bildungslandschaft.
?: So klein?
Stolz: Um das zu erklären, muss ich konzeptionell ausholen. Wir haben in der wissenschaftlichen Begleitforschung vier Dimensionen nach Akteuren unterschieden. Ich werde das kurz darstellen, um die Dimension der Metapher Bildungslandschaft und darin die Konferenzen besser einzuordnen.
Es gibt zunächst die Planungsdimension, in der die Verwaltung im Vordergrund steht. Dort geht es um Bildungsmonitoring und um Bildungsberichterstattung auf kommunaler Ebene. Die Perspektive ist eine integrierte Fachplanung, in der Prozesse wie Jugendhilfe, Schulentwicklungs-, Sozial- und Stadtplanung unter Bildungs- und jugendpolitischen Aspekten koordiniert werden.
In der zivilgesellschaftlichen Dimension, zu der Regionale Bildungskonferenzen wie jetzt in Hamburg zählen, will man auf lokaler Ebene öffentlich verantwortete Bildungsnetzwerke gestalten. Öffentlich verantwortet heißt, dass hier eine Netzwerkpflege hauptamtlich moderiert und bezahlt wird.
Dann gibt es eine Professionsdimension, in der pädagogischen Lehr- und Fachkräfte, auch aus der Jugendarbeit und -hilfe, beteiligt sind. Hier geht es um ein wechselseitiges systemisch-pädagogisches Verständnis der Partner im Bildungsbereich. Denn nur, wenn man weiß, mit welchem Partner man es zu tun hat und unter welchen Bedingungen Schule, Jugendarbeit und Jugendverbandsarbeit agieren, kann man überhaupt vernünftig kooperieren.
Und schließlich gibt es eine Aneignungsdimension, also die Frage, wie Lernsubjekte – Kinder, Jugendliche, Eltern – an der Herausbildung einer Bildungslandschaft teilhaben. Hier spielt Partizipation eine zentrale Rolle. Denn Bildungslandschaften sind nicht technokratisch gestaltbar sondern partizipativ anzulegen. Das ist eine Grunderfahrung. Jeder andere Weg führt zu Investitionsruinen.
So hat beispielsweise der schwarz-grüne Senat in Hamburg in der Schulpolitik mit seinem Top-Down-Konzept Schiffbruch erlitten. Das war von vornherein völlig klar – genau aus dem Grund, weil der Senat die Reform nicht partizipativ angelegt hatte. Schulentwicklung und eine darüber hinaus gehende Gestaltung einer Bildungslandschaft können immer nur in einem Wechselprozess von unten und von oben angegangen werden. Wenn man das von oben verordnen will, scheitert man.
?: Die große Schulreform wurde in Hamburg per Volksentscheid gestoppt und hat Hamburg gespalten. Betreten die Regionalen Bildungskonferenzen nicht gewissermaßen verbrannten Boden? Oder gibt es Chancen für Bildungslandschaften?
Stolz: Absolut. Da ist nichts verbrannt. Es ist so, dass man jetzt einfach mal ein bisschen nach Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg schauen sollte, wo immer klar war, dass man bei großen Bildungs- und Schulreformen unten anfangen muss. Die Schulgemeinden, die Eltern und ebenso die Träger nonformaler Bildung müssen im Reformprozess mitgenommen werden. Hier können Regionale Bildungskonferenzen, die zwar in den Bezirken starten, aber dann kleinräumiger organisiert werden sollen, ein wunderbarer Weg sein, einen partizipativen Grundeinsatz in die Planungen hineinzubringen.
Ich muss sagen, dass Hamburg in vielen bildungspolitischen Punkten programmatisch immer den »State of the art« abdeckt. Und das ist auch hier der Fall. Man will die Bildungslandschaftsentwicklung in die Stadtentwicklung hineinbringen. In dem Modellprojekt in Wilhelmsburg und den Elbinseln, das wir am Deutschen Jugendinstitut begleitet haben, ist diese zudem in die internationale Bauausstellung und in die Stadtplanung integriert gewesen. Eine integrierte Stadt- und Stadtteilentwicklung ist genau die Perspektive, die wir brauchen. Diesen Schritt hat außer Hamburg nur Köln ansatzweise gemacht. Ansonsten kenne ich keine Kommune, die das schon mitdenkt. Die sind alle schon froh, wenn sie Jugendhilfe- und Schulentwicklungsplanung integrieren.
?: Die »Bildungsoffensive Elbinseln« ist noch im Gange, aber Sie haben schon einige Evaluationen gemacht und einen Bericht geschrieben. Wie fällt Ihr Zwischenfazit aus?
Stolz: Die große Herausforderung ist, sinnvolle Vernetzungsstrukturen aufzubauen, in der keine Akteure ausgeschlossen, bestehende Vernetzungen integriert und keine Wasserköpfe aufgebaut werden. In einem so großen Quartier wie den Elbinseln, das eine Größenordnung wie eine mittlere Stadt hat und in dem so viele Akteure vorhanden sind, ist das sehr schwierig. Man muss aufpassen, dass nicht immer dieselben Akteure in fünf oder sechs Konferenzen sitzen und eigentlich nur noch vernetzen, aber gar nichts mehr tun können, weil sie keine Zeit mehr haben. Also, das ist ein großes Problem, Bildungsmanagement so zu gestalten, dass alle mitgenommen werden und gleichzeitig aber nicht an 15 verschiedenen Stellen arbeiten müssen.
?: Die Bildungsoffensive Elbinseln erscheint für Hamburg in mehreren Perspektiven offenbar sinnvoll. Hamburg macht den Sprung über die Elbe, ist das eine Stichwort. Das Auseinanderdriften von Harburg und dem nördlichen Teil Hamburgs soll überwunden werden. Dazwischen liegen die lange Zeit städteplanerisch und sozialplanerisch vernachlässigten Elbinseln, die nun modernisiert werden sollen. Da setzt meine Frage an: Wie kann eine Bildungsoffensive respektive ein Prozess zur Schaffung einer Bildungslandschaf das leisten? Vernetzt werden kann doch nur, was vor Ort ohnehin schon vorhanden ist. Wandel wäre aber durch Investitionen zu schaffen.
Stolz: Es gibt in Großstädten wie Hamburg das Bemühen, ein solches Konzept – um es handhabbar zu machen – auf Stadtteilebene anzusetzen. Daraus resultiert der große Nachteil, zugleich mit Problemen wie der sozialen Segregation belastet zu sein.
Der Bildungslandschaftsgedanke ist aber eigentlich ein ganz anderer, nämlich auf der Ebene einer Gesamtkommune – in Hamburg als Stadtstaat – anzusetzen und eine soziale Durchmischung zu fördern, indem man Ressourcen aus besser gestellten in vernachlässigte Regionen hereinträgt. Wenn man mit einem segregierten Stadtteil anfängt, hat man im Grunde schon verloren. Deswegen reicht das Projekt Elbinseln nicht aus. Das war aber auch den Machern klar. Das Pilotprojekt sollte zeigen, wie man Vernetzungsstrukturen entwickelt, um das Ganze auf ganz Hamburg zu übertragen. Das passiert jetzt im Ansatz.
Ob das gelingen kann? Zum Teil ja, zum Teil nein. Man kann ordnungspolitsch einiges auf den Weg bringen. Das macht Hamburg auch. Die Gefahr sehe ich darin, Kooperation und Vernetzung als Ausrede zu bringen, um nicht mehr in gerechte Bildung investieren zu müssen. Da habe ich nicht nur Hamburg sondern auch andere Städte immer wieder im Verdacht, dass das passiert.
Nehmen Sie das Beispiel »Inklusion durch Abschaffung von Förderschulen« – bundesweit ein erstrangiges Zukunftsthema! Das macht man dann zwar, denkt aber scheinbar, eine solch tiefgreifende Reform kostenneutral oder gar im Sinne eines Einsparmodells realisieren zu können. Notwendig wäre es aber, deutlich mehr Mittel in die sonderpädagogische Förderung zu stecken, um die Regelschulen überhaupt zu befähigen, mit einer stärker heterogenisierten Klientel klarzukommen und den betroffenen Kindern eine wirksame Unterstützung und Lernbegleitung angedeihen zu lassen. Wenn hier der Kämmerer das letzte Wort hat, setzt man die gesellschaftliche Akzeptanz für gemeinsames Lernen genau so auf’s Spiel wie man es sich bereits bei dem Versuch einer top-down verordneten Schulstrukturreform geleistet hat.
Die in den Kultusbürokratien immer noch weithin unbekannten Schlüsselworte heißen Beteiligung und zielgenaue Erhöhung von Bildungsinvestitionen und ganz sicher nicht Anordnung und Einsparung. Das ist nur ein Aspekt. Vieles bei den Bildungslandschaften würde mehr Ressourcen, insbesondere Personalressourcen, verlangen. Es reicht nicht zu sagen: »Lasst uns mal mit den vorhandenen Mitteln kooperieren und Vernetzung herstellen. Da wird schon etwas bei raus kommen«. In Hamburg habe ich den Eindruck, dass grundlegende, ordnungspolitische Reformen angegangen werden. Die Regionalisierung der Schulaufsicht ist z.B. ein mutiger und richtiger Schritt. Hoffentlich schreckt man aber dann nicht zurück, wenn es mehr Geld kostet.
?: Wurde denn die Bildungsoffensive Elbinseln begleitet mit einer Investition neuer Mittel?
Stolz: Es gab und gibt befristete Mittel. Aber auch da – und der Koordinator der Bildungsoffensive hat das immer wieder thematisiert – ist es wichtig, nicht nur in Beton zu investieren sondern ebenso in Menschen. Und vor allem gilt, überhaupt zu investieren. Und das auf Dauer. Es hilft nichts, mit Sonderfördermitteln Dinge anzuschieben, die dann nach zwei bis drei Jahren wieder zurückgenommen werden müssen, weil die Ressourcen nicht langfristig zur Verfügung gestellt werden.
?: Kommen wir zu den Chancen und Risiken der nonformalen Bildungspartner bei den Bildungskonferenzen und Bildungslandschaften. Chancen mögen durch Kooperation immer entstehen, Risiken dadurch, wenn ungleiche Partner gegenüberzustehen – unterschiedlich von der Bildungsidee und von der Ressourcenausstattung. Wie würden Sie das gewichten?
Stolz: Ich denke, hier darf man nicht in institutionellen Egoismen denken sondern in größeren Konzepten, sonst verliert man sofort. Wir wissen, dass Deutschland auf dem Weg in Richtung Ganztagsschulen ist und diesen Weg auch weiter gehen wird. Halbtagsschulen sind ein Auslaufmodell.
Daher ist es für die nonformalen Bildungsträger – wie für Jugendverbände – sehr wichtig, sich von Anfang an hier einzubringen, weil es hier einen Trend gibt, den man nicht stoppen kann. Aus einem wohlverstandenen Eigeninteresse sollte man sich bei Gestaltung von Bildungslandschaften also beteiligen. Das ist das eine.
Das zweite ist, dass die Unterrichts- und Halbtagsschulen gar nicht in der Lage sind, die Herausforderungen in punkto Bildungsgerechtigkeit oder Inklusion alleine zu erfüllen. Bei diesen Herausforderungen sind die Schulen auch auf Partner angewiesen. Und das ist eine günstige Voraussetzung, um die viel beschworene Kooperation auf Augenhöhe mittel- oder langfristig hinzubekommen. Das sind die großen Brötchen, die man backen muss. In diesen Kategorien muss man daher nachdenken. Ich halte es für nicht diskussionswürdig, dass einige Stimmen in der Jugendarbeit sagen, sich da heraushalten zu wollen. Damit würde Jugendarbeit sich selbst überflüssig machen. Es gibt keine andere Möglichkeit, als sich in den Bildungslandschaftsprozessen produktiv einzubringen.
Die Frage ist aber, wie man sich einbringen kann. Die beste Variante wäre, sich offensiv zu beteiligen, indem man überall für die kooperationsorientierte Variante einer Bildungslandschaft einsetzt.
Die kooperationsorientierte Variante wird in der Fachdiskussion mit dem Begriff der Ganztagsbildung erfasst, was weit über die Schule hinaus geht. Das ist ein ernst zu nehmendes, relevantes Konzept, das viele Akteure vor Ort kennen und teilweise versuchen zu realisieren. Dennoch ist dieser Ansatz bisher schwach ausgeprägt. Die schulzentrierte Variante ist immer noch ganz klar dominierend.
Aber: Nonformale Bildungsträger – Jugendarbeit und Jugendverbandsarbeit – haben eine Perspektive in den Regionalen Bildungskonferenzen und in der Bildungslandschaft, wenn sie mit einem klaren Konzept hineingehen und diese Prozesse quasi dezentrieren. Also: Weg von der schulzentrierten Variante und Hin zu einem Verständnis des ganzen lokalen Raums als Aneignungs- und Gelegenheitsstruktur für Lernprozesse. Die eigenen außerschulischen Lernorte und ebenso die informellen Lernorte, wo sich Peergroups treffen, müssen eingebunden werden.
?: Ist das aber nicht ein wenig idealistisch formuliert? Die Ganztagsschulen drohen das freie Zeitbudget Jugendlicher zu tilgen, das ihnen bei der Halbtagsschule verbleibt und das sie etwa in ein Engagement bei Jugendverband stecken können. Da beginnen für die Jugendverbände die Probleme. Wenn sie dann sagen: »Es scheint alternativlos zu sein, wir müssen uns in die Schulen hinein begeben«, folgt daraus nicht ein Strukturwandel für die Jugendverbände? Ihre elementaren Prinzipien wie Ehrenamtlichkeit, Freiwilligkeit, Selbstorganisation und Unabhängigkeit stehen auf dem Spiel, wenn sie mit Ganztagsschulen im Nachmittagsbereich kooperieren und Verpflichtungen eingehen, die das Schulsystem erfordert. Wie können sie also ein »Part of the game« werden, ohne ihre Eigenart zu opfern?
Stolz: Hier haben wir im Deutschen Jugendinstitut Konzeptideen entwickelt, die helfen können, solche Konflikte aufzulösen. Zunächst aber: In der Konzeption der Ganztagsschule steht ja nicht, dass das spezifische Angebot verpflichtend ist, sondern dass ein ganzes Spektrum an Angeboten zur Auswahl stehen kann, aus denen die Schüler/innen wählen können, was sie machen wollen. Daher kann die Nutzung eines speziellen Angebotes durchaus freiwillig sein, die Schüler/innen müssen nur irgendwas wählen. Das ist der Schritt, dass das Freiwilligkeitsprinzip in die Angebote kommt.
Folglich können im Tagesgeschäft der Ganztagsschule Jugendarbeit und Jugendverbandsarbeit Angebote machen, die die Jugendlichen selber auswählen. Inzwischen findet zudem ein Großteil der Ganztagsangebote an außerschulischen Lernorten statt. Das heißt also, dass Jugendverbände ihre eigenen Lernorte für die nonformale Bildung nutzen können.
Man kann sich aber auch Konzepte vorstellen, dass es bestimmte Angebote der Jugendarbeit und der nonformalen Bildung im weiteren Sinne gibt, die gar nicht in Kooperation mit Schule stattfinden, aber trotzdem auf den Ganztag der Schüler/innen angerechnet werden. Da sind freilich versicherungs-, aufsichtsrechtliche und logistische Fragen zu lösen.
Genau dafür sind Bildungslandschaften geeignet. Da können auf der lokalen, kommunalen Ebene Grundregeln verabredet werden, so dass nicht bei jedem Angebot und für jede Schule Einzelabsprachen getroffen werden müssen.
Und so ist es denkbar, dass bestimmte Angebote der Jugendverbände erstens frei nutzbar sind, zweitens gar nicht unbedingt in Kooperation mit Schule stattfinden müssen und trotzdem auf den Ganztag angerechnet werden.
?: Bestimmte Angebote?
Stolz: Eine wichtige Voraussetzung müssten die Angebote der Jugendverbände schon erfüllen: Die Bildungsbedeutsamkeit ihrer Angebote wäre nachzuweisen. Eine Zertifizierung wäre einzuführen, um die Anrechenbarkeit von Jugendverbandsangeboten auf den schulischen Ganztag zu belegen. Und ebenso müssen Jugendverbände in ihrer Bildungswirksamkeit qualifiziert werden. Wobei auch hier der Bildungsbegriff ganz breit ist, und der Zertifizierungsbegriff keineswegs heißt, dass man ein »Jugendhilfe-Pisa« braucht.
?: Ihre Empfehlung an die Jugendverbände wäre also, das Thema Bildungslandschaften offensiv anzugehen?
Stolz: Richtig. Es gibt strukturell gesehen ein Einfallstor. In der kooperationsorientierten Variante der Bildungslandschaft können Jugendverbände bestehen, ohne ihre Arbeitsprinzipien aufzugeben. Eine andere Frage ist, inwiefern das politisch realisierbar ist – gerade bei der geringen Lobby im Vergleich zur Schule. Konzeptionell aber geht es. Wichtig ist, dass Jugendverbände und andere Träger nonformaler Bildung mit einem klaren Konzept und einer klaren Strategie in diese Dinge herein gehen. Nicht mit kleinen institutionellen Egoismen und der Angst, dass man verliert. Mit einer defensiven Haltung wird man nichts ernten.
?: Kooperation und Vernetzung bedeuten zusätzliche Arbeit. Wie sollen kleine, komplett ehrenamtlich agierende Jugendverbände das leisten, um sich in einer Bildungslandschaft zu positionieren?
Stolz: Natürlich können sie das nicht alleine. Sie brauchen professionelle Unterstützung aus den bestehenden Vernetzungsstrukturen der Jugendverbände – wie den Landesjugendringen – und aus einem kommunalen Bildungsmanagement. So müssen Anlaufstellen eingerichtet werden, die den Gruppen etwa helfen, mit den Schulen in Kontakt zu kommen. Aber die kleinen Jugendverbände müssen natürlich selbst eine Idee und ein Konzept haben, was sie anbieten wollen. Bei dieser Konzeptentwicklung können sich die Jugendverbände über ihre Strukturen, die um Bildungsmanagement gegebenenfalls zu erweitern sind, selber helfen.
?: Durch die Vernetzung bestehender Bildungsangebote soll Bildung insgesamt für junge Menschen besser werden und die Erstarrung schulischer Bildungsformen überwunden werden. Ist das realistisch?
Stolz: Wir haben eine Situation – wenn ich jetzt mal von den Bildungslandschaften weggehe und auf die Bildungssituation generell schaue – der diskursiven Aufwertung der nonformalen Bildung und des informellen Lernens. Kein Konzept – ob es der Nationale Bildungsbericht oder die Pisa-Studie ist – kommt ohne Hervorhebung aus, wie wichtig diese Lernformen sind. Wenn man dann aber schaut, was konkret in der Bildungspolitik gemacht wird, findet man eine sehr schulzentrierte, auf formale Bildung, Qualifikationserwerb und Sprachkompetenz fixierte Bildungspraxis.
Da haben wir ein großes Problem: eine eklatante Diskrepanz zwischen Anerkennung und Förderung der Jugendarbeit. Sie ist im freien Fall, die Mittel werden überall massiv gekürzt. Teilweise müssen die Kommunen hier kürzen, weil sie durch die vorgeschriebene Haushaltssicherung und qua Aufsichtsbehörden gezwungen sind, freiwillige Leistungen – und als solches gilt die offene Kinder- und Jugendarbeit fälschlicherweise – einzukürzen. Darum fordern wir im Deutschen Jugendinstitut seit langem ordnungs- und bildungspolitische Reformen auf Länder- und Bundesebene, um den Trägern der nonformalen Bildung Luft zum Atmen geben.
?: Das meint konkret?
Stolz: Wir brauchen einschneidende Reformen, die auch ressourcenrelevant sind. Insbesondere müssen die Leistungen nach den Paragrafen 11 bis 13, die die offene Jugendarbeit, Jugendverbandsarbeit und Jugendsozialarbeit betreffen, zu Pflichtleistungen der Kommunen werden – ähnlich wie die Hilfen zur Erziehung. In den Veröffentlichungen der Dortmunder Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendhilfestatistik (AKJStat) in Dortmund wird nachgewiesen, wie sehr sich die kommunale Jugendarbeit im freien Fall befindet. Und deswegen müssen diese Leistungen zu Pflichtleistungen deklariert werden, um der rhetorischen Aufwertung der nonformalen Bildung Taten folgen zu lassen. Und natürlich ist es mit einer derartigen rechtlichen Änderung dann auch nicht getan, so lange die damit verbundenen Finanzierungsfragen von Bund, Ländern und Kommunen nicht gemeinsam angegangen werden.
Und dann sind wir noch gar nicht bei den Fragen der Partizipation. Wir haben in unseren Modellregionen, z.B. den Elbinseln, festgestellt, dass Partizipation von Kindern, Jugendlichen und unorganisierten Bürger/innen noch überhaupt nicht auf dem Schirm der Akteure ist. Deutschland hat sich im Rahmen der Kinderrechtskonvention völkerrechtlich verpflichtet, eine verlässliche Partizipation von Kindern und Jugendlichen in allen sie betreffenden Maßnahmen sicherzustellen. Da passiert gar nichts, auch nicht in den Regionen, die sich als Bildungslandschaften verstehen.
?: Herr Stolz, ich danke Ihnen für das Gespräch.
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Die Fragen stellte Jürgen Garbers, Landesjugendring Hamburg