Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 1-2008, Rubrik Titelthema

Was heißt Zivilgesellschaft?

Von Dr. Jürgen Schmidt, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Der in den aktuellen Debatten der politischen Öffentlichkeit häufig verwendete Begriff der Zivilgesellschaft hat inzwischen eine beachtliche Tradition aufzuweisen. Was vor mehr als zwanzig Jahren im englischen Sprachraum unter dem Begriff »civil society« entwickelt wurde, etablierte sich vor rund 15 Jahren in der deutschen Sprache als Zivilgesellschaft. Der Begriff ist damit auch Ausdruck für Karrieren wissenschaftlicher Begriffe. Freilich sind diese fast drei Jahrzehnte nichts im Vergleich zu den rund zweieinhalbtausend Jahren, in denen sich das heutige – diffuse – Verständnis von Zivilgesellschaft von der Antike über das Mittelalter, die Neuzeit bis zur Gegenwart entwickelte.

Der Begriff der Zivilgesellschaft wird oft als schwammig bezeichnet und als Allzweckwaffe im wissenschaftlichen, politischen und journalistischen Tagesgeschäft eingesetzt. Für manche Wissenschaftler bietet er sich an, komplexe Gesellschaftsabläufe zu bündeln und zu analysieren, für andere ist er ein schwarzes Loch, das alles in sich absorbiert. Für Politiker dient er als ideologisches Rüstzeug, um die Bürger zu mehr Eigenverantwortung zu bewegen, anderen als Segen bringendes Heilmittel, um der zersplitterten Gesellschaft eine neue Kohäsionskraft anzubieten. Im journalistischen Sprachgebrauch mäandert der Begriff zwischen einem Synonym für das System westlicher Demokratien schlechthin oder dient in eingeengter Wahrnehmung lediglich als ein äquivalenter Ausdruck für die Nichtregierungsorganisationen dieser Welt.

Wie lässt sich Zivilgesellschaft also definieren? Zunächst besteht die Möglichkeit, Zivilgesellschaft als einen Raum zwischen Staat, Markt und Privatsphäre zu bezeichnen. Es ist der Ort der gesellschaftlichen Selbstorganisation in Vereinen, Zirkeln, Netzwerken und Nichtregierungsorganisationen. Zivilgesellschaft meint öffentliche Diskussion, Konflikt und Verständigung, einen Bereich nicht gegängelter Selbständigkeit, ausgeprägter Vielfalt und Dynamik, getragen von Individuen und Gruppen. In der Wissenschaft findet man Fragestellungen nach dieser Form der Zivilgesellschaft oft auch unter dem Ausdruck der »Dritten-Sektor-Forschung«. Daneben hat eine zweite Definition Raum gegriffen, die Normen und Handlungsweisen zur Begriffsbestimmung heranzieht. Dazu gehört neben gesellschaftlicher Selbstorganisation, die Akzeptanz kultureller Vielfalt, die Orientierung am Gemeinwohl, Zivilität als Handlungsrahmen, die sich von Gewalt klar abgrenzt, sowie bürgerschaftliches Engagement des Einzelnen. Wichtige Rahmenbedingungen wie politische Öffentlichkeit und politische Institutionen, die diese Normen und Verhaltensweisen absichern, treten hinzu.

Greifen wir, um die Tradition des Zivilgesellschaftsbegriffs deutlich zu machen und ein breiteres Verständnis von Zivilgesellschaft zu entwickeln, zwei zentrale Merkmale der Zivilgesellschaft heraus: bürgerschaftliches Engagement des Einzelnen sowie gesellschaftliche Selbstorganisation. Diese Perspektive erlaubt es, Traditionen, Brüche und Kontinuitäten des Zivilgesellschaftskonzepts zu verorten – aber auch, seine Ambivalenzen sichtbar zu machen.

Bürgerschaftliches Engagement meint, dass die Mitglieder eines Gemeinwesens zusammentreffen, um für das Gemeinwesen – direkt oder indirekt – einen Beitrag zu leisten. In der Antike findet sich dieses Ideal in der griechischen Stadtgemeinde, der Polis, in der die mit den entsprechenden Tugenden und materiellen Gütern ausgestatteten Bürger über ihre Stadt befinden. Nur in der Partizipation am Gemeinwesen finden die Bürger ihre Erfüllung. In einem Brief an Archytas mahnte Platon (427-347 v. Chr.): »Aber ungehörig ist es wohl, wenn das Vaterland selbst uns zur Teilnahme an dem Gemeinwesen auffordert, dieser Aufforderung keine Folge zu leisten«. Demnach handelte es sich bei bürgerschaftlichem Engagement keineswegs nur um Rechte der Bürger, sondern auch um Pflichten, die sie dem Gemeinwesen gegenüber erbringen mussten; wurde ihnen nicht nachgekommen, verlor man nicht nur seine Mitwirkungsrechte, sondern brachte das gesamte Gemeinwesen in Gefahr.

Das bürgerschaftliche Engagement vollzog sich allerdings im Rahmen des bestehenden Staates, der Polis, nicht – wie im heutigen Verständnis von bürgerschaftlichem Engagement – jenseits staatlicher Strukturen. Dieser bürgerlich-republikanische Strang, wonach »die Bürger über sich selbst bestimmen« und »sich frei und politisch selbst organisieren sollen«, ist dem Zivilgesellsschaftsbegriff trotz aller Bedeutungswandlungen »nie verlorengegangen« – so das Fazit des Historikers Reinhart Koselleck.

In der Vorstellung der deutschen Stadtgemeinde und ihrer Bürger um die Wende zum 19. Jahrhundert tauchten bürgerschaftliche Vorstellungen wieder auf. In der »Nassauer Denkschrift« von 1807, die als Markstein in der Vorbereitung der preußischen Reformen gilt, plädierte Karl Freiherr vom Stein dafür, in der Verwaltung der Bezirke nicht auf ortsfremde Beamte zu setzen, sondern auf die Partizipation der mit den regionalen Gegebenheiten vertrauten Bürger und Eigentümer vor Ort: »Ersparung an Verwaltungskosten ist aber der weniger bedeutende Gewinn, der erhalten wird durch die vorgeschlagene Teilnahme der Eigentümer an der Provinzial-Verwaltung, sondern weit wichtiger ist die Belebung des Gemeingeistes und Bürgersinns«. Eine konkrete Umsetzung erfuhr dieser Ansatz etwa in der Preußischen Städteordnung von 1808, in der es unter anderem hieß: »Jeder, der Bürger werden will, ist verbunden, dem Magistrat den Bürgereid zu leisten und muß sich darin verpflichten, diese Ordnung aufrecht zu erhalten und das Beste der Stadt nach seinen Kräften zu befördern.« Freilich bestanden im Vergleich zur antiken Tradition zwei entscheidende Unterschiede. Zum einen wurde in der griechischen Antike der Staat durch dieses bürgerschaftliche Engagement erst konstituiert, während im 19. Jahrhundert über den Ort der Gemeinde im Staat debattiert wurde, sie aber nicht gleichbedeutend mit dem Staat war. Zum anderen waren im Ideal der griechischen Polis die Bürger frei von der Verpflichtung einer Arbeit nachzugehen, während im 19. Jahrhundert die durch Arbeit erworbenen Eigentumsrechte erst den Weg in den Bürgerstatus und damit zur Teilhabe am politischen Geschehen der Stadt eröffneten.

Diese rechtliche Umsetzung bürgerschaftlichen Engagements im deutschen Stadtrecht war die Weiterentwicklung der Ideen der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts, die von Autoren wie Adam Ferguson, Charles-Louis de Montesquieu, Thomas Paine und Immanuel Kant stammten. Bürgergesellschaft stand für den utopischen Entwurf einer Zivilisation, in der die Menschen als mündige Bürger und Bürgerinnen, als citoyens und citoyennes, friedlich zusammenleben würden, als Privatpersonen in ihren Familien und als Bürger in der Öffentlichkeit: selbständig, frei und verantwortlich, in Assoziationen kooperierend, unter der Herrschaft des Rechts, aber ohne Gängelung durch den Obrigkeitsstaat.

An der Wende zum 21. Jahrhundert – weiterentwickelt aus den Erfahrungen der osteuropäischen Zivilgesellschaft um und nach 1989 und der angelsächsischen Debatte – wurde der Appell an die tugendhaft-republikanischen Bürger wieder aktualisiert. Ein durch die Globalisierung herausgeforderter Sozialstaat sah sich gezwungen, die Bürger an ihren Anteil am Gemeinwesen zu erinnern. So konträre Politiker wie Gerhard Schröder und George W. Bush bedienten sich einer ähnlichen Rhetorik. Der deutsche Bundeskanzler sah im Jahr 2000 die Aufgabe der Politik darin, »dass wir der Gesellschaft Raum schaffen, ihre Belange selbst zu regeln – und zugleich den Beitrag jedes einzelnen zur Gestaltung seines eigenen und des gesellschaftlichen Lebens einfordern«. Der amerikanische Präsident rief in seiner Inaugural-Rede von 2001 den US-Amerikanern zu: »Ich fordere Sie auf, nach einem Gemeinwohl jenseits ihrer Bequemlichkeit zu streben, notwendige Reformen gegen leichtfertige Attacken zu verteidigen, Ihrer Nation zu dienen, angefangen bei Ihrem Nachbarn. Ich fordere Sie auf, Bürger zu sein; Bürger, nicht Zuschauer; Bürger, nicht Untertan«. Bush machte sich die amerikanische »Meistererzählung« von Freiheit, Aufstieg des Einzelnen und Eigeninitiative zunutze; Zivilgesellschaft mit ihrem bürgerschaftliches Engagement wird so zu einer »Selbstbeschreibungssymbolik« der Nation, wie es der Soziologe Jeffrey Alexander ausdrückt. Schröder wiederum instrumentalisierte den Begriff, um den Rückzug des Staates aus einem Teil seiner bisherigen sozialen Aufgaben vorzubereiten.

Neben das bürgerschaftliche Engagement in der Gemeinde oder für die Gemeinde (bzw. für die Gesellschaft) tritt für den Zivilgesellschaftsbegriff eine weitere wichtige Dimension: Als im 18. und frühen 19. Jahrhundert die synonym verwendeten Begriffe von bürgerlicher Gesellschaft und Staat geschieden wurden (im deutschen Sprachraum war hier Georg Wilhelm Friedrich Hegel am einflussreichsten), suchte man nach Vermittlungsinstanzen zwischen diesen Bereichen. »Intermediäre Sphären« gerieten in den Blick, zunächst bei Montesquieu in Form des Adels als vermittelnde Instanz im Rahmen der Monarchie, der einerseits ein Abgleiten der Monarchie in Despotie verhindern und andererseits die Macht des Regenten beschränken, aber auch nach unten durchsetzen helfen sollte. Im 19. Jahrhundert geschah die Vermittlung zwischen Staat und Gesellschaft durch die Vereine und Assoziationen. Dort konnten die Bürger ihre Interessen artikulieren, verdichten und schließlich an die Öffentlichkeit bringen. Alexis de Tocqueville berichtete begeistert über diese Fähigkeit zur Selbstorganisation der Amerikaner im Vergleich zu den von oben herab verwalteten Europäern. Von daher kritisierte in der Revolution von 1848 auch der Autor des Artikels »Assoziation« in dem von Robert Blum herausgegebenen »Volksthümlichen Handbuch der Staatswissenschaften und Politik«, dass ein Volk, so lange es »noch nicht durch entschiedenen Willen die Anerkennung des Rechts der Assoziation« erworben habe, »sich nicht schmeicheln (darf), in den freien Gebrauch aller seiner Kräfte getreten, aus dem Laufstuhl der Bevormundung entlassen zu sein.« Dem bürgerschaftlichen Engagement in Vereinen und der Fähigkeit zur Selbstorganisation wurde eine eigene Qualität zugeschrieben. In ihnen wurde die Gefahr der Atomisierung der Gesellschaft überwunden, interessenübergreifende Gemeinschaften gebildet und auf diese Weise »soziales Kapital« angehäuft, von dem nicht nur das Individuum, sondern auch die Gesellschaft und das Gemeinwesen profitierte.

Dieser historische Aspekt der Zivilgesellschaft, der Selbstorganisation in der »Assoziation«, findet sich letztlich auch in den Debatten um die Zivilgesellschaft von heute, in denen es um die Neubestimmung des Verhältnisses von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft, um die moralischen Grundlagen der Politik, um das Gemeinwesen insgesamt geht.
Dabei zeigt sich, dass das Projekt »Zivilgesellschaft« seinen utopischen Gehalt noch immer nicht ganz verloren hat.

Zunehmend gerieten allerdings auch die Schattenseiten des bürgerschaftlichen Engagements in den Blick. Starkes bürgerschaftliches Engagement, eine hohe Vereinsdichte und vielfältige ehrenamtliche Aktivitäten garantierten noch längst keine stabilen demokratischen Strukturen. Zivilgesellschaftliche Gruppen konnten unterwandert werden oder wurden von vornherein genutzt, um Eigeninteressen durchzusetzen, die Demokratie zu delegitimieren und in letzter Konsequenz Verhalten zu befördern, das zivilgesellschaftlichem Handeln entgegenstand. Bereits auf dem Soziologenkongress 1910 urteilte Max Weber, dass das Vereinswesen, etwa in Gesangsvereinen, den Staatsbürger zum passiven, auf seine Freizeit beschränkten Bürgermacht: »Es ist kein Wunder, daß die Monarchen eine so große Vorliebe für derartige Veranstaltungen haben. ›Wo man singt, da laß dich ruhig nieder.‹ Große, starke Leidenschaften und starkes Handeln fehlen da.«

Schließlich meint bürgerschaftliches Engagement zwar, die Bürgerinnen und Bürger für das Gemeinwesen zu gewinnen, geht aber andererseits mit starken Ausgrenzungsmechanismen einher. Schon die Bürger der griechischen Polis nahmen billigend die Existenz der Sklaven in Kauf; die Partizipationsrate der Bürgergesellschaft in den deutschen Bürgerstädten des frühen 19. Jahrhunderts erreichte kaum die Zehn-Prozent-Marke, war der Bürgerstatus doch an die Forderung nach der »Selbständigkeit« der Bürger geknüpft – Arbeiter, Gesellen, Dienstboten blieben ausgegrenzt. Zudem funktionierte Zivilgesellschaft lange Zeit als ein reines ›Männerprojekt‹; Frauen war der Weg in die öffentliche Sphäre im 19. Jahrhundert meistens verwehrt. Die Privatsphäre, in der bürgerschaftliches Engagement und die Fähigkeit zur Selbstorganisation eingeübt werden konnten, wurde nicht wahrgenommen. Hinzu kommt: Wer sich bürgerschaftlich engagiert und in Selbstorganisationen zusammenfindet, braucht Zeit, Geld und muss über bestimmte Fertigkeiten verfügen, die nicht allen gegeben sind. Die jüngst aufgeflackerte Diskussion um die Existenz einer Unterschicht in Deutschland zeigt, dass auch heutzutage Zivilgesellschaft aus sich selbst heraus zur Exklusion ganzer Bevölkerungsgruppen führen kann und zivilgesellschaftliche Partizipation an ihre Grenzen stößt. Der Historiker Paul Nolte etwa stellte in diesem Zusammenhang die Frage, ob sich Zivilgesellschaft »alleine mit einer bürgerlich und politisch engagierten Mittelklasse herstellen« lässt. Freilich lässt sich gegen diese doppelgleisige Kritik an der Zivilgesellschaft sagen, dass im Kontext einer zunehmenden Durchstaatlichung und Durchkommerzialisierung unseres Lebens die Fähigkeit zur Selbstorganisation und zum ehrenamtlichen Engagement nicht nur gestärkt, sondern auch sozial auf breitere Basis gestellt werden muss. Die Gesellschaft lebte und lebt von solchen Aktivitäten. Sie schaffen Freiräume, Kreativität und neue Ideen. In ihrem besten Fall finden sie auch Antworten, Lösungen und Gegenstrategien auf die dunklen Seiten der Zivilgesellschaft.

Bürgerschaftliches Engagement und Selbstorganisation als wichtige Merkmale der Zivilgesellschaft sind somit, insgesamt gesehen, zwei Sonden, um die vielfältigen Facetten des Zivilgesellschaftsbegriffs sichtbar zu machen. Seine normativen Implikationen werden sichtbar; die ambivalenten Züge zivilgesellschaftlicher Akteure lassen sich erkennen und analysieren; Überschneidungsflächen zwischen dem öffentlichen Engagement und der Privatsphäre zeichnen sich ab. Gleichzeitig bietet der Rückgriff auf die bürgerschaftliche Seite der Zivilgesellschaft die Möglichkeit, die lange Traditionslinie des Begriffs herauszuarbeiten und ihn nicht nur als ein Produkt der letzten dreißig Jahre zu sehen. Für die Wissenschaft liegt der Reiz der Diskussion über die Zivilgesellschaft darin, dass sie empirische Forschung mit den großen Fragen der Zeit verbindet. Unter dem Blickwinkel »Zivilgesellschaft« eröffnen sich der Wissenschaft neue Fragen und bieten sich ihr Möglichkeiten, Probleme in Verbindung zu bringen, die ansonsten getrennt behandelt werden. Von daher ist die Beschäftigung mit der Zivilgesellschaft mehr als die Untersuchung verschiedener Selbstorganisationen und ihrer Tätigkeiten – sie ist ein Beitrag zum Verständnis unserer Gegenwart.


Weiterführende Literatur:

Jürgen Schmidt
, Zivilgesellschaft. Bürgerschaftliches Engagement von der Antike bis zur Gegenwart. Texte und Kommentare, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2007, 352 S.

Frank Adloff, Zivilgesellschaft. Theorie und politische Praxis, Frankfurt am Main/New York: Campus 2005, 170 S.

Dieter Gosewinkel, Dieter Rucht, Wolfgang Van den Daele, Jürgen Kocka (Hg.): Zivilgesellschaft – national und transnational, Berlin 2003.