Von Jürgen Garbers, LJR Hamburg
Erst die Reden, dann das Vergnügen? Beim Empfang der Vereinigung Hamburger Deutsch-Türken (VHDT) läuft es anders. Die stellvertretende Vorsitzende Eda Kelekçi begrüßt die rund 100 Gäste im Saal der Türkischen Gemeinde Hamburg in Altona und ermuntert sie, sogleich beim Buffet zuzugreifen. Eine Stärkung ist tatsächlich angebracht, denn das Programm, das die gerade ein Jahr alte Vereinigung zusammen mit dem Verein zur Wahrung der Ideen Atatürks auf die Beine gestellt hat, erstreckt sich weit über zwei Stunden. Mit Reden und Grußworten, u.a. vom SPD-Bundestagsabgeordneten Niels Annen, viel Musik, ein paar Exkursen in die Geschichte der modernen Türkei und sogar mit einer sportlichen Darbietung im Ringen.
Das Ramadanfest oder das Opferfest sind über die Grenzen der islamischen Gemeinden hinaus als religiöse Feiertage in Deutschland bekannt. Doch der 19. Mai als einer der vier türkischen Nationalfeiertage? Außerhalb der türkischen Community sei dieser Feiertag, mutmaßt Eda, wohl nahezu unbekannt. Dabei steht er für die Geburtsstunde der modernen Türkei. In ihrer Rede, begleitet von historischen Fotos auf der Bühnenleinwand, erläutert Eda die Geschichte und Bedeutung dieses Tages. Er wird in der Türkei als Feiertag zum Gedenken an Atatürk und als Tag der Jugend und des Sports zelebriert (Atatürk’ü Anma, Gençlik ve Spor Bayramı). Er erinnert an die Ankunft Mustafa Kemal Paschas und seiner Mitstreiter 1919 in Samsun und dem Beginn des Befreiungskrieges gegen die Besatzungsmächte, der mit dem Frieden von Lausanne und der Ausrufung der türkischen Republik am 29. Oktober 1923 endete. Dieser historischen Leistung verdankt Mustafa Kemal Pascha auch seinen heute geläufigen Namen Atatürk, »Vater der Türken«.
Roter Faden. Warum begeht die junge Vereinigung Hamburger Deutsch-Türken diesen nationalen Feiertag in Hamburg? Ihre Mitglieder zählen zur sogenannten dritten Generation türkischer Migranten, haben deutsche Pässe in der Tasche und kennen das Land ihrer Großeltern oftmals nur aus Reisen. Wo liegt der Anknüpfungspunkt? Was ist die politische Intention? »Wir repräsentieren den Geist der modernen Türkei hier in Hamburg«, betont Erkan Sahin, der Vorsitzende der VHDT, in seiner frei gehaltenen Rede und schlägt damit den Bogen zu Atatürk: »Seine Ideen stehen für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit«. Den 19. Mai hier in Hamburg mit Freunden zu begehen, sei für junge Deutsch-Türken daher ein selbstbewusstes Zeichen von gelebter Interkulturalität. »Wir begreifen die Ideen Atatürks als Aufforderung, uns mit unserer Kultur in die Zivil-gesellschaft einzubringen und uns politisch zu engagieren. Und das hier vor Ort.« Diese Intention ist der rote Faden in Erkans Rede, und sie umschreibt zugleich die Gründungsidee der VHDT. Für junge Deutsch-Türken habe in Hamburg eine Organisation gefehlt, die anknüpfend an die Ideen Atatürks für demokratische Teilhabe sowie interkulturelle Offenheit stehe und in der Religion keine Rolle spiele. Diese Leerstelle wolle die VHDT füllen. Die Vereinigung biete eine Plattform für junge Deutsch-Türken, die Interesse an der politischen Entwicklung in der Türkei haben und zugleich ihr Leben hier in die Hand nehmen wollen. Interkulturelles Crossover als Programm – oder Atatürk »reloaded«. Zugleich geht es der VHDT um eine Veränderung des Türkeibildes in der öffentlichen Wahrnehmung. Und um die Köpfe junger Deutsch-Türken. »Die politischen Ideale Atatürks beschreiben das Gegenbild zur religiösen Agenda des aktuellen türkischen Präsidenten Erdoan und der regierenden AKP.« Seinem Einfluß auf hiesige Deutschen-Türken will die VHDT entgegentreten.
Gezi als Fanal. Ein Anstoss zur Gründung der VHDT ging auch von den Protesten im Mai 2013 rund um den Gezi-Park in Istanbul aus, der durch ein Großbauprojekt ersetzt werden sollte. Nach einem brutalen Polizeieinsatz gegen friedliche Besetzer des Parks eskalierte der Konflikt. Eine breite Protestbewegung gegen die autoritäre Politik Erdoans und der AKP bildete sich in vielen türkischen Großstädten – und erreichte auch Hamburg. Viele Deutsch-Türken solidarisierten sich mit der Gezi-Bewegung und organisierten Kundgebungen sowie Informationsveranstaltungen zu den Vorgängen in der Türkei. Auf der »Gezi-Plattform Hamburg« bei Facebook, von einem Netzwerk von 20 Vereinen ins Leben gerufen, tauschten sich rund 1.300 Personen über gemeinsame Aktionen aus. Diese Protestwelle habe gezeigt, so Erkan, daß es in Hamburg viele Deutsch-Türken gebe, die weder in Moscheen noch in den vielen Kulturvereinen beheimatet sind. Die VHDT wolle ein Ort für junge Deutsch-Türken werden, die »den Geist von Gezi« weitertragen und sich gegen die Islamisierung der Türkei sowie des kulturellen Lebens der Deutsch-Türken in Hamburg wenden. Großer Beifall im Saal.
Interkulturelles Programm. Es folgen weitere Reden und Grußworte. Wirkung und Bedeutung Atatürks stehen im Mittelpunkt. Ein kurzer Film zeigt die Stationen des Befreiungskrieges und die Ausrufung der türkischen Republik im Jahr 1923. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Niels Annen lobt in seiner Rede die Veranstaltung als Zeichen der besonderen Beziehung zwischen Deutschland und der Türkei und fordert die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft für Deutsch-Türken. Dann wird es kulturell bunter. Mehmetcan Kotil aus den Reihen der VHDT spielt am Klavier Stücke von Chopin und Beethoven sowie ein türkisches Volkslied von Aik Veysel. Auf der Bühne folgt Emre mit einem Gedichtvortrag: »Die Frauen« von Nazim Hikmet. Anschließend gibt es Chormusik. Dann eine ganz andere Seite von Atatürk im Film: Er tanzt, stilvoll im Frack gekleidet, mit seiner Frau Walzer. Auf eine musikalische Reise durch Anatolien führen sodann Hüseyin Duman und Olcay – viele traditionelle Lieber, begleitet mit der Saz, der türkischen Laute. Abschließend wird es – dem Feiertag angemessen – sportlich: Zwei junge Athleten zeigen Übungen des in der Türkei sehr populären Ringkampfes.
Klönschnack und politische Aktionen. Im Verbandsalltag der VHDT sind die regelmäßigen Klönschnacks das zentrale Element. Mal politisch, mal kulturell ausgerichtet, aber immer gesellig. Im Mai besuchte der NDR-Reporter Michel Abdollahi den Kreis und berichtete von seinem einmonatlichen Aufenthalt im mecklenburgischen Jamel, den er im – inzwischen mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichneten – Film »Im Nazidorf« festhielt. An einem anderen Abend diskutierten die VHDT'ler und Gäste gemeinsam mit dem SPD-Bezirksabgeordneten Fatih Yilmaz über »Politikverdrossenheit in Zeiten von Pegida«. Desweiteren gab es zwei Treffen mit der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, um über gemeinsame Aktionen und einen Austausch nachzudenken. Zudem engagiert sich die VHDT in der Flüchtlingshilfe.
Das bunte Programm trifft offenbar den Nerv vieler junger Deutsch-Türken in Hamburg. Vor rund einem Jahr mit zehn Personen gestartet, ist die VHDT Mitte 2016 auf 100 Mitglieder angewachsen. Die Klönschnacks dienen auch der Mitgliederwerbung. Bei diesen Abenden achte man darauf, so Erkan, daß die Mitglieder nicht zusammensitzen, sondern neben sich bewußt einen Platz frei lassen, um mit Schnuppergästen besser ins Gespräch zu kommen.
200 als Ziel. Die Vereinigung will weiter wachsen. 200 Mitglieder zum Jahresende lautet das ambitionierte Ziel. Zuwachs erhalten sie auch über den ersten Ableger der VHDT an der Uni Hamburg, wo Eda eine Hochschulgruppe ins Leben gerufen hat. Doch der Aufbau der Organisation gestaltet sich schwierig. Für viele Mitglieder ist es das erste Mal, in einem Verein tätig zu sein. »So machen wir lieber viele kleine Schritte«, sagt Eda, »um unsere Mitglieder nicht zu überfordern und damit der Spaß nicht auf der Strecke bleibt.« Der Vereinigung fehlen zudem ein Büro und Räumlichkeiten für Veranstaltungen. Mit den Klönschnacks, die anfangs in einem Restaurant stattfanden, ist man derzeit nur vorübergehend in einer Einrichtung untergekommen, die Raumsuche geht fort. Um sich besser etablieren zu können, hat die VHDT den Antrag auf Anerkennung als Jugendverband beim Landesjugendamt in der BASFI gestellt. Eda und Erkan hoffen, daß sich durch eine Anerkennung weitere Türen öffnen und eine Förderung möglich wird. Mittelfristig streben sie zudem die Aufnahme in den Landesjugendring an.
Die organisatorischen Probleme sind bezeichnend für viele junge Vereine im Aufbau. Was in Hamburg fehlt, so Erkan, sind günstige, multifunktionale Räumlichkeiten für junge Initiativen nach dem Modell für Startups in der Wirtschaft: Man bräuchte einen Veranstaltungssaal und einen großen Büroraum, die Vereine in Gründung gemeinsam nutzen könnten.
Mutmacher. Die Veranstaltung zum 19. Mai hat den Aktiven der VHDT weitere Kraft und Hoffnung gegeben, ihre ambitionierten Ziele erreichen zu können. »Wir müssen zwar noch lernen«, räumt Erkan ein, »einen solchen Abend nicht mit zu vielen Programmpunkten und Reden zu überfrachten.« Sonst komme der Austausch mit den Gästen zu kurz. Aber die Vielfalt der kulturellen und politischen Beiträge, die von so vielen Mitwirkenden gestaltet wurden, habe gezeigt, daß die VHDT auf den richtigen Weg sei. Erkan: »Den Geist von Gezi und die Ideale Atatürks sind der Schlüssel, wie junge Deutsch-Türken selbstbewußt an der Zivilgesellschaft teilhaben und sich politisch engagieren können.«
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Vereinigung Hamburger Deutsch-Türken
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