Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 1-2006, Rubrik Titelthema

Russische Jugendszenen

Oder »Prolos« gegen »Alternative«

Von Jelena Omeltschenko, Forschungszentrum »Region« in Uljanowsk

Im neuen Russland teilen sich die Jugendszenen in so genannte »alternative« Milieus einerseits und »normale« Jugendliche andererseits. Diese Begriffe dienen sowohl der Abgrenzung als auch der Selbstcharakterisierung. In letzter Zeit profilieren sich am äußersten Rand der so genannten «Normalos« die »Prolos« (russ. gopniki) als aggressive »Ordnungskraft« gegen alles, was als kulturell »fremd« wahrgenommen wird. Nach Auffassung der Autorin manifestiert sich in diesem jugendkulturellen Phänomen ein in der gesamten Gesellschaft relevanter Trend. Der Staat versucht, das Mobilisierungs¬potenzial dieser Jugendlichen für sich nutzbar zu machen.

Einführung

Die öffentliche Diskussion über die Jugend in Russland ist in vollem Gange. Der Staat interessiert sich für die Jugendlichen, am laufenden Band werden jugendpolitische Strategien und Programme zur Erziehung eines patriotischen Bewusstseins entwickelt, gesucht werden Ideologeme für die »geistige und ethische Erneuerung der Jugend«. Ein großer Teil dieser Dokumente nimmt in erster Linie auf die »politische« Dimension der Jugendkulturen Bezug. Der Staat interessiert sich nicht wirklich für die Realität jugendlicher Lebenswelten, sondern sucht nach Mechanismen, um die Jugendlichen angesichts der schweren gesellschaftlichen Krise als Ressource zu mobilisieren. Dabei wird ignoriert, dass sich der sogenannte Jugendaktivismus seit Mitte der 90er Jahre aus dem politischen in den kulturellen Raum verlagert hat. Die Jugendlichen in Russland leben in unterschiedlichen Wertewelten. Ausdruck dieser Differenzen ist die Vertiefung der symbolischen und realen Grenzen zwischen den sogenannten »Fortschrittlichen« (auch »Informelle«, »Alternative« oder »Subkulturelle« genannt) und den »Normalos«, also konventionell eingestellten Jugendlichen, deren äußersten Flügel die »Prolos«, russisch gopniki, bilden. Diese Gruppen verfolgen grundverschiedene kulturelle und Lebensstrategien.

Nicht nur die Jugendlichen, sondern auch ein großer Teil der russischen Bevölkerung hat einen grundlegenden Wertewandel durchgemacht. Wichtigster strategischer Bezugspunkt ist nicht etwa ein ethischer Imperativ, sondern der materielle Wohlstand; für einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung ist dieser Bezugspunkt lediglich das Existenzminimum. In diesem Prozess ändert sich die Bedeutung der »klassischen« Ideologien. Sie werden zu situationsabhängigen subkulturellen Verbrauchsgütern. So kommt heute die Skinhead-Aufmachung nicht nur bei »Prolos« vor, deren extremen Flügel wiederum die otmoroski, also »Hartgesottene« oder »Freaks«, bilden. Sie wird auch von »Alternativen« benutzt, und hier nicht nur von radikal nationalistischen und chauvinistischen Jugendgruppen, sondern auch von Redskins. Den sogenannten »glamourösen« Stil gibt es in einer unkonventionell-elitären wie auch in einer Pop-Variante für »Prolos«. Eine besondere Funktion in der symbolischen und realen Abgrenzung zwischen den kulturellen Strategien der „Prolos“ und der »Alternativen« besitzen Geschlechterrollen. Diese äußern sich in individuellen und kollektiven Praktiken und äußeren Stilelementen, die die Mitglieder der verschiedenen Gruppen ständig verwenden und die ihnen jeweils gemeinsam sind. Vorstellungen von einer »normalen«, den Vorbildern der Gruppe entsprechenden Männlichkeit und Weiblichkeit spielen bei der Abgrenzung zwischen der »eigenen« und der »fremden« Gruppenidentität eine wichtige Rolle. So stellte eine Studie zu homophoben Einstellungen fest, dass die »Alternativen« sich von den »Prolos« durch sexuelle Unvoreingenommenheit und Toleranz gegenüber »anderen« Arten sexueller Wünsche, durch Offenheit für sexuelle Aufklärung abgrenzten.

Außerdem lehnten sie das Ideal vom »normalen«, »echten« Mann und der »echten« Frau ab.
Das intensive Interesse für den »Faktor Jugend« hat teilweise mit der jüngsten Welle der »bunten« (orangenen, Rosen-) oder samtenen Revolutionen in den ehemaligen Sowjetrepubliken und jetzigen GUS-Staaten zu tun. Die reale oder angebliche Teilnahme der Jugendlichen an diesen Aktionen hat sowohl deren Intensität als auch deren Ausgang entscheidend geprägt. Die Staatsgewalt schenkt den Jugendlichen immer dann besondere Aufmerksamkeit, wenn eine neue Generation bzw. ihre aktivsten oder extremistischsten Angehörigen sich scheinbar oder tatsächlich der staatlichen Kontrolle entziehen. Die Jugendlichen, deren Elan als eine bedeutende Ressource angesehen wird, können dann nicht mehr gelenkt, manipuliert und benutzt werden.

Der Hintergrund dieses angespannten und keineswegs uneigennützigen Interesses für die vielfältigen jugendlichen Szenen ist die Suche nach Mechanismen zur »richtigen« und »notwendigen« Mobilisierung dieser Energie.

Die Konfrontation zwischen »Alternativen« und »Prolos«

Ende der 1990er Jahre waren die »Alternativen« in den Jugendszenen in der Minderheit. Die meisten von unserem Institut befragten Jugendlichen bezeichneten sich als »normal« oder »ganz gewöhnlich«, was nicht bedeutete, dass sie kulturell inaktiv waren. Von den »Alternativen« unterschieden sie sich vor allem dadurch, dass sie sich nicht mit einer bestimmten musikalischen oder Stilrichtung identifizierten. Die »Normalos« waren nicht homogen; zu ihnen gehörten gewöhnliche Jugendliche, die sich in Cliquen auf ihrem Hof die Zeit vertrieben, aber auch »anti-alternative« »Prolos«. Diese betrachteten sich selbst als Wortführer der »moralischen Mehrheit« und ihre Aggressivität gegenüber den »Alternativen« als ein Mittel zur Aufrechterhaltung der Ordnung. Als »Prolos« bezeichneten die »Alternativen« und »Progressiven« eine »graue, beschränkte Masse« von Jugendlichen, die aus geringfügigem Anlass Schlägereien anzetteln; zum Beispiel, weil jemand die »falsche« Frisur oder das »falsche« Outfit hat oder meint, »was zu melden zu haben«. Es hieß, sie gingen in billigen Trainingsanzügen zur Disko, seien aggressiv, intolerant und könnten sich nicht benehmen. Die Rap- und Rave-Szenen waren zwischen der »Normalo«- und der »alternativen« Strategie angesiedelt, was von der Durchlässigkeit der Grenzen zwischen diesen Lebenswelten spricht. Die Unterscheidung zwischen »Alternativen« und »Normalos« aber war für alle ein wichtiges Element der individuellen und der Gruppenidentität.

Das territoriale Prinzip, das für die vorangehende Generation – die »Cliquenmenschen« (tusowschtschiki) und »Bandenmitglieder« (gruppirowschtschiki) – noch charakteristisch war, dominierte nun nicht mehr. Im symbolischen Kampf zwischen den beiden Richtungen ging es nun um kulturelle Szenen (Klubs, Discos, Cafés), und ausgetragen wurde er über Musik, Preisniveau und Atmosphäre. Es handelte sich um Lebensstrategien, die nicht nur auf Stil und Musikgeschmack beruhten, sondern auf einem breiten Spektrum an Grundeinstellungen. Diese Strategien waren Wege zur Erschließung der Welt, neue Ressourcen sozialer und kultureller Mobilität. Die alternativ ausgerichteten Jugendlichen strebten nach einem individuellen Stil, anstatt der Mode zu folgen. Sie nutzten die ihnen zugänglichen Erfahrungen und Erzeugnisse der westlichen Kultur, um »in die große weite Welt« hinauszugelangen und sich als Persönlichkeit zu entwickeln. Sie strebten ins »Zentrum«, um ihren lokalen Gemeinschaften und der Provinzialität zu entfliehen; sie eroberten Klubs, Cafés und Bars anstelle der Straßen, Parks und Metrostationen, an denen sich die »Cliquenmenschen« der spätsowjetischen Periode getroffen hatten. Auch als Gruppen blieben sie Gemeinschaften von Individuen, die sich frei ihren Lebensstil aussuchten und ihre Entscheidungen, z.B. zu Alkohol und Drogen, eigenverantwortlich trafen.

Zu den Strategien der »Normalos« gehörte, dass sie ablehnend und feindselig auf Leute reagierten, die durch spezielle Aufmachung oder aber durch die Verwischung traditioneller geschlechtlicher Marker, wie zum Beispiel im Unisex-Stil, auffielen. Der Musikgeschmack dieser Jugendlichen begrenzte sich auf russische Popmusik oder das sogenannte »Chanson«; die Musik diente ihnen nicht als kulturelles Kapital, sondern als Hintergrund für Partys und das »Rumhängen« mit ihren Altersgenossen. Meist verbrachten sie ihre Zeit in stabilen Cliquen, mit Leuten, die im selben Haus oder Hof wohnten oder mit denen sie zur Schule gegangen waren. Was den Drogen- und Alkoholkonsum angeht, waren die Normen der Gruppe für sie wichtiger als persönliche Entscheidungen. Bezugspunkt für die »Normalos« waren die lokalen Reviere, die sie kontrollierten, nicht das Stadtzentrum, wohin sie »einen draufmachen« gingen. Ihre Werte waren Stabilität, Sicherheit und die Identifikation mit ihrem unmittelbaren Umfeld. Die »Alternativen« grenzten sich von der »Normalo«-Mehrheit ab und bezichtigten diese der Nachahmung »des Westens«, der immer mehr mit der Produktion einer kommerziellen und daher Pseudo-Kultur gleichgesetzt wurde. Für die »Alternativen« war die »große weite Welt« der Bezugspunkt; sie suchten nach neuen Möglichkeiten.

Der Westen diente ihnen als Informationsquelle und Orientierungspunkt am globalen Horizont, doch waren dabei gerade sie dem Westen gegenüber am kritischsten eingestellt. Der Horizont der »Normalos« beschränkte sich auf ihr unmittelbares Umfeld; ihre kulturelle Strategie war darauf ausgerichtet, lokale Beziehungen aufrechtzuerhalten. Aber auch sie nahmen auf ihre Art am »globalen« Konsum teil. Die kulturellen Strategien der Alternativen und der »Normalos« reflektierten die soziale Differenzierung im Zugang zum »Globalen« und in der Art und Weise, sich daran zu beteiligen. Seit Ende der 1990er Jahre ist der reale oder virtuelle Kampf zwischen diesen Strategien noch entschiedener geworden.


»Prolos« und »Alternative«: zur Geschichte der Begrifffe und Phänomene

In den 1980er Jahren entwickelte sich die alternative Jugendbewegung stürmisch. Eine ganze Generation teilte sich eindeutig in »unverbesserliche« KomsomolzInnen und fortschrittliche »Informelle« (russ. neformaly). Der Begriff neformaly wurde während der Perestroika von Komsomol-BürokratInnen erfunden, um selbstorganisierte Jugendgruppen zu bezeichnen, die sich als Alternative zu formellen Organisationen (Pioniere, Komsomol, Partei) verstanden. Paradoxerweise wurde ein »von oben« eingeführter Begriff dann von den Jugendlichen selbst und auch von den Medien verwendet. Es gab sehr viele »Informelle«; untereinander unterschieden sie sich nach ihren Aktivitäten im politischen, subkulturellen und wirtschaftlichen Bereich. Im Frühjahr 1987 führte die Moskauer Miliz einen demonstrativen Übergriff auf einen informellen Jugendklub, einen Hippietreff auf dem Gogol-Boulevard, durch. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits erste Veröffentlichungen über jugendliche Banditengruppen erschienen. Es handelte sich um einen besonderen Typ von Vereinigungen Jugendlicher, deren Aktivität darin bestand, ihr lokales Revier zu schützen. Für gewöhnlich waren dies abgelegene, von UmsiedlerInnen ländlicher Herkunft bewohnte Neubaugebiete mit großen Wohnblocks, die um aufstrebende Provinzstädte und Haupt- und Großstädte wie Moskau, Samara oder Kasan entstanden waren.

In den 1990er Jahren war ein Rückgang der informellen Bewegung zu verzeichnen. Der Komsomol zerfiel endgültig, wodurch der öffentliche Widerstand gegen formelle Strukturen seinen Sinn verlor. Die Entwicklung der Marktwirtschaft lenkte die Aktivitäten der Banden in kriminelle und halbkriminelle Bahnen. Die Ausweitung der Schattenwirtschaft schuf einen Nährboden für Banden, die Schutzgeld erpressten; sie bestanden teilweise aus Veteranen des Afghanistankriegs, die Schwierigkeiten mit der Eingliederung in das neue System hatten. Sie mobilisierten Banden von Halbwüchsigen für »Frontaufgaben«: zur Kontrolle von Märkten, Tankstellen und der wachsenden Zahl privater Restaurants und Verkaufsbuden. Gleichzeitig eroberten subkulturelle Jugendgruppen Klubs und Discos. In der Mitte der Neunziger boomten in Russland die Klubszenen.

Identitätssuche

Die neue strategische Konfrontation von »Normalos« und »Alternativen« hat tiefere Wurzeln; sie resultiert aus der Spezifik jugendlichen Lebens im heutigen Russland. Gemeint ist die Suche nach einer eigenen Identität in einer Gesellschaft, der Normen »richtigen«, öffentlich gebilligten Verhaltens abhanden gekommen sind und mit ihnen die Basis für gesellschaftliche Solidarität. Daher eröffnet die Wahl einer kulturellen, nicht aber einer politischen oder wirtschaftlichen Strategie den Raum, in dem die Jugendlichen ihre Identität mehr oder weniger frei gestalten können. Die Entfremdung der Jugendlichen vom politischen und wirtschaftlichen Raum nimmt zu, die meisten von ihnen fühlen sich dort nicht als vollberechtigte, real handelnde und Einfluss ausübende Subjekte. Unsere Studien belegen, dass ein bedeutender Teil der Jugendlichen nicht nur den staatlichen, sondern auch gesellschaftlichen Einrichtungen und Institutionen misstraut – mit Ausnahme von Präsident Putin und der Russisch-Orthodoxen Kirche.
Die Wahl einer kulturellen Strategie ist nicht völlig frei. In vielerlei Hinsicht wird sie durch geographische (Hauptstadt vs. Provinz, Zentrum vs. Peripherie), soziale, ethnische, materielle und geschlechtliche Faktoren bestimmt. Allerdings erweisen sich die Grenzen der kulturellen Konfrontation als mobil.
Die jungen Männer und Frauen definieren nicht so sehr ihre eigene Gemeinschaft als die der anderen. Die »Alternativen« definieren sich durch den Gegensatz zu den »Prolos«, die sich ihrerseits durch die Ablehnung der Alternativen bestimmen.
Der Begriff »Prolos« wird für gewöhnlich nicht als Selbstbezeichnung verwendet; »Alternative« oder »Informelle« wird inzwischen nur in der offenen Konfrontation mit »Prolos« oder in rituellen Streitigkeiten innerhalb der gesamten Szene, beispielsweise zwischen RapperInnen und Skinheads, als Selbstbeschreibung gebraucht. Die gegenseitigen Benennungen zeichnen sich durch extreme Aggressivität aus. Bleibt die Aggressivität der »Alternativen« meist verbal, drückt sie sich bei den »Prolos«, zumindest nach Aussage der »Alternativen«, meist offen aus und kann zu gewalttätigen »Säuberungen« eskalieren. In der Jugendszene werden die Begriffe »Alternative« und »Prolos« als Etikett verwendet, als soziokulturelles Kennzeichen, das in unbestimmten Situationen die Abgrenzung von den »anderen« und die Identifizierung mit den »eigenen Leuten« erlaubt.

Interessant sind in dieser Hinsicht die Webseiten der »Alternativen«, insbesondere der Extremist-Innen unter ihnen. Zu den »Prolos« und ihren äußeren Erkennungsmerkmalen findet sich etwa folgende Darstellung:
»Das sind grobe, zynische und äußerst unangenehme Subjekte, immer bereit, jemanden‚
anzumachen und eine Auseinandersetzung mit ›Alternativen‹ jeder Art anzuzetteln. Sie agieren ausschließlich in großen Kommandos, legen sich nie mit starken Gegnern an… tragen Trainingshosen, haben einen niedrigen IQ und sind ungehobelt in Wortschatz und Aussprache… Kompliziertere Musik als platten Pop akzeptieren sie nicht.«

Zu ihrem gewöhnlichen, alltäglichen Verhalten gehört, dass sie Fremde anpöbeln, sich gegenseitig fertig machen und Auseinandersetzungen nach den Gesetzen der Straflager veranstalten. Letzteres ist eine Art moralischer Kodex, der Gemeinschaft und Hierarchie der kriminellen Welt absichert.

Interessanterweise reagieren gerade radikal und pro-faschistisch eingestellte Jugendgruppen besonders aggressiv auf die »Prolos«. Dies hat wahrscheinlich damit zu tun, dass die russischen Skinheads nicht nur in den Medien, sondern auch von anderen »normalen« Jugendlichen oft mit den »Prolos« verwechselt werden. Darum ist es für sie so wichtig, sich von diesem Etikett zu distanzieren. Die Vorstellung von den »Prolos« ist zum einen primitiv, zum anderen dämonisierend. Man bekommt den Eindruck, dass es sich um eine erstarkende Kultur handelt, die inzwischen weit über die Grenzen der Jugendmilieus hinaus reicht

Zusammenfassung und Fazit

Woraus speist sich die kulturelle Konfrontation zwischen »Alternativen« und »Prolos« in der gegenwärtigen Jugendszene in Russland? In der russischen Gesellschaft als Ganzes, nicht nur im Jugendmilieu, ist angesichts der rasanten Differenzierung der Bevölkerung nach Lebensniveau, sozialem Status, Zugang zu signifikanten Ressourcen sowie nach kulturellen Strategien ein Zuwachs an Aggressivität sowie an xeno- und homophoben Einstellungen zu verzeichnen. Der Unterschied zwischen der Strategie der »Normalos«/«Prolos« und derjenigen der »Fortschrittlichen« / «Informellen« / «Alternativen« betrifft nicht nur den äußeren Stil, sondern auch das lebensbestimmende Wertegefüge. Die »Prolo«-Psychologie ist nicht nur für einen marginalisierten, depravierten, kriminellen oder pathogenen Teil der russländischen Jugend charakteristisch. Die »Prolos« unter den konventionell eingestellten Jugendlichen verleihen gleichzeitig den Interessen einer Mehrheit der Erwachsenen Ausdruck, die sich angesichts des unbestimmten Ausgangs der gesellschaftlichen Transformation an »traditionelle« Werte halten. Das Selbstverständnis und die Praktiken der »Prolos« speisen sich weniger aus der Popularisierung krimineller Vorbilder und Werte als aus der Ausbreitung einer spießbürgerlichen wirtschaftlichen und kulturellen Mentalität. Diese resultiert ihrerseits aus dem Vormarsch des Marktes und eines »bar- barischen« Kapitalismus sowie aus dem Mangel an »großen Ideen«. Die Gefahr besteht nicht nur darin, dass sich in Russland die Skinhead-Bewegung und andere extremistische Jugendbewegungen ausbreiten, wie es zumindest in den Medien geschildert wird. Sie besteht auch darin, dass ein Teil der »Normalo« / »Prolo«-Jugend sich nun deren Rhetorik bedient. In der mainstream-Jugendszene verbreiten sich Nationalismus und Xenophobie sowie die Neigung zu roher Gewalt, Aggression und »einfachen Freuden«.

Den hauptsächlichen Inhalt der staatlichen Jugendpolitik macht die Suche nach neuen Sündenböcken aus. Dies lenkt von den realen Problemen der Jugendlichen ab, die mit wachsender Armut und Schutzlosigkeit konfrontiert und aus den wichtigen Bereichen des öffentlichen Lebens ausgeschlossen sind. Die Jugendlichen im heutigen Russland werden von der Staatsgewalt weiterhin als Ressource betrachtet, während sie selbst danach streben, als Subjekte anerkannt zu werden.


(erstveröffentlicht in: kultura 2-2005, aus dem Russischen von Mischa Gabowitsch)


Über die Autorin:

Jelena Omeltschenko ist Soziologin und leitet das Forschungszentrum »Region« mit dem Schwerpunkt Jugendforschung in Uljanowsk an der Wolga.

Lesetipps:
• »Loking West?« Cultural Globalisation and Russian Youth Cultures. Hilary Pilkington/
Elena Omelchenko (eds). University Park, Pa: PennStateUniv Press, 2002 (Ergebnisse eines englisch-russischen Projekts Ende der 1990er Jahre)
• Gopniki. Kto oni i kak s nimi borot’sja? (Traktat v 6 aktach) [Die »Prolos«. Wer sind sie, und wie kann man sie bekämpfen? Ein Traktat in sechs Akten (in russischer Sprache)]. diabler.narod.ru/gop.html


kultura

kultura ist die monatlich erscheinende Publikation der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen und berichtet über signifikante Entwicklungen der Kultursphäre Russlands. (Redaktion: Isabelle de Keghel und Hartmute Trepper) Die Publikation kann als PDF-Datei von der website der Forschungsstelle (www.forschungsstelle-osteuropa.de) heruntergeladen oder kostenlos abonniert werden per mail an: publikationsreferat@remove-this.osteuropa.uni-bremen.de