Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 2-2006, Rubrik Titelthema

Was haben Jugendverbände mit dem Übergang von jungen Erwachsenen in Arbeit zu tun?

von Thomas Kreher, Institut für Regionale Innovation und Sozialforschung (IRIS) e.V. Dresden

Einführung
Bezogen auf Kompetenzentwicklung und Lebensbewältigung im Jugend- und jungen Erwachsenenalter und im Rahmen der gegenwärtigen Diskussionen um ein neues Bildungsverständnis, die insbesondere auf Lern- und Bildungsprozesse außerhalb der traditionellen Institutionen des Bildungssystems verweisen (vgl. z.B. Rauschenbach u.a. 2004, 12. Kinder- und Jugendbericht), verstärkt sich der Blick auf die Jugendverbände als spezifische Lebens- und Lernorte von Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

Gleichzeitig stehen die Jugendverbände in Deutschland derzeit vor der Herausforderung ihre Bildungsqualität belegen und ihr besonderes Bildungsprofil für die zukünftige soziale und pädagogische Infrastruktur der Gesellschaft verdeutlichen zu müssen, was unter dem Signum Auslaufmodell oder Zukunftsmodell aktuell wieder verstärkt diskutiert wird (vgl. Faulde 2003, Gängler 2004). Denn einerseits machen die sich wandelnden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mit den daraus resultierenden veränderten Lebenslagen für Jugendliche und junge Erwachsene nicht vor der Jugendverbandsarbeit halt, andererseits verstärkt sich für die Jugendverbände der Legitimationsdruck im Rahmen des sozialstaatlichen Umbaus. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Jugendverbandsarbeit Möglichkeiten hat, Jugendlichen und jungen Erwachsenen biografieorientierte Lernarrangements und offene Räume anzubieten. Denn die gegenwärtige Entgrenzung von Jugend erfordert in verstärktem Maße einen Ort für die Jugendlichen, in dem Offenheit und Halt sowie Experimentiermöglichkeiten gegeben sind. Augenscheinlich eines der stärksten Argumente der Jugendverbände sollte die Betonung der eigenen spezifischen Bildungslogik, eines eigenen Lernklimas sein, denn »Jugendverbände [sind] aus-
serschulische politische, soziale und kulturelle Bildungsorte mit genuin eigenständigen Bildungseinflüssen, die zu biografischen Grunderfahrungen von Kindern und Jugendlichen werden können, wenn inter- und intragenerationale Bildungsprozesse ermöglicht und -welten gestaltet werden« (Hafeneger 2004, S.11).
Vor diesem Hintergrund untersucht das Praxisforschungsprojekt »Jugendverbände, Kompetenzentwicklung und biografische Nachhaltigkeit« das Potenzial von Jugendverbandsarbeit bezüglich der Bedeutung für eine erfolgreiche biografische Entwicklung von (ehemaligen) Jugendverbandsmitgliedern, insbesondere mit Blick auf die Dimensionen der Kompetenzentwicklung in Jugendverbänden und der Lernort »Jugendverband« als Faktor beim Übergang in Ausbildung und Arbeit. Die folgenden Ausführungen geben einen sehr knappen Überblick über die Fragestellung, die Anlage der Studie und ihre Ergebnisse. (1)

Fragestellung und Untersuchung
Es wird davon ausgegangen, dass die Jugendverbände als Nahtstellen zwischen Jugendkultur und Erwachsenengesellschaft und Orte des Gruppenlernens sowie des intergenerationellen Lernens eine spezifische Bildungsqualität haben, die Kompetenzentwicklungsprozesse unterstützt. Vor dem Hintergrund massiver gesellschaftlicher Veränderungen ist dabei neben der allgemeinen Lebensbewältigung das Themenfeld der Übergänge in Arbeit von besonderem Interesse. Der Strukturwandel der Arbeitsgesellschaft, der hier mit dem Paradigma der Entgrenzung beschrieben wird, hat seinen Ausgangspunkt in den massiven wirtschaftlichen, technologischen und organisatorischen Veränderungs- und Rationalisierungsprozessen im Zuge verschärfter ökonomischer Konkurrenz. Entgrenzung wird dabei verstanden »als Prozess, in dem unter bestimmten historischen Bedingungen entstandene gesellschaftliche Strukturen der regulierenden Begrenzung von sozialen Vorgängen ganz oder partiell erodieren« (Gottschall/Voß 2003, S.18).
In enger Verbindung mit den Entgrenzungstendenzen der Arbeit und der Jugend stehen Entgrenzungsprozesse, was die Bildungswege und die Übergänge in Arbeit sowie das Lernen betrifft. Diese sind zunehmend von Offenheit, aber auch von Ungewissheit gekennzeichnet. So findet eine deutliche zeitliche Ausdifferenzierung statt, d.h. zum Beispiel werden Ausbildungszeiten immer länger oder mehrere Ausbildungen, unterbrochen von Zeiten der Beschäftigung o.ä. folgen aufeinander. Gleichermaßen verändern, pluralisieren und privatisieren sich die Ausbildungsformen (Praktika, vollzeitschulische Formen, duale Ausbildung, keine Ausbildung). Der Strukturwandel und die Schnelllebigkeit der Arbeitswelt bedingen rasche Veränderungen von nötigen Qualifikationen und Kompetenzen und die Anforderung zu ständigem Lernen. Die Lernorte und Lernformen und Lernzeiten sind z.B. dergestalt von Veränderungen betroffen, dass neben die traditionellen und oftmals noch linear strukturierten institutionalisierten Formen und Orte des Bildungssystems andere Lern- und Bildungsorte sowie Lernformen, etwa informelle und freizeitbezogene Konstellationen an Bedeutung gewinnen (vgl. z.B. Wahler/Tully/Preiß 2004, Kirchhöfer 2005).
Insgesamt führen die hier angedeuteten sozialstrukturellen Veränderungen für Jugendliche und junge Erwachsene zu neuen Anforderungen im Sinne alltäglicher Lebensbewältigung, da die traditionellen Gewissheiten, Modelle des Übergangs, Bildungswege und Lernformen an Verlässlichkeit verlieren. Biografische Offenheit, biografische Verläufe, biografisches Lernen und Kompetenzentwicklung rücken damit in den Fokus der subjektiven Orientierung wie entsprechend auch der Analyse. Verbunden mit den veränderten Übergängen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Arbeit und ins Erwachsenenalter gewinnt die Perspektive der Kompetenzentwicklung gegenüber Qualifikation und Wissensanhäufung an Bedeutung, aber nicht nur funktional aus der Arbeitswelt oder aus bestimmten institutionellen Bedingungen des Bildungssystems heraus, sondern vielmehr aus den Erfordernissen der biografischen Lebensbewältigung. Und damit auch nicht entlang institutioneller Verläufe und Wege, sondern entlang des biografischen Verlaufs.

Vor dem Hintergrund der bisher skizzierten Zusammenhänge von Übergängen in Arbeit junger Erwachsener unter den Bedingungen einer sich entgrenzenden Arbeitsgesellschaft und Kompetenzentwicklung bilden die Aspekte der individuellen Kompetenzentwicklung und der biografischen Nachhaltigkeit die zentralen Forschungsleitfragen unseres Praxisforschungsprojektes. In diesem Zusammenhang wurde der ›Lernort Jugendverband‹ aus der subjektiven (und retrospektiven) Sicht der Jugendlichen und jungen Erwachsenen erschlossen – geleitet von den beiden zentralen Fragen:
1. Welche Kompetenzen werden wann, wie und wo im Rahmen einer Jugendverbandsmitgliedschaft erworben bzw. weiterentwickelt?
2. Können Zusammenhänge zwischen Kompetenzentwicklung im Jugendverband und den nachschulischen biografischen Gestaltungsoptionen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen hergestellt werden?

Die Durchführung des Forschungsprojekts baute auf einem Methodenset aus einer Fragebogenerhebung und biografischen Interviews auf. Zielgruppe waren junge Erwachsene, die über einen längeren Zeitraum in einem Jugendverband waren oder sind. Der Zugang erfolgte mit Hilfe der jeweiligen Landesjugendringe verbandsübergreifend und in regionaler Verteilung in fünf Bundesländern (Bayern, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Sachsen). Mit dem Fragebogen haben wir 550 Jugendverbandsmitglieder erreicht, verteilt über das ganze heterogene Verbandsspektrum. Ausführliche biografische leitfadengestützte Interviews haben wir mit 21 Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen (18 – 31 Jahre alt) geführt, ebenfalls regional und verbandlich unterschiedlich verteilt sowie nach Geschlecht differenziert. Einige zentrale Ergebnisse seien im Folgenden zusammengefasst.

Ergebnisse
1. Wenig überraschend verweisen unsere Ergebnisse ganz deutlich darauf, dass in Jugendverbänden Lernen und Kompetenzerwerb stattfinden. Kompetenzerwerb findet vor allem im Bereich sozialer und personaler sowie verbandsspezifischer Kompetenzen statt. Kompetenzen, die in den Fragebögen und in den Interviews immer wieder genannt werden sind: Organisations- und Strukturierungsfähigkeiten, Teamfähigkeit, Umgang mit Menschen, aber auch solche eher abstrakten, aber nicht minder wichtigen »Ergebnisse« wie Selbstbewusstsein. Zwei wichtige positive Einflussfaktoren bei der Kompetenzentwicklung sind dabei die Übernahme eines Amtes oder einer Funktion sowie die Dauer der Mitgliedschaft. Weniger Einfluss auf das Lernen und den Kompetenzerwerb im Jugendverband haben solche Faktoren wie das Bildungsniveau, das Geschlecht der Jugendlichen und jungen Erwachsenen oder die inhaltliche Ausrichtung des Verbandes.

2. Jugendverbände bieten verschiedene Lernorte und Lerngelegenheiten. Verbandsübergreifend zeigt sich die Jugendverbandsgruppe (in ihren verbandsspezifischen Formen) als Ort der Gleichaltrigenkultur und die regelmäßigen Gruppentreffen als der zentrale Lernort sowie Gruppenleiterschulungen als eine zentrale Lerngelegenheit. Zudem erweisen sich der Bezug zu anderen meist älteren Bezugspersonen und Verantwortungsübernahme als wichtige Lernbedingungen. In der biografischen Bilanz wird bei vielen der von uns Befragten deutlich, dass die Lernprozesse vielfach informell stattfinden und erst im Laufe der biografischen Entwicklung reflektiert werden.

3. Jugendverbände haben eine unterstützende Wirkung beim Übergang in Arbeit oder Ausbildung. An erster Stelle werden diesbezüglich Zertifikate über das Engagement im Jugendverband, die Gespräche mit anderen Mitgliedern und der Nachweis von Qualifikationen genannt, kaum eine Rolle spielen solche Dinge wie Hilfe bei Bewerbungsunterlagen oder Bewerbungstrainings. Auf der Skala der »Institutionen«, die den Übergang in Arbeit oder Ausbildung unterstützt haben, steht der Jugendverband nach Familie und Freundeskreis an dritter Stelle, weit vor Schule und Agentur für Arbeit. Die Mitgliedschaft im Jugendverband und dort erworbene Kenntnisse und Zertifikate spielen eine wichtige Rolle bei Bewerbungen und in Bewerbungsgesprächen. Dies unterstreichen auch die Interviews, in denen zudem deutlich wird, dass die Interviewten diesen »Faustpfand« immer wieder äußerst strategisch einsetzen, er aber auch seitens Ausbildungs- und Anstellungsträgern nachgefragt wird.

4. Die Mitgliedschaft im Jugendverband wirkt biografisch nachhaltig im Sinne beruflicher Kompetenzentwicklung, aber auch im Sinne von anderen biografischen Dimensionen wie dem der Lebensbewältigung oder der Freizeitgestaltung. In den Interviews kam klar zum Ausdruck, dass berufliche Kompetenzentwicklung nicht im Vordergrund für die aktive Mitgliedschaft im Jugendverband steht, aber ein durchaus willkommenes »Nebenprodukt« ist. Und das auch in Fällen, in denen die Interviewten strikt zwischen dem Verband als Hobby einerseits und dem Job andererseits trennen. In anderen Fällen zeigen sich direkte Linien zwischen der Mitgliedschaft im Verband und der beruflichen Tätigkeit, in weiteren Fällen findet ein Überdenken berufsbiografischer Entscheidungen durch die Verbandsmitgliedschaft statt.
Die Ergebnisse verweisen insgesamt auf die Bedeutung der Übergänge in Arbeit für Jugendliche und junge Erwachsene und damit auf die Notwendigkeit der Thematisierung dieses Zusammenhangs im Rahmen von Jugendverbandsarbeit. Sind Ausbildungs- und Beschäftigungsfragen ein Thema für die Jugendverbände oder sind die Verbände gerade ein Schon- und Experimentierfeld der Emanzipation und persönlichkeitsbezogenen Bildung jenseits Kompetenz- und Verwertungsorientierung in Richtung Arbeitswelt? Hier bedarf es auch weiterer empirischer Untersuchungen zu jungen Erwachsenen im Lebens- und Lernort Jugendverband mit Blick auf Übergänge in Arbeit aus der Sicht der Verbände selbst sowie aus der Sicht anderer institutioneller Akteure. Mit Blick auf den Umstand, dass wir mit unserem Zugang mehrheitlich engagierte Jugendliche und junge Erwachsene mit meist mehrjährigen Verbandsmitgliedschaften und vergleichsweise hohem Bildungsniveau erreicht haben, stellt sich die Frage, ob auch Jugendliche und junge Erwachsene mit anderen Bildungsvoraussetzungen und anderer Herkunft, etwa mit Migrationshintergrund oder aus sozial benachteiligten Verhältnissen, Zugang haben zu den offensichtlich kompetenzwirksamen Jugendverbandsstrukturen.




Anmerkung:
(1) Die Studie wurde vom Institut für Regionale Innovation und Sozialforschung e.V. Dresden in Zusammenarbeit dem Institut für Sozialpädagogik, Sozialarbeit und Wohlfahrtswissenschaften der TU Dresden sowie dem Kinder- und Jugendring Sachsen e.V. durchgeführt und von der Stiftung Jugendmarke sowie aus Mitteln des BMWA und des ESF gefördert. Die Studie lief von April 2004 - März 2006, aktuell wird der Endbericht erstellt.


Literatur
• Faulde, J.: Jugendverbände: Auslauf- oder Zukunftsmodell? Verbandliche Jugendarbeit zwischen Tradition und Moderne.
In: Neue Praxis, 2003, Heft 5, S. 422-446
• Gängler, H.: Bildung, Ganztagsschule und Bürgergesellschaft. Jugendverbände – ein Zukunftsmodell?! Entdeckungen beim Betrachten von Dinosauriern. In: Sozial Extra 7/8 2004, S. 6-8
• Gottschall, Karin/ Voß, G. Günter: Entgrenzung von Arbeit und Leben. Zur Einleitung. in: dies. (Hg.): Entgrenzung von Arbeit und Leben. Zum Wandel der Beziehung von Erwerbstätigkeit und Privatsphäre im Alltag. München/Mering 2003: 11-33.
• Hafeneger, B.: »Die beschwerliche Reise« Jugendverbände im Spannungsfeld von Tradition, erster und zweiter Moderne.
In: Sozial Extra 7/8 2004, S. 9-12
• Kirchhöfer, D.: Grenzen der Entgrenzung. Lernkultur in der Veränderung. Frankfurt a.M. 2005
• Rauschenbach u.a.: Non-formale und informelle Bildung im
Kindes- und Jugendalter. Konzeptionelle Grundlagen für einen Nationalen Bildungsbericht. Berlin 2004.
• Wahler, P./Tully, C.J./Preiß, Ch.: Jugendliche in neuen Lernwelten. Selbstorganisierte Bildung jenseits institutioneller Qualifizierung. Wiesbaden 2004.