Heft 2-2008, Rubrik Vielfältige Jugendarbeit
Wie viel Zeit muss sein?
Auswirkungen des Turbo-Abis und der Turbo-Uni auf das Engagement Jugendlicher
»Ich habe keine Zeit mehr«. Das hören Jugendorganisationen und Vereine in letzter Zeit immer öfter. Werden sich Jugendliche aufgrund des offenbar erhöhten Drucks durch das Turbo-Abi und die Turbo-Uni in Zukunft weniger engagieren? Wie viel Zeit muss (dafür noch) sein? Und welche Strategien zur Förderung des Engagements sind besonders vielversprechend? Diese Fragestellungen diskutierte die Grüne Bundestagsfraktion im Rahmen eines Fachgesprächs am 26. Mai 2008 in Berlin. »Im Moment können wir nur intelligent und informiert spekulieren, wie sich das Turbo-Abi und die Turbo-Uni auf das Engagement Jugendlicher auswirkt, denn wir haben noch keine eindeutigen empirischen Befunde«, betonte Sibylle Picot, die als selbstständige Sozialforscherin sowohl am Freiwilligensurvey 2004 als auch an der Shell-Jugendstudie 2006 mitgewirkt hat. In den letzten Jahren war die Gruppe der Gymnasiasten und Studierenden jedenfalls besonders stark engagiert: Mehr als ein Drittel aller 14- bis 25-jährigen Jugendlichen leistete bürgerschaftliches Engagement, so die Zahlen des letzten Freiwilligensurvey 2004.
Durch die neuen bildungspolitischen Reformen – die Einführung des achtjährigen Gymnasiums (G8) auf der einen Seite und der Bachelor-Master-Studiengänge auf der anderen Seite – erhöht sich nun offenbar der Druck auf die Schülerinnen, Schüler und Studierenden, einer Generation, die schon die letzte Shell Jugendstudie 2006, als »pragmatische Generation unter Druck« bezeichnet hat. Dies wird beispielsweise daran deutlich, dass sich die Inanspruchnahme von psychologischen Beratungsdiensten an den Universitäten mancherorts in den letzten Jahren verdoppelt hat.
»Allerdings kann und soll es nicht darum gehen, die richtigen Reformen zur Schul- und Studienzeitverkürzung zurückzudrehen, sondern schüler- und studierendengerecht zu gestalten. Es braucht neue Zeitarrangements und bessere Rahmenbedingungen«, wie Kai Gehring, MdB von Bündnis 90 / Die Grünen, in seinem Eingangstatement herausstellte. Wichtig sei es, die Diskussion über G8 und Bologna zu nutzen, um neue Handlungsstrategien zu entwickeln, wie das bürgerschaftliche Engagement an den Schulen und Universitäten institutionalisiert und in den Lernalltag integriert werden kann. Dies könne dann auch neue Impulse für diejenigen setzten, die im Moment weniger bürgerschaftlich engagiert sind – wie bildungsferne und arme Jugendliche. Deren Integration bleibt – unabhängig von der akuten Fragestellung – die größte engagementpolitische Herausforderung und gehört auf der Agenda nach ganz oben.
In einem ersten thematischen Block des Fachgesprächs wurde zunächst eine Bestandsaufnahme über die neue Lebens- und Lernwelt der Jugendlichen vorgenommen. Dazu trug Sibylle Picot die Ergebnisse der Shell-Jugendstudie sowie des Freiwilligensurvey vor, und Lee Hielscher (Landeschülervertretung Berlin) berichtete aus dem neuen G8-Schullalltag. Kai Gehring erörterte Auswirkungen der Bologna-Studienstrukturreform, und Thomas Kegel (Akademie für Ehrenamtlichkeit) stellte neue Engagementformen in der Schule und Hochschule vor. Anschließend diskutierten alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer neue Handlungsstrategien zur Stärkung des Engagements Jugendlicher.
36-Stunden Woche an der Schule Auf 36 Wochenunterrichtsstunden kommt inzwischen eine Achtklässerin – ohne Hausaufgaben und Lernen. »Da ist für Engagement oft einfach kein Platz mehr«, so die skeptische Einschätzung Lee Hielschers. Dabei sei die Jugendphase die wichtigste, um sich mit zivilgesellschaftlichem Engagement zu befassen, Demokratie zu üben und seine Lebensumwelt in Frage zu stellen. Leider fehle es auch an echten Formen der Mitbestimmung: »Oftmals ist unklar, inwieweit mein Engagement tatsächlich etwas im Schulalltag verändern kann und man ist am Ende frustriert, wenn man in der Schulkonferenz überstimmt wird«, schilderte Hielscher seine Erfahrungen. Außerdem wachse mit der Bildungsverdichtung auch der Druck auf die Lehrer, die oftmals wieder zum altbewährten Frontalunterricht griffen, anstatt diskursiv und projektbezogen zu unterrichten.
Service Learning & Civic Education: Lernen und bürgerschaftliches Engagement im Unterricht Gleichwohl gibt es auch erfolgreiche Beispiele, wie die Integration des bürgerschaftlichen Engagements in den Schulalltag gelingen kann. Als Schlüssel sieht Thomas Kegel, Projektleiter Akademie für Ehrenamtlichkeit, dabei das sogenannte Service Learning und Civic Education: Hier engagieren sich Schülerinnen und Schüler für Themen in ihrer Schule oder ihrem sozialen Umfeld – gemeinsam mit Lehrern und außerschulischen Partnern. So kooperierte zum Beispiel ein Gymnasium in Großengottern (Thüringen) mit dem dort ansässigen Nationalpark: »Hier wurde der Biologieunterricht um eine Engagement-Komponente erweitert und alle profitieren davon«, so Kegel.
Hochschulen: Zeitliche Verdichtung und neue integrierte Modelle Service-Learning kann auch in der Universität funktionieren, wie das Projekt UNIAKTIV an der Universität Duisburg-Essen zeigt. Dabei entwerfen Studierende zum Beispiel PR-Konzepte für ein Jugendzentrum oder die Philharmonie Essen. Der Vorteil ist: Die Studierenden verlassen den Lernraum Hochschule, wenden ihr Fachwissen praktisch an und engagieren sich für die Gesellschaft. Neben diesen neuen positiven integrierten Modellen sind aber auch Schattenseiten bei der Bachelor-Einführung an den Hochschulen sichtbar, wie Kai Gehring skizzierte: Zum einen wurden oftmals einfach die Inhalte der alten, längeren Magister- bzw. Diplomstudiengänge auf den Bachelor übertragen. Zum anderen sind für den Bachelor-Abschluss in Deutschland nahezu flächendeckend nur sechs Semester Regelstudienzeit eingeplant. Die Folge: Studieninhalte sind stark verdichtet, die Prüfungsfrequenz hoch, Mobilitätsfenster für Auslandssemester und Praktika fehlen. Abhilfe könnte dabei ein Bachelorangebot mit sieben Semestern schaffen, wie Kai Gehring betonte. Denn »Studierende brauchen dringend mehr Freiräume und Flexibilität«, so seine Forderung. Die Ziele des Bologna-Prozesses – wie höhere Mobilität, bessere Vergleichbarkeit und geringere Abbrecherquote – blieben richtig, daher dürfte deren Akzeptanz nicht durch »Verschulen, Verdichten, Umbenennen« gefährdet werden.
Freiräume erhalten und neu schaffen Wie Freiräume bestmöglich gestaltet und erhalten werden können, war ebenfalls Gegenstand der Debatte. Dabei waren sich alle Beteiligten einig, dass Freiräume in einem umfassenden Kontext zu verstehen sind. Zunächst gehe es dabei um tatsächliche Räume, in denen sich zum Beispiel Schülerinnen und Schüler in ihren Freistunden aufhalten können. Denn durch G8 sind die Gymnasien zu »de-facto-Ganztagsschulen« geworden, ohne dass sie die personellen, organisatorischen und baulichen Vorraussetzungen dafür hätten. Durch eine Entfrachtung der Lehrpläne können neue zeitliche Freiräume erreicht werden Außerdem müsse es darum gehen, bestehende Freiräume zu erhalten, weil gerade diese Freiräume jenseits staatlicher Institutionen essentiell für die Entfaltung des »klassischen« bürgerschaftlichen Engagements in der Gesellschaft seien, wie Gregor Best, Vorsitzender des Landesjugendringes Hamburg, in der Diskussion herausstellte. Funktionierende Strukturen wie Jugendverbände, die ehrenamtliches Engagement ermöglichen und fördern, drohen zu erodieren, so Gregor Best weiter, »wenn junge Menschen durch anderweitigen Zeitdruck wegbleiben müssen.« Daher reiche es seiner Meinung nach nicht, mehr Chancen für Partizipation und Engagement innerhalb der Institutionen Schule und Uni zu fordern. Ebenso notwendig sei es, die Rahmenbedingungen für ein freies und vor allem selbst gewähltes bürgerschaftliches Engagement junger Menschen zu stärken.
Neben den zeitlichen Freiräumen sind aber auch materielle Freiräume (z.B. durch Ausbildungsförderung) wichtig, die helfen können, Druck von den Jugendlichen zu nehmen. Dazu erläuterte Sibylle Picot, dass sich die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die neben der Schule jobben zwischen 1999 und 2004 verdoppelt hat. Dies zeigt auch: Die aktuelle Jugendgeneration ist vor allem damit beschäftigt, konkrete Probleme zu lösen und ihren Platz in der Gesellschaft zu erlangen. »Mit dem Platz in der Gesellschaft ist vor allem der Arbeitsplatz gemeint, und dieser ist leider nur ökonomisch definiert«, so Sibylle Picot. Hier könnte eine neue Anerkennungskultur, die das bürgerschaftliche Engagement Jugendlicher auch stärker in die Öffentlichkeit rückt, für Entlastung sorgen und insbesondere benachteiligten Jugendlichen neue Integrationsmöglichkeiten geben. Gerade wenn man auch bedenkt, dass nach einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung das jugendliche Engagement von zwei Drittel aller Erwachsenen als niedrig oder sehr niedrig eingestuft wird.
Anerkennungskultur und Partizipationsformen etablieren Neue Anerkennungsformate gibt es bereits. Sie orientieren sich daran, dass Jugendliche durch das Bürgerschaftliche Engagement auch bestimmte Dinge lernen: So werden bei dem Projekt UniAktiv Credit Points, die im Studium angerechnet werden können für Service-Learning-Projekte vergeben. Der Berliner Freiwilligen-Pass bescheinigt das Engagement junger Menschen für Bewerbungen. Dieses kann sicherlich motivierend wirken. »Allerdings«, betonte Malte Spitz, Mitglied des Bundesvorstandes von Bündnis 90 / Die Grünen, »müssen wir auch aufpassen, dass das zivilgesellschaftliches Engagement nicht nur stromlinienförmig gefördert wird. Nach dem Motto: Welches Engagement hätten wir gerne?« Genauso wichtig sei es auch, eine emanzipatorische Jugendkultur zu stärken.
Im Moment lässt sich kein gesellschaftlicher Gestaltungsauftrag der Jugendgeneration erkennen: Weder fällt sie durch eine besondere Null-Bock-Haltung noch durch eine bestimmte Protesthaltung auf. Vielmehr lässt sich auch im Engagement die Tendenz feststellen, eher einer persönlich befriedigenden Aktivität im eigenen Umfeld nachzugehen. Es ist nicht unbedingt problematisch, dass sich derzeit keine neue Jugendbewegung bildet, allerdings braucht gerade die Demokratie kontinuierlich Nachwuchs, wie Kai Gehring, feststellte. Zur Zeit schneiden die politischen Parteien als Engagement-Orte besonders schlecht ab: Nur 2 % Prozent der Jugendlichen sind dort aktiv. Hier zeigt sich die besondere Schwierigkeit, dass gerade politisches Engagement von stetigem Mitmachen lebt und viel Zeit kostet. Engagierte ehrenamtliche Politikerinnen und Politiker kommen manchmal durch Veranstaltungen und Termine auf eine 60 Stunden-Woche. Besonders langatmige Sitzungen sind für Jugendliche, jedoch eher uninteressant. Sie interessieren sich stärker für kurzfristige Projekte mit absehbarem Erfolg. Hier gilt es auch für Parteien und Verbände neue zeitgemäße und niedrigschwellige Formen des Engagements zu entwickeln und die Jugendlichen stärker dort abzuholen, wo sie bereits aktiv sind: in ihrem Kiez, im Sportverein der Schule. Dazu braucht es feste Ansprechpartner direkt vor Ort: wie Freiwilligenkoordinatoren und -agenturen. Allerdings muss dabei immer auch die Partizipation gefördert werden, denn niemand engagiert sich gerne für eine Sache, über die er nicht wenigstens zum Teil mitbestimmen darf.
Ingesamt zeigte sich, dass die Förderung jugendlichen Engagements nur mit einem breiten Instrumentenmix erfolgreich sein kann. Ein Instrument ist Zeitpolitik: Das heißt, im Studium Freiräume für Praktika, studentische Nebenjobs und Auslandssemester zu schaffen. In der Schule ist die Umsetzung einer rhythmisierten Ganztagsschule, welche die Grünen seit langem fordern, überfällig. Damit gäbe es auch dort mehr Freiräume, um sich beispielsweise noch stärker für Organisationen und Verbände zu öffnen. Nicht zuletzt muss das jugendliche Engagement auch breiter in der Öffentlichkeit gewürdigt und wertgeschätzt werden. Auf diese Weise kann es gelingen, Jugendliche weiterhin für das bürgerschaftliche Engagement zu gewinnen und zu begeistern.
(Bericht aus der
bündnisgrünen Bundestagsfraktion: Tobias Kemnitzer, Referent für demografische Entwicklung)
Info: Kai Gehring, MdB von Bündnis 90 / Die Grünen