Von Dr. Wolfgang Hammer, Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz
Aktuelle Meilensteine
Die aktuelle Debatte über die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz hat ihre Dynamik und Qualität verändert. Nachdem die Kinderkommission des Deutschen Bundestages ein einstimmiges Votum zur Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz in den Bundestag eingebracht hat, ist es zur Zeit noch nicht erkennbar, dass eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundesrat und im Bundestag zustande käme.
Der Druck auf den Verfassungsgeber wird jedoch größer. Zum einen wächst der Druck der Argumente für eine solche Verfassungsänderung bei den Fachleuten und Verfassungsrechtsexperten. Dies liegt daran, dass eine Reihe von Argumenten gegen die Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung einer ernsthaften Prüfung unterzogen wurde und bei einer nüchternen Saldierung deutlich mehr Argumente für die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz sprechen als dagegen.
Mit der Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland in beiden Kammern zur EU-Grundrechtscharta sind in dem neuen Artikel 24 zudem weitgehende Kinderrechte verankert worden. Danach haben Kinder einen Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig sind. Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.
Damit sind auf europäischer Ebene sowohl die Schutzrechte der Kinder als auch deren Förderungsrechte verankert. Dies bezieht sich sowohl auf das Verhältnis der Kinder zu ihren Eltern als auch auf das Verhältnis der Kinder gegenüber der staatlichen Gemeinschaft. Beachtenswert ist auch der Beschluss der Deutschen Jugend- und Familienministerkonferenz vom 29./30.5.2008, aus dem zwar hervorgeht, dass Wirkung und Bedeutung einer Grundgesetzänderung von den Ländern unterschiedlich bewertet werden, dass aber die Ministerkonferenz sich weiterhin für die Stärkung von Schutz-, Förderungs- und Mitwirkungsrechten für Kinder auf allen geeigneten Ebenen einsetzt. Dies schließt ausdrücklich für den Kinderschutz auch das Grundgesetz ein. Dieser mit Zustimmung aller Länder unter maßgeblicher Mitwirkung Hamburgs erarbeitete Beschlussvorschlag baut eine Brücke zwischen den Skeptikern und Befürwortern und vereinigt sie in dem Willen, dass Kinderrechte sich vor allem im Alltag bewähren müssen.
Weder dürfen sich die Befürworter von Kinderrechten im Grundgesetz mit diesem Schritt begnügen, sondern werden kritischer als bisher in ihren politischen Leistungen für Kinder und Jugendliche an diesem Anspruch gemessen werden; noch dürfen die Kritiker einer solchen Verfassungsänderung es sich so leicht machen, die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz als reine Symbolpolitik zu kritisieren. Mit der Aufnahme von Kinderrechten in die UN-Grundrechts-charta dürfte es den Kritikern im Bundestag und im Bundesrat recht schwer fallen, ihre Zustimmung zur europäischen Verfassung zu begründen und die Aufnahme der Kinderrechte im deutschen Grundgesetz abzulehnen. Gemessen aber wird die Politik ohne Zweifel daran, in welcher Weise die Rechte der Kinder auf Schutz, Förderung und Beteiligung ihre Alltagsbewährung in der Politik von Bund, Ländern und Gemeinden finden. Es bleibt bei der so oft zitierten Wahrheit Erich Kästners: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!
Widersprüche und Lücken bei der Rechtsstellung von Kindern und Jugendlichen in der Verfassung und im materiellen Recht
Eine wesentliche Grundannahme für die Forderung nach Kinderrechten im Alltag und in der Verfassung begründet sich dadurch, dass Kinder im Gegensatz zu Erwachsenen zwar gleichwertig aber nicht gleichartig sind. Diese mangelnde Gleichartigkeit liegt vor allem daran, dass Kinder erst mit zunehmendem Alter in der Lage sind, ihr Recht auf Entfaltung und Freiheit ohne Schutz und Unterstützung wahrzunehmen.
Die altersgemäße Abhängigkeit von den eigenen Eltern und der staatlichen Gemeinschaft je nach Altersstand sowie individueller und sozialer Situation bedingt sehr unterschiedliche Ausprägungen des Schutzes, der Förderung und der Beteiligung.
– Je jünger ein Kind ist, desto stärker ist es bei Überforderung oder Versagen der eigenen Eltern abhängig von den Schutzleistungen der staatlichen Gemeinschaft.
– Von Geburt an bis zur Volljährigkeit ist jedes Kind und jeder Jugendliche abhängig von der Förderung, die insbesondere die Unterstützung des Rechtes auf Bildung beinhaltet.
– Mit zunehmendem Alter ist Kindern und Jugendlichen eine weitergehende Freiheit für eigene Entscheidungen und wirkungsvolle Beteiligung an sie betreffenden Entscheidungen und Planungen sicherzustellen.
In allen drei Bereichen gibt es unzureichende Ausgestaltungen – sowohl normativer als auch faktischer Art.
Schutzauftrag und Wächteramt
Nach Artikel 6 GG hat jede Mutter den Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft. Bei dieser Grundrechtsausgestaltung fehlt nicht nur der Anspruch der Väter auf eine entsprechende Unterstützung, sondern insbesondere ein eigener Anspruch für die Kinder. Ein Kind ist zweifelsohne schutzbedürftiger als seine Mutter. An einer solchen Stelle im Grundgesetz merkt man, dass in diesem Fall im wahrsten Sinne des Wortes die Väter des Grundgesetzes für den Schutz und die Fürsorge der Kinder die Frauen ausgesucht haben, sodass deshalb auch nur diesen der besondere Schutz und die Fürsorge des Staates als Grundrecht zuteil werden musste, um sicherzustellen, dass diese ihren Auftrag, nämlich die Kinder zu schützen und zu fördern, erfüllen. Ein möglicher Konflikt zwischen Eltern und Kindern wurde zwar mit dem staatlichen Wächteramt der staatlichen Gemeinschaft übertragen, rechtlich ausgestaltet findet er sich aber nur im Kinder- und Jugendhilferecht wieder, sodass der darin zum Ausdruck kommende Schutzauftrag in seiner kommunalpolitischen Umsetzung immer davon abhängt, ob und in welcher Weise und wie qualifiziert ein Jugendamt bei Überforderung von Eltern diesen Schutzauftrag wahrnimmt.
Die staatliche Gemeinschaft ist aber mehr als nur das Jugendamt, das ja glücklicherweise noch nicht in die Rolle gedrängt wurde, sämtliche Familien in ihrem Erziehungsgeschehen zu überwachen, um festzustellen, ob die Eltern ihrem Erziehungsauftrag auch nachkommen, ohne ihre Kinder zu gefährden.
Kinder als eigenständige Rechtssubjekte
Die zunehmende Verselbstständigung von Minderjährigen als freie Persönlichkeit findet im materiellen Recht ihren Ausdruck in der Religionsmündigkeit ab 14 Jahren. Hier dürfen selbst Eltern nicht in die Freiheit der Entscheidung ihrer Kinder eingreifen. Die gleichen 14jährigen sind jedoch nicht berechtigt, einen Antrag auf Hilfe zur Erziehung zu stellen. Eine rechtliche Subjektstellung von Eltern und Kindern müsste deshalb durch eine entsprechende Aufname von eigenständigen Schutz- und Förderrechten im Grundgesetz sichergestellt werden, um seine materielle Ausprägung in einer Änderung des Kinder- und Jugendhilferechtes zu erfahren, nach der nicht nur Eltern sondern auch Jugendliche berechtigt sind, einen Antrag auf Hilfe zur Erziehung zu stellen.
Das Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit ist insbesondere bei kleinen Kindern mit der Notwendigkeit von Freiräumen verbunden, zu denen auch das geschützte Ausprobieren von Motorik und Stimme gehören. Die dabei entstehenden Geräusche, gemeinhin als Kinderlärm bezeichnet, sind somit ein Wesensmerkmal eines Entfaltungsprozesses von Kindern, der bei entsprechender rechtlicher Verankerung im Grundgesetz unter dem besonderen Schutz und der Förderverpflichtung der staatlichen Gemeinschaft stehen müsste. Wenn sich heutzutage aber Kinderlärm in Lärmschutzverordnungen mit Straßenlärm und Industrielärm konkurrierend behaupten muss, und Orte wo Kinder Lärm entfalten, ständig in der Gefahr stehen, durch Klagen aus der Nachbarschaft in ihrer Existenz gefährdet zu werden, dann ist das ein Ausdruck der Tatsache, dass die Rechte auf Schutz und Förderung von Kindern im Grundgesetz nicht ausreichend stark als eigenständiges Recht ausgeprägt sind.
Immer dann, wenn es um die Rechte von Mädchen geht, genau wie erwachsene Frauen ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit, Gleichberechtigung und gesellschaftliche Teilhabe verwirklichen zu wollen, stoßen Mädchen mit patriarchalischen Familienhintergründen häufig auf unüberwindbare Hindernisse. Stichworte wie Genitalverstümmelung, von der Mädchen vor Eintritt in die Schule bis zum Eintritt in die Pubertät bedroht sind, Zwangsverheiratung und sogenannte Ehrenmorde markieren die besonders gravierenden Auswüchse, in denen Mädchen mit spezifischen familiären, soziokulturellen Hintergründen kaum Chancen haben, ihre Rechte wahrzunehmen. Bei der Ambivalenz zwischen Herkunftsfamilie und Freiheitsstreben sind deutsche Behörden häufig überfordert und orientieren sich oftmals viel zu lange daran, entsprechende Hilfsangebote für die Mädchen von der Zustimmung der Eltern abhängig zu machen, die gerade diejenigen sind, die diese Mädchen schlagen, bedrohen oder um ihr Leben bringen wollen.
Die Existenz von Gegengesellschaften ist in einer Demokratie nur dann möglich, wenn ein stillschweigender Konsens besteht, die Wahrnehmung von Freiheitsrechten nur denen zuteil werden zu lassen, die auf Grund ihrer bildungsmäßigen und soziokulturellen Voraussetzungen in der Lage sind, diese Rechte auch ohne Hilfe und Unterstützung wahrzunehmen. Gerade diejenigen, die um ihre Rechte kämpfen und dabei bedroht oder geschlagen werden, sind aber diejenigen, die zur Durchsetzung ihrer Rechte den starken Staat brauchen. Dieser starke Staat kann und muss sein Handeln, sowohl aus den allgemeinen Menschenrechten als auch aus den besonderen Rechten der Kinder auf Schutz und Förderung ableiten und dann zugunsten der Kinder und Jugendlichen handeln.
Beteiligungsrechte
Auch bei den Beteiligungsrechten von Kindern gibt es erheblichen Verbesserungsbedarf. Insbesondere da, wo Beteiligung elementar mit der weiteren Lebensplanung eines Kindes verbunden ist, nämlich in den Hilfen zur Erziehung, ist diese Beteiligung oftmals nur eingeschränkt realisiert. Dies gilt auch für Jugendliche, die aufgrund ihres Alters in einem erheblichen Umfang an ihrer Hilfeplanung beteiligt werden können. Die vorhandenen Kenntnisse aus den Hilfen zur Erziehung bestätigen, dass die Beteiligung sowohl von Kindern an ihrer weiteren Lebensplanung, z.B. bei der Herausnahme aus Pflegefamilien, als auch bei der Ausgestaltung stationärer Erziehungshilfen nur unzureichend Berücksichtigung findet. Auch dies ist ein Ausdruck der Tatsache, dass Kinder eben doch nicht als eigenständige Rechtssubjekte wahrgenommen werden, sondern der Glaube vorherrscht, dass entweder die Eltern oder die Fachleute schon besser wüssten, was für das Kind oder den Jugendlichen gut ist – und es oder ihn damit vom Subjekt zum Objekt der Hilfeplanung machen. Positive Ansätze der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen gibt es sowohl im Bereich der Stadtplanung als auch in den Schulen. Flächendeckende Einflussmöglichkeiten auf die Kinder bezogenen Planungen und Entscheidungen in den Kommunen sind jedoch nicht die Regel. Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem Ausbau von Ganztagsschulen zu. Hierbei stellt sich für viele Jugendliche die Frage, ob sie im Rahmen der Angebotsgestaltung an Nachmittagen ihre Aktivitäten in Jugendverbänden fortsetzen können. Hier ist gesellschaftliche Teilhabe und gesellschaftliches Engagement bereits schon Wirklichkeit.
Alter als Diskriminierungsmerkmal
Gleiches gilt für die Diskriminierung, der Kinder und alte Menschen ausgesetzt sind: Sie sind aufgrund ihres Alters nicht in der Lage, die eigene Würde, die eigene Freiheit, die körperliche Unversehrtheit und ggf. den Schutz der staatlichen Gemeinschaft einfordern oder sogar durchsetzen zu können, wenn diese ihnen verwehrt werden. Nach Artikel 3 GG darf niemand wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauung benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
Bei diesem scheinbar umfassenden Katalog fehlt aus Sicht der Kinder und alten Menschen das Verbot der Benachteiligung aufgrund des Alters. Von einer Erweiterung des Artikels 3 GG würden nicht nur Kinder mit den Chancen einer besseren materiellen rechtlichen Ausgestaltung profitieren, sondern auch alte Menschen, die in vielfältiger Weise in Institutionen ihrer Würde beraubt werden.
Förderung und Bildung
Das Recht auf Förderung im Verhältnis zum Recht auf Bildung stößt für Kinder und Jugendliche in Deutschland auf erhebliche Probleme. Der durch PISA nachgewiesene Effekt, dass in Deutschland der Bildungserfolg in besonderer Weise abhängig ist vom sozioökonomischen Status der Eltern, zeigt, dass die staatliche Gemeinschaft die Förderung gerade für diejenigen Kinder und Jugendlichen, die es am nötigsten hätten, am wenigsten realisiert hat. Bisher wurde dieses internationale Defizit vor allem als ökonomischer Wettbewerbsnachteil von Deutschland gesehen, was sicher richtig ist. Die Bildungsbenachteiligung von Kindern in Abhängigkeit vom Elternhaus ist zugleich aber auch Ausdruck einer unzureichenden Ausgestaltung eigenständiger Kinderrechte auf Förderung – mit der Auswirkung, dass in Deutschland über Jahrzehnte eine Unterstützung, Bildung und Förderung von Kindern außerhalb des Elternhauses und vor Schuleintritt durch unterstützende Leistungen der staatlichen Gemeinschaft wie in keinem anderen vergleichbaren Land verteufelt werden konnten. Das hier Handlungsbedarf gegeben ist, ist heutzutage glücklicher Weise politisch unbestritten. Das Tempo jedoch, in dem die Umsteuerung sich vollzieht, ist im Verhältnis zu internationalen Vergleichsstaaten (OECD) immer noch recht bescheiden.
Zeit zu handeln
Es ist Zeit zu handeln. Auch im Interesse der Zukunftsfähigkeit der deutschen Gesellschaft ist es notwendig, durch eine deutliche Stärkung der Kinderrechte im Grundgesetz die Ausrichtung aller Politikfelder stärker daran zu orientieren, dass Kinder besser gefördert, die Rahmenbedingungen ihrer Entfaltung besser gesichert und sie von Vernachlässigung und Gewalt besser geschützt werden. Es geht nicht nur darum, die Kinder in ihren Rechten gegenüber den Eltern zu stärken, obwohl auch das notwendig ist, sondern es geht vor allem darum, die Kinder in ihrem Schutz- und Förderanspruch gegenüber der staatlichen Gemeinschaft zu stärken, und damit den Geist des § 1 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, sich für kindgerechte Lebensbedingungen einzusetzen, auf die gesamte Gesellschaft verpflichtend zu übertragen.