Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 2-2008, Rubrik Titelthema

Subjekte ohne (eigene) Rechte

Oder: Warum Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern sind

Von Jörg Maywald, National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland

Obwohl Kinder und Jugendliche nach der gefestigten Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts von Geburt an Träger eigener Rechte und somit originäre Rechtssubjekte im Sinne unserer Verfassung sind, wurden Kinderrechte bisher nicht ausdrücklich im Grundgesetz verankert. Zahlreiche Organisationen, darunter die National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland, fordern seit langem eine entsprechende Änderung unserer Verfassung. Inzwischen hat diese Forderung auch den Deutschen Bundestag erreicht. Wenn es nach dem Willen einer großen Zahl von Bundestagsabgeordneten aller Parteien geht, darunter sämtliche Mitglieder der Kinderkommission, dann sollen die Kinderrechte ausdrücklich in das Grundgesetz aufgenommen werden. Ob jedoch die dafür notwendige Zweidrittelmehrheit erreicht werden kann, ist derzeit ungewiss.

Alte Bilder: Kinder als Noch-nicht-Menschen
Das tradierte Bild vom Kind als noch nicht vollwertiges (Rechts-)Subjekt ist weiterhin virulent, obwohl es in einer modernen und aufgeklärten Gesellschaft schwerlich noch argumentativ zu begründen wäre. Doch historisch gewachsene Vorstellungen überdauern mangels der Kritik an ihnen. Über Jahrtausende hinweg galten Kinder als noch »unerwachsene« Menschen, den Erwachsenen in jeder Hinsicht unterlegen und ihnen daher rechtlich nicht gleichgestellt. Im Verhältnis der Generationen waren die jüngsten und schwächsten Mitglieder der Gesellschaft zugleich diejenigen mit den geringsten Rechten.

Die Vorstellung, Kinder als nicht vollwertige, insofern als Noch-nicht-Menschen zu verstehen, ist heutzutage unhaltbar und wird kaum mehr ernsthaft vertreten. Eine sich modern gebende Opposition gegen Kinderrechte argumentiert demgegenüber subtiler, indem sie die zweifellos bestehenden Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen zu leugnen versucht. Kinder seien doch Menschen, die allgemeinen Menschenrechte gelten auch für Kinder, wieso bedürfe es dann eigener Kinderrechte, lautet die rhetorisch gemeinte Frage.

Demgegenüber muss eingewendet werden, dass Kinder den Erwachsenen gleichwertig, ihnen aber nicht gleich sind. Kinder dürfen nicht als kleine Erwachsene behandelt werden, weil sich Kindheit doch gerade im Unterschied zum Erwachsensein definiert. Aufgrund der Entwicklungstatsache brauchen Kinder besonderen Schutz, besondere Förderung und besondere, kindgerechte Beteiligungsformen. Die in der UN-Kinderrechtskonvention niedergelegten Rechte normieren insofern in spezifischer Weise die Achtung vor den menschlichen Grundwerten in Bezug auf Kinder: Kinderrechte sind Menschenrechte für Kinder.

Kinderrechte – ein historischer Rekurs
Wie sich Einstellung und Verhalten der Erwachsenen zu den Kindern gewandelt haben, zeigt ein Blick in die Geschichte. Die Anfänge sind voller Grauen; erst allmählich verbessert sich die Stellung der Kinder gegenüber Erwachsenen und in der Gesellschaft.

»Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem wir gerade erst erwachen«, analysiert der amerikanische Psychologe Lloyd de Mause in seiner großen Abhandlung »Hört ihr die Kinder weinen«. »Je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, desto unzureichender wird die Pflege der Kinder, die Fürsorge für sie, und desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder getötet, ausgesetzt, geschlagen, gequält und sexuell missbraucht wurden. (...) Bei antiken Autoren (gibt es) hunderte von eindeutigen Hinweisen darauf, dass das Umbringen von Kindern eine allgemein akzeptierte alltägliche Erscheinung war. Kinder wurden in Flüsse geworfen, in Misthaufen und Jauchegräben geschleudert, in Gefäßen eingemacht, um sie darin verhungern zu lassen, auf Bergen und an Wegrändern ausgesetzt als Beute für Vögel, Futter für wilde Tiere, die sie zerreißen würden« (Lloyd de Mause 1977, S. 12 und 46).

Auch wenn Eltern in der Antike durchaus zu Mitgefühl fähig und ihnen die Kinder nicht gleichgültig waren, ist doch festzustellen, dass Kinder lange Zeit nicht als vollwertige Menschen galten. Bezeichnend ist, dass das griechische und lateinische Wort für Kind (»pais« bzw. »puer«) zugleich auch »Sklave« und »Diener« bedeutet. Im patriarchalischen römischen Recht lag es in der Hand des Vaters, ein neu geborenes Kind anzunehmen oder dem Tode auszusetzen (ius vitae et necis).

Tief greifende Veränderungen in unserem Kulturkreis setzten mit dem Aufkommen des Christentums ein. Es ist wohl kein Zufall, dass es erst eines Massenmordes an Kindern durch den römischen Statthalter Herodes bedurfte, um das Bild vom Kind nachhaltig zu verändern und Kinder anzuerkennen als den Erwachsenen zumindest vor Gott gleichgestellte Menschen. In Folge der sich allmählich durchsetzenden christlichen Fürsorgepflicht (Caritas) wurden Kindesaussetzungen verboten und erste Kinderschutzeinrichtungen gegründet. 787 nach Christus öffnete in Mailand das erste Asyl für ausgesetzte Kinder.
Im Zuge der Aufklärung wandelte sich das Bild vom Kind erneut. Zu der Anerkennung des eigenständigen Lebensrechts des Kindes trat die Auffassung hinzu, dass Kinder einer besonderen Förderung bedürfen. Die Kindheit als »Erfindung der Moderne« (Philippe Ariès) – als Lebensabschnitt mit eigenen Bedürfnissen – wurde geboren. Der Kindergarten und die Schule kamen als Orte der Erziehung zur Familie hinzu. Im 18., vor allem aber im 19. Jahrhundert wurden erstmals Arbeitsschutz- und Misshandlungsverbotsgesetze erlassen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde dann eine Bewegung allmählich stärker, die umfassende Rechte für Kinder verlangte. Den Auftakt hierzu bildete die schwedische Pädagogin und Frauenrechtlerin Ellen Key, die in ihrem im Jahr 1900 erschienenen Buch »Das Jahrhundert des Kindes« u.a. ein Recht jedes Kindes auf körperliche Unversehrtheit und gleiche Rechte für eheliche und uneheliche Kinder forderte.

In den 1920er Jahren proklamierte der polnische Kinderarzt und Pädagoge Janusz Korczak in seiner »Magna Charta Libertatis« ein Recht jedes Kindes auf unbedingte Achtung seiner Persönlichkeit als Grundlage sämtlicher Kinderrechte. Als Leiter eines jüdischen Waisenhauses in Warschau forderte er umfassende Beteiligungsrechte für Kinder und überwand damit die Vorstellung einer allein von Schutz und Förderung geprägten Sichtweise zu Gunsten eines Bildes vom Kind, das von Gleichwertigkeit und Respekt geprägt wird. »Das Kind wird nicht erst ein Mensch, es ist schon einer«, lautete die Quintessenz seiner der damaligen Zeit weit vorauseilenden Anschauung.

Auf der internationalen Ebene wurden Kinderrechte erstmals in der so genannten »Geneva Declaration« von 1924 verkündet. Dieses Fünf-Punkte-Programm – entstanden vor dem Hintergrund massenhaften Kinderelends im Ersten Weltkrieg – war von der »International Union for Child Welfare« entworfen und vom Völkerbund anerkannt worden. 1948 wurden die Beratungen fortgesetzt. Der in zehn Artikeln überarbeitete und erweiterte Text wurde schließlich am 20. November 1959 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen als »Deklaration über die Rechte des Kindes« einstimmig verabschiedet.

Auf der Grundlage einer polnischen Initiative anlässlich des Internationalen Jahres des Kindes 1979 wurde eine Arbeitsgruppe der Menschenrechtskonvention bei den Vereinten Nationen beauftragt, eine Konvention über die Rechte des Kindes zu erarbeiten, die für die unterzeichnenden Staaten völkerrechtlich im Vergleich zu der Deklaration eine größere Verbindlichkeit beinhalten sollte. Seit 1983 hatte sich auch eine Arbeitsgruppe nicht-staatlicher internationaler Organisationen erfolgreich darum bemüht, auf den Fortgang der Beratungen Einfluss zu nehmen.

Die umfangreiche Vorlage wurde von der Menschenrechtskonvention im März 1989 verabschiedet. Der Rat für Wirtschaft und Soziales der Vereinten Nationen (ECOSOC) stimmte im Mai 1989 dem Entwurf zu. Am 20. November 1989 wurde dann in der 44. Vollversammlung der Vereinten Nationen die Konvention über die Rechte des Kindes einstimmig verabschiedet. Das Übereinkommen ist insofern einmalig, als es die bisher größte Bandbreite fundamentaler Menschenrechte – ökonomische, soziale, kulturelle, zivile und politische – in einem einzigen Vertragswerk zusammenbindet. Die in den 54 Artikeln dargelegten völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandards haben zum Ziel, weltweit die Würde, das Überleben und die Entwicklung von Kindern (bis 18 Jahren) und damit von mehr als der Hälfte der Weltbevölkerung sicherzustellen. Bis heute haben 193 Staaten die Konvention ratifiziert, lediglich Somalia und die USA gehören nicht dazu.

Der erste Anstoß: Grundgesetzergänzung als Staatenverpflichtung
Seit dem 5. April 1992 ist die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 geltendes Recht in Deutschland. Gemäß Artikel 4 der Konvention hat Deutschland als Vertragsstaat die Verpflichtung übernommen, »alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zur Verwirklichung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte« zu treffen. Zu den in diesem Sinne geeigneten und notwendigen Maßnahmen zählt auch die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz. Entsprechend hat der Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte des Kindes die Bundesregierung mehrmals aufgefordert, die Aufnahme der Rechte des Kindes nach der UN-Kinderrechtskonvention in das Grundgesetz vorzunehmen.

Der zweite Anstoß: Vorgaben des Europarechts
Was die UN-Kinderrechtskonvention als völkerrechtliche Vorgabe formuliert, hat bereits Eingang in das europäische Recht gefunden. Mit Zustimmung Deutschlands sind die Kinderrechte ausdrücklich in die am 7.12.2000 verabschiedete Charta der Grundrechte der Europäischen Union aufgenommen worden.

Artikel 24 (Rechte des Kindes) der EU-Grundrechte-Charta lautet:
»(1) Kinder haben Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig sind. Sie können ihre Meinung frei äußern. Ihre Meinung wird in den Angelegenheiten, die sie betreffen, in einer ihrem Alter und ihrem Reifegrad entsprechenden Weise berücksichtigt.
(2) Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.
(3) Jedes Kind hat Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen, es sei denn, dies steht seinem Wohl entgegen.«

Deutschland steht somit in der Verantwortung, die in der EU-Grundrechte-Charta niedergelegten Grundrechte des Kindes aktiv umzusetzen. Der aus der UN-Kinderrechtskonvention dort ausdrücklich aufgenommene Vorrang des Kindeswohls bietet eine zusätzliche Begründung für eine Ergänzung des Grundgesetzes.

Das Kind als Rechtssubjekt und der Vorrang des Kindeswohls
Die Präambel der UN-Kinderrechtskonvention betrachtet Kinder als gleichwertige und gleichberechtigte Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft mit der allen Menschen innewohnenden Würde und der Gleichheit und Unveräußerlichkeit ihrer Rechte. Aufgrund der Entwicklungstatsache wird Kindern zugleich ein Anspruch auf besondere Fürsorge und Unterstützung zuerkannt. Damit zielt die Konvention auf ein Bild des Kindes, dem die grundsätzliche Anerkennung als eigenständige Persönlichkeit mit eigener Würde und dem Anspruch auf Anerkennung seiner Individualität zugrunde liegt. Die Konvention erkennt damit eine Subjektstellung des Kindes an. Als Kind bezeichnet die Konvention (Artikel 1) jeden jungen Menschen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres.

In der Subjektstellung des Kindes ist veranlagt, dass die Unverwechselbarkeit jedes jungen Menschen zu achten und ein eigenständiges Recht zur Entfaltung seiner Persönlichkeit zu gewährleisten ist. Dabei ist zu ergänzen, dass dies für den heranwachsenden Menschen als sich entwickelndes Wesen ein Recht auf Entwicklung bedeutet, das zunehmende Verantwortung für sich selbst einschließt, wie es auch in Artikel 6 Absatz 2 der UN-Kinderrechtskonvention geregelt ist. Das in Artikel 12 Absatz 1 UN-Kinderrechtskonvention kodifizierte Recht, sich in allen das Kind betreffenden Angelegenheiten zu äußern und seine Meinung dem Alter und seiner Reife entsprechend berücksichtigt zu finden, ist der unverzichtbare Ausdruck dieser grundlegenden Rechtsstellung als Subjekt. Diese die Würde des Kindes als Mitglied der menschlichen Gemeinschaft widerspiegelnden Rechte stützt die UN-Kinderrechtskonvention durch zahlreiche Einzelregelungen zum Schutz, zur Förderung und zur Sicherstellung der Partizipation in allen das Kind betreffenden Angelegenheiten ab.

Die Subjektstellung des Kindes wird durch Artikel 3 der UN-Kinderrechtskonvention mit einem besonderen Vorrang ausgestattet. Artikel 3 (Wohl des Kindes) der UN-Kinderrechtskonvention lautet: »Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel, ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.«

Bei diesem bereichsunabhängig formulierten Vorrang des Kindeswohls (best interest of the child) handelt es sich um unmittelbar anzuwendendes Völkerrecht. Die UN-Kinderrechtskonvention sichert auf diese Weise die Rechte des Kindes im Widerstreit mit anderen Interessen durch ein zwingendes Abwägungsgebot verfahrensrechtlich ab. Die Verpflichtung für alle staatliche Gewalt, bei allen kinderrelevanten Entscheidungen die Interessen des Kindes vorrangig zu berücksichtigen, kommt einer Staatszielbestimmung gleich, im Gesamtbereich staatlichen Handelns für kindgerechte Lebensbedingungen Sorge zu tragen.

Der status quo: Die verfassungsrechtliche Stellung des Kindes nach dem Grundgesetz
Aus den Vorgaben des übernationalen Rechts ergibt sich ein Gebot der Rechtsangleichung, soweit das nationale Recht dahinter zurück bleibt. Aufgrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist zwar rechtsgrundsätzlich anerkannt, dass das Kind »ein Wesen mit eigener Menschenwürde und einem eigenen Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit im Sinne der Artikel 1 Absatz 1 und 2 Absatz 1 Grundgesetz (GG) ist« (BVerfGE 24, 119 (144)). Auch das (unmündige) Kind ist Grundrechtsträger. Das Grundgesetz selbst bringt dies aber nicht unmittelbar zum Ausdruck. Kinder werden in dem grundlegenden Artikel 6 GG im Zusammenhang mit dem elterlichen Erziehungsrecht genannt, wonach »Pflege und Erziehung der Kinder (...) das natürliche Recht der Eltern und die ihnen zuvörderst obliegende Pflicht« sind. Die Subjektstellung des Kindes, das heißt die Anerkennung des Kindes als eigenständige Persönlichkeit, wird dabei aber nicht deutlich.
Die Subjektstellung des Kindes lässt sich daher nach dem Grundgesetz zwar durch Auslegung umschreiben. Angesichts der rechtlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit bedarf es aber unbedingter Klarstellung, auch soweit dies den objektiven Gehalt der Verfassung nicht verändert, sondern »nur« deklaratorisch wirkt.

Was fehlt: die fünf Kernelemente einer Grundgesetzergänzung
Entsprechend der Vorgaben aus dem internationalen (UN-Kinderrechtskonvention) und europäischen Recht (EU-Grundrechte-Charta) sollte die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz die folgenden Kernelemente umfassen:
– das Recht des Kindes auf Anerkennung als eigenständige Persönlichkeit;
– das Recht des Kindes auf Entwicklung und Entfaltung;
– das Recht des Kindes auf Schutz, Förderung und Beteiligung;
– den Vorrang des Kindeswohls bei allen Kinder betreffenden Entscheidungen;
– die Verpflichtung des Staates, für kindgerechte Lebensbedingungen Sorge zu tragen.

Die Folgen in der Praxis
Eine ausdrückliche verfassungsrechtliche Verankerung von Kinderrechten würde zur Folge haben, dass die Elternverantwortung bewusster an den Rechten des Kindes – seiner Subjektstellung und seinen Rechten auf Schutz, Förderung und Beteiligung – ausgerichtet wird. Dadurch würden die Interessen des Kindes in der Praxis ein höheres Maß an Anerkennung finden als dies bisher der Fall ist. So ist nach der geltenden Rechtslage (Artikel 6 Absatz 3 GG) die Grenze für die Notwendigkeit des Staates, in das Elternrecht einzugreifen, sehr weit gezogen und setzt erst dann ein, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. Das Kindeswohl kann jedoch sehr viel früher berührt sein, ohne dass es zu einer direkten Gefährdung des Kindes kommt. Würden eigene Kinderrechte in das Grundgesetz aufgenommen, würde sich bei der verfassungsrechtlichen Abwägung zwischen der Elternstellung und der Stellung der Kinder eine Veränderung der Gewichtung ergeben, mit der Folge, dass das Elternrecht nicht mehr in einer Weise wie derzeit die Belange und Interessen der Kinder dominieren könnte.

Erhielten Kinder ein grundgesetzlich verankertes Recht auf bestmögliche Förderung, würden zudem ihre Chancen steigen, eine solche Förderung auch tatsächlich einzufordern. Kinder bzw. deren Eltern als gesetzliche Vertreter hätten weitaus mehr als bisher die Möglichkeit, auf bestehende Fördermängel z. B. in Kindertageseinrichtungen und Schulen hinzuweisen und auf Abhilfe zu drängen, notfalls auf dem Wege der Klage bis hin zum Bundesverfassungsgericht. Bekämen Kinder in der Verfassung eigene Mitwirkungsrechte, müssten sie auch in Verfahren, die nicht direkt ihr körperliches, seelisches oder geistiges Wohl betreffen, berücksichtigt werden, etwa im Ausländerrecht, darüber hinaus im öffentlichen Recht wie Baurecht, bei der Gestaltung von Kindergärten, Schulen, Kinderkrankenhäusern usw.

Zu Lasten der Eltern?
Bedenken gegen eine Verfassungsänderung werden häufig unter dem Gesichtspunkt geäußert, vermehrte Kinderrechte könnten das verfassungsmäßig garantierte Elternrecht aushöhlen. Dabei werden jedoch das elterliche Abwehrrecht gegen die Einmischung des Staates und Grundrechte des Kindes unzulässig gegeneinander ausgespielt. Es bedarf einer Unterscheidung des elterlichen Abwehrrechtes gegenüber dem Staat einerseits und des so genannten Pflicht-rechtes – der Elternverantwortung – gegenüber dem Kind andererseits.

Richtig ist, dass die Aufsicht des Staates kraft des Wächteramtes nach Artikel 6 GG der Verwirklichung der Rechte des Kindes in besonderer Weise verpflichtet ist und damit Eingriffe in das Erziehungsverhalten der Eltern verbunden sein können. Auszurichten ist dies am Wohl des Kindes. Dies ist jedoch bei der Ausübung der Elternverantwortung der ebenfalls verbindliche Bezugspunkt. Auch die Elternverantwortung hat sich am Wohl des Kindes auszurichten. Daher haben elterliche Verantwortung und staatliches Wächteramt dieselbe Zielrichtung: die Verwirklichung der Rechte des Kindes als Ausdruck des Kindeswohls. Eltern und staatliche Gemeinschaft sind gleichermaßen verpflichtet, das Kindeswohl zu verwirklichen. Die gebotene Verfassungsergänzung durch Rechte des Kindes ist daher grundsätzlich ungeeignet, das elterliche Erziehungsrecht zugunsten des Staates in Frage zu stellen. Aus den Garantien des Artikels 6 GG können daher Einwände gegen die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz nicht hergeleitet werden.

Fazit
Durch die ausdrückliche Aufnahme von Kindrrechten in das Grundgesetz kommt Deutschland als Vertragsstaat der UN-Kinderrechtskonvention einer Staatenverpflichtung nach und setzt Vorgaben der EU-Grundrechte-Charta in nationales Recht um. Ein solcher Schritt ist in besonderer Weise geeignet, das allgemeine Bewusstsein für die Rechte von Kindern zu stärken und die Position des Kindes sowohl gegenüber dem Staat als auch im Konfliktfall gegenüber den eigenen Eltern zu verbessern. Die Verankerung von Kinderrechten in der Verfassung würde die elterliche Verantwortung dafür stärken, die Rechte des Kindes tatsächlich zur Geltung zu bringen und die Berücksichtigung von Kindesinteressen im politischen Raum fördern. Nicht zuletzt würde Deutschland durch die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz international dokumentieren, welchen hohen Rang auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht die Gesellschaft hierzulande dem Wohl und den Rechten der Kinder beimisst.





Literatur
Korczak, Janusz: Das Recht des Kindes auf Achtung. Göttingen 1970
Liebel, Manfred: Wozu Kinderrechte. Weinheim und München 2007
de Mause, Lloyd: Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit. Frankfurt/M. 1977
Vereinte Nationen: Übereinkommen über die Rechte des Kindes. New York 1989