Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 2-2009, Rubrik Vielfältige Jugendarbeit

Gemeinsames Lernen auf deutsch und russisch*

Von Julia Sammoray, Landesjugendwerk der AWO Hamburg, und Maren Riepe, LJR

Vom 15. bis 22. März dieses Jahres fand auf dem Stintfang der zweite Teil eines Multiplikatorenaustauschs zwischen dem zwischen dem Runden Tisch der Kinder- und Jugendverbände St. Petersburg und dem LJR Hamburg statt. Im Rahmen des Besuchs aus St. Petersburg diskutierten die Teilnehmenden u.a. Seminareinheiten einer JuLeiCa-Schulung. Dieses deutsch-russische Pilotprojekt ist ein gutes Beispiel für non-formales und informelles Lernen in Jugendverbänden.

Es ist zwar unbestritten: Jeder Mensch lernt ein Leben lang – auf unterschiedliche Weise, verschiedene Dinge und an variierenden Orten. Doch welches Wissen wird heute in Bezug auf den Bildungserfolg als sinnvoll und welches Wissen als sinnlos betrachtet? Grundsätzlich werden vorrangig die Qualifikationen, die in formalen Bildungsinstitutionen wie z.B. Schulen, Hochschulen oder Berufsschulen erworben wurden, anerkannt.

Tatsächlich finden aber 70 Prozent der Bildungsprozesse außerhalb dieser formalen Strukturen statt (Dohmen 2001: 7): also in non-formalen und informellen Kontexten. Wie sehen diese Prozesse aus? Jede/r von uns erinnert sich an Situationen, in denen er oder sie sich Kenntnisse über ein spezielles Gebiet angeeignet hat, ohne dass dies geplant gewesen wäre. Ein bestimmtes angemessenes Verhalten wurde beiläufig erlernt oder der Umgang mit einer neuen Sachlage gemeistert. Diese Beispiele unbewussten Lernens sind Teil von informellen Bildungsprozessen. Sie finden ohne die beabsichtigte Unterstützung anderer Personen und überall dort statt, wo Menschen ein anregendes Umfeld haben und in Interaktion treten. Als non-formal bezeichnet man dagegen Lernprozesse, die (geplant oder ungeplant) in nicht-formalen Lernsituationen stattfinden – also außerhalb von Schulen, Universitäten, Betrieben oder ähnlichem –, in denen der Erwerb von Fähigkeiten und Kenntnissen aber sehr wohl intendiert sein kann (also zum Beispiel in Seminaren und Schulungen).

Die vergangene internationale Maßnahme des Runden Tischs der Kinder- und Jugendverbände St. Petersburg und des LJR Hamburg ist ein gelungenes Beispiel für die Schaffung von non-formalen und informellen Lernsituationen. Non-formales Lernen fand dort durch die Teilnahme an einer gemeinsamen Juleica-Schulung statt. Zudem erlebten die Teilnehmenden unzählige Lernprozesse im Umgang mit einer anderen Kultur, Sprache und Lebenswelt. Insgesamt 20 junge Hamburger/innen und St. Petersburger/innen nahmen an der internationalen Maßnahme 2008/09 teil. Zunächst fuhren im Oktober 2008 zehn Hamburger/innen (im Alter von 17 bis 44 Jahre) in die Partnerstadt an der Newa. Dort lernten sie in einem einwöchigen Programm zahlreiche Jugendverbände, Häuser der Jugend und andere Organisationen zur Förderung von jungen Menschen kennen. Sie erfuhren, wie unterschiedlich die Rahmenbedingungen von Lern- und Lebenssituationen in Hamburg und St. Petersburg sind, wie ähnlich andererseits die Interessen und Bedürfnisse der Jugendlichen sind. Gemeinsam mit den neuen St. Petersburger Bekannten entdeck- ten sie das »Venedig des Ostens«, dessen Sehenswürdigkeiten und Kneipenkultur. Im März dieses Jahres wiederum kamen zehn St. Petersburger/innen (im Alter von 20 bis 40 Jahre) nach Hamburg. Gemeinsam mit den Hamburger/innen nahmen sie an einer deutsch-russischen Juleica-Schulung teil, die sich mit den Themen Arbeitsprinzipien zum planvollen pädagogischen Handeln (Z.I.M.T.+R. und Themenzentrierte Interaktion), Sozialisation, Gruppen und Gruppenphasen, Interaktion und Moderation, Spielepädagogik und rechtlichen Rahmenbedingungen in der Jugendarbeit befasste. Obwohl es im Vorfeld auch trotz sprachlicher Vermittlung sehr schwer war, sich über die jeweilige Ausbildung von Gruppenleitern in Jugendverbänden Hamburg und St. Petersburg auszutauschen, wurde hierbei deutlich, dass gezielte Schulungen zur Qualifizierung von Jugendleiter/innen auch in Russland statt finden. Zwar berichteten die St. Petersburger abhängig von ihrem jeweiligen Verband von sehr unterschiedlichen Strukturen und Rahmenbedingungen. Insgesamt wurde jedoch deutlich, dass uns im Rahmen der Jugendverbandsarbeit in Deutschland und Russland ganz ähnliche Fragen und Problemstellungen begegnen.

In der Bildungsdebatte wird heute immer wieder die Bedeutung von so genannten Schlüsselkompetenzen oder auch Schlüsselqualifikationen hervorgehoben. Was ist damit gemeint? Schlüsselkompetenzen umfassen alle überfachlichen Kenntnisse, die zum Handeln befähigen. Sie setzen sich aus einem breiten Spektrum übergreifender Eignungen zusammen und sind somit kein Fachwissen, ermöglichen jedoch erst den kompetenten Umgang mit fachlichem Wissen. Wichtiges Kriterium zur Bezeichnung von Schlüsselkompetenzen ist dabei, dass diese in verschiedenen Situationen und Funktionen flexibel und innovatorisch eingesetzt und übertragen werden können. Non-formale und informelle Bildungsprozesse in Jugendverbänden bieten einen wichtigen Rahmen für den Erwerb dieser Schlüsselkompetenzen. Da sich i.d.R. Menschen unterschiedlichen Alters und mit unterschiedlichem Bildungshintergrund treffen, alle mit- und voneinander lernen und Wissensgebiete nach Interesse und ohne Zwang erkunden, bieten Jugendverbände einen hervorragende Lehr-Lern-Atmosphäre. Kompetenzen werden zudem vor allem durch »tätigkeitsintegriertes und tätigkeitsnahes Lernen« (Dohmen 2001: 42) erworben und ausgebaut, d.h. die (Selbst) Aktivierung der Lernenden ist ein zentrales Element des Kompetenzerwerbs. Im Rahmen des deutsch-russischen Multiplikatorenaustauschs zwischen dem Runden Tisch und dem LJR beispielsweise wurden folgende Schlüsselkompetenzen gefördert:

• Verstehens-, Erschließungs- und Deutungskompetenz: Die Aufenthalte in St. Petersburg und Hamburg waren vor allem für die Teilnehmenden aus dem jeweiligen Gastland geprägt durch unterschiedlichste Eindrücke von Lebenswelten, Jugend- und Bildungsarbeit und lokalen Verhältnissen. Die Einordnung in den bisherigen gesellschaftlich erfahrenen Mikrokosmos erforderte eine hohe Erschließungs- und Deutungskompetenz, um evt. vorhandene Vorurteile und Zuschreibungen dekonstruieren zu können.

• Kommunikations-, Interaktions- und Sozialkompetenz: Der offene Austausch von Meinungen, Einstellungen, aber auch von Wissen und Verfahrensweisen in der Jugendarbeit in Russland und Deutschland wurde insbesondere während der Gegenmaßnahme in Hamburg ermöglicht. Im Rahmen der gemeinsamen Seminareinheiten wurden Ausbildungsinhalte einer Juleica-Schulung vermittelt, Methoden ausprobiert und darüber diskutierten. Die vorhandenen Sprachbarrieren konnten durch die hohe Interaktionskompetenz der Teilnehmenden oder mit Hilfe der Dolmetscherinnen überbrückt werden.

• Handlungs-, Urteils- und Reflexionskompetenz: Der deutsch-russische Multiplikatorenaustausch sowie die darin enthaltenen Seminareinheiten zu Themen einer Juleica-Ausbildung förderten die Handlungs- und Reflexions- kompetenz der Teilnehmenden: Handlungskompetenz in dem Sinne, dass die internationale Begegnung von jedem Einzelnen sachgerechtes, durchdachtes sowie individuell und sozial verantwortliches Verhalten in neuen und bisher unbekannten Situationen erforderte. Urteils- und Reflexionskompetenz wurde dadurch geschult, dass vor allem innerhalb der Seminareinheiten über Situationen aus der Jugendverbandspraxis diskutiert wurde und nach jeder Einheit die vorgestellten Methoden auf der Meta-Ebene gemeinsam reflektiert wurden.
Erst mit Hilfe dieser Schlüsselkompetenzen ist – wie oben ausgeführt – Fachwissen überhaupt in der Praxis kompetent nutzbar. Sie sind somit für die persönliche Entwicklung von zentraler Bedeutung. Den meisten von uns sind diese Fertigkeiten jedoch gar nicht bewusst, da sie nicht über den Weg des formalen Lernens vermittelt, sondern in nicht-formalen Settings erworben werden.

Die Fachstelle für Internationale Jugendarbeit der Bundesrepublik Deutschland e.V. (IJAB) regt die Ausstellung von (Internationalen) Kompetenznachweisen an. Sie dokumentieren die Teilnahme, das Engagement sowie die gezeigten Kompetenzen von Jugendlichen. Die Zielrichtung der Nachweise dabei ist eine zweifache: Einerseits sollen sie den jugendlichen Teilnehmenden ihre eigenen Leistungen und Kompetenzen bewusster machen. Andererseits sollen sie es ihnen erleichtern, ihre Partizipation und ihre Tätigkeiten im Rahmen internationaler Projekte sowie die dabei erworbenen Schlüsselkompetenzen dokumentieren zu können. Zudem, so heißt es auf der zum Projekt gehörenden Internetseite www.open-the-world.net, profitiere die (internationale) Jugendarbeit in Deutschland insgesamt von der Außenwirkung gemeinsam vereinbarter einheitlicher Nachweise. Träger der Jugendarbeit könnten sich dadurch gegenseitig den Rücken stärken und der (internationalen) Jugendarbeit größere Bekanntheit und qualitative Anerkennung verschaffen.

Die großen Debatten um PISA, IGLU und die Hamburger Schulreform zeigen, dass unsere Gesellschaft Bildung offenbar als sozialen Faktor erkannt hat und sehr konkrete Vorteile in der Erweiterung des individuellen Bildungsniveaus sieht. Denn je höher das Bildungsniveau, desto größer ist auch die Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe. Von einem Bildungserfolg wird jedoch auch weiterhin nur dann gesprochen, wenn dieser im Rahmen von staatlichen Strukturen legitimiert wird. Die Bedeutung und Potenziale non-formaler und informeller Bildungskonzeptionen werden dabei in aller Regel ignoriert. Wer Lebenslanges Lernen fordert, darf diese Prozesse aber auf keinen Fall unterschätzen. Jede verpasste Entwicklungschance eines Menschen verringert die individuelle Möglichkeit der gesellschaftlichen Partizipation. Es geht also darum, so Günther Dohmen, das non-formale und informelle Lernen als »vielversprechenden Ansatz ernst zu nehmen, von dem aus sich neue Zukunftsperspektiven für die Individuen, für das jeweilige Gemeinwesen und für die Menschheit erschließen lassen« (Dohmen 2001: 126). Die tägliche Praxis, und insbesondere die Bildungsarbeit, in den Jugendverbänden muss aufgewertet, besser gefördert und Teil einer umfassenden Bildungsdebatte werden.

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* Die deutsch-russische JuLeiCa-Schulung wurde durch die Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch gefördert – eine Initiative des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, der Freien und Hansestadt Hamburg, der Robert-Bosch-Stiftung und des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft.

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Literatur:

Dohmen, Günther: Das informelle Lernen. In: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (Hrsg.). Bonn 2001.

Nörber, Martin: Informelle und non-formale Bildung in der Kinder- und Jugendarbeit als Zusatzqualifika-tion zur formalen Schulbildung. Ein Blick von Deutschland aus nach Großbritannien, in: deutsche jugend Heft 2 (2008), 56. Jg., S. 067-074.