Der vermeintliche Tabubruch ist essentiell für Rechtspopulisten. Er bedient die Interessen ihrer Zielgruppe, er garantiert das wesentliches Elixier für die eigenen Ambitionen: Aufmerksamkeit. Das Motiv ist dementsprechend nicht der selbstlose »Mut zur Wahrheit« sondern kalkuliertes Eigeninteresse.
Björn Höcke hat ein Händchen für medienwirksame Auftritte. Ein denkwürdiges Beispiel lieferte er im Oktober 2015 mit seinem Besuch bei Günther Jauch ab. Neben Aussagen, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen ließen, blieb vor allem ein Bild in Erinnerung: Gleich zu Beginn hing er ein Deutschlandfähnchen über seine Sessellehne, »um allen Anwesenden und um den Fernsehzuschauern zu zeigen, dass die AfD die Stimme des Volkes spricht gegen eine – das muss ich ganz deutlich sagen – verrückt gewordene Altparteienpolitik«.
Damit gelang es ihm, sich die republikanischen Farben anzueignen, obwohl die alten Reichsfarben stärker für Höckes Weltbild stünden. Bezeichnend ist jedoch, dass er dies ohne großen Widerspruch tun konnte. Er hatte die übrigen Gäste einfach überrumpelt und damit an eine erprobte Strategie der AfD angeknüft – dem vermeintlichen Tabubruch.
Allzu gern reden die führenden Köpfe der AfD von Tabus, wo es überhaupt keine gibt. Der frisch gewählten Spitzenkandidatin Alice Weidel zufolge erfordere es den Mut, vehementen Widerspruch auszuhalten, wenn man bestehende Missstände benenne. Angebliche »Denkverbote« würden es ihrer Partei erschweren, die eigene politische Position frei zur Sprache zu bringen.
Auf diese Weise stilisiert sich die Partei zum Opfer und diskreditiert gleichzeitig jegliche Kritik der eigenen Position. Denn jeder Widerspruch sei in erster Linie ein Angriff auf Pluralismus und Meinungsfreiheit, die Pseudo-Tabubrecher dagegen mutige Verteidiger demokratischer Werte.
Die Vorteile liegen auf der Hand: Die vermeintlichen Tabubrecher können sich positiv in Szene setzen und mit einem hohen Maß an Publizität rechnen. Darüber hinaus fällt es der AfD dadurch leichter, die öffentliche Diskussion weiter nach rechts zu ziehen. Denn Positionen, die zuvor noch zurückgewiesen, aber nicht tabuisiert worden wären, werden im Idealfall gegen Widerspruch immunisiert.
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»Die AfD fordert daher das selbstverständliche Recht auf freie Rede für freie Bürger wieder ein. Niemand darf Angst haben, seine Meinung zur Einwanderungs- und Asylpolitik zu sagen.«
Grundsatzprogramm der AfD
»Es muss endlich Schluss damit sein, dass diejenigen, die auf die Missstände in unserem Land hinweisen, härter bekämpft werden, als die Missstände selbst, meine Damen und Herren. Wir werden uns als Demokraten und Patrioten trotz dessen nicht den Mund verbieten lassen, denn die politische Korrektheit gehört auf den Müllhaufen der Geschichte.«
Rede von Alice Weidel auf dem 6. Bundesparteitag der AfD, 23.04.2017
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Besonders tückisch ist, dass auf diese Weise auch das Vertrauen in eines der Grundrechte der Gesellschaft untergraben werden kann – das Recht der Meinungsfreiheit. Obwohl die AfD genau weiß, dass der Rechtsstaat das volle Recht auf Meinungsfreiheit garantieren soll, erweckt sie sogar in ihrem Grundsatzprogramm den Eindruck, in ihrer Freiheit eingeschränkt zu werden. Der postulierte Anspruch »Mut zur Wahrheit« ist ein offensichtliches Flirten mit dem Tabubruch. Doch während der echte Tabubruch negative soziale Folgen für den Tabubrecher nach sich ziehen kann, bleibt der Pseudotabubruch folgenlos. In einem Strategiepapier zur Bundestagswahl vertraut die AfD genau auf diesen Effekt: »Die AfD lebt gut von ihrem Ruf als Tabubrecherin und Protestpartei. Sie braucht sich dessen nicht zu schämen, sondern muss sich selbstbewusst zu ihrer Aufgabe bekennen, dem Protest in Deutschland eine politische Richtung und ein Gesicht zu geben.«
Was hilft? Das Spiel mit dem Tabubruch funktioniert nur so lange, wie das Umfeld mitspielt. So lange die Inszenierungen der AfD auf alarmierte Reaktionen stößt, so lange fragwürdige Aussagen der üblichen Verdächtigen in den Medien schlagzeilenträchtig aufbereitet werden, kann die Partei nur gewinnen. Entscheidend dürfte es sein, mehr Gelassenheit im Umgang mit der AfD zu üben und den Drang der Partei nach Aufmerksamkeit ins Leere laufen zu lassen. Dann bleibt das Brechen von Pseudo-Tabus nur ein Sturm im Wasserglas.