Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 4-2015, Rubrik Vielfältige Jugendarbeit

Zusammenwachsen – um zusammen zu wachsen

Fachtag zur interkulturellen Öffnung der Jugendverbandsarbeit

Von Mathias Birsens, Hamburg

Rund jeder zweite Jugendliche in Hamburg hat einen Migrationshintergrund. Trotzdem sind sie in Jugendverbänden deutlich unterrepräsentiert. Warum das so ist und was sich ändern muss, ist Inhalt des Modellprojekts »Partizipation – Bildung – Integration« des Landesjugendrings (LJR), in dessen Rahmen Anfang Dezember ein Fachtag unter dem Titel »zusammen|wachsen – Kulturelle Vielfalt in der Jugendverbandsarbeit stärken und gestalten« stattfand.

»Wir müssen und wollen uns öffnen«, sagt Silvia Neumann von der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration (BASFI) zu Beginn des Fachtags im Haus der Philanthropie und stößt damit bei den rund 45 Teilnehmende auf offene Ohren. Die Vertreter unterschiedlichster Jugendverbände und Migrant_innenjugendselbstorganisationen (MJSO) – von der Alevitischen Jugend bis zum Jugendrotkreuz – sind gekommen, um sich zum Thema »interkulturelle Öffnung« auszutauschen und dazu zu lernen. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie Hamburgs Jugendverbände der multikulturellen Realität der Stadt gerecht werden und sich stärker für Jugendliche mit Migrationshintergrund öffnen können. Das sei keine zeitlich begrenzte Aufgabe – sondern eine dauerhafte Herausforderung in einer sich ständig wandelnden Gesellschaft, so Neumann. Zudem sei die interkulturelle Öffnung von Jugendverbänden schon von Gesetz wegen Pflicht und nicht Kür, erklärte Birgit Jagusch vom Institut für sozialpädagogische Forschung Mainz in ihrem Vortrag. Jugendverbandsarbeit richte sich – laut dem Achten Sozialgesetzbuch – nämlich nicht nur an deutsche sondern an alle Jugendlichen.

»Ein langer und schwieriger Prozess« sei die interkulturelle Öffnung, betont Naile Burak, Vorsitzende des Landesjugendverbands Nord der Türkisch Islamischen Union der Anstalt für Religion, kurz DITIB-Jugend. Vor allem die sogenannten etablierten Jugendverbände – die schon lange existieren und sich nicht explizit an Jugendliche mit Migrationshintergrund richten – klagten über Stolpersteine. So sei beispielsweise erst vor kurzem sichergestellt worden, dass Vereine ihre Gemeinnützigkeit nicht verlieren, wenn sie Flüchtlinge als Mitglieder aufnehmen, ohne Mitgliedsbeiträge zu erheben, berichtet Ansgar Drücker vom Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e.V. (IDA) in seinem Vortrag.

Multikulti unerwünscht? Widerstand gegen die interkulturelle Öffnung komme in einigen Verbänden manchmal auch von den eigenen Mitgliedern, berichtet Silvie Boyd von der Arbeitsstelle Evangelische Jugend. Sie ist zuständig für interkulturelle Öffnung und Partizipation und hat in ihrer Tätigkeit als Diakonin in der regionalen Jugendarbeit zusammen mit evangelischen und schiitischen Jugendlichen einen interreligiösen Jugendgottesdienst im Rahmen des Projekts »Schritte auf dem Weg zum Frieden« veranstaltet. Dabei predigten sowohl ein schiitischer junger Erwachsener von der Kanzel genauso wie eine evangelische Jugendliche, und es wurde nicht nur aus der Bibel vorgelesen, sondern auch aus dem Koran rezitiert (gesungen). Ein Gemeindemitglied protestierte in einem »bitterbösen Brief« an die zuständigen Gemeinderäte mit dem Argument, ein interreligiöser Dialog mit Muslimen sei u. a. deshalb unmöglich, weil sie die Dreifaltigkeit ablehnten. Gerade solche Abgrenzungsgedanken gelte es zu überwinden und daher wurde das Projekt mit gemeinsamen Treffen fortgeführt. »Es gibt ein großes Interesse aneinander, denn obwohl man in der Schule nebeneinander sitzt, weiß man nicht viel übereinander«, erklärt Boyd. Deswegen sei interkulturelle Öffnung ein wichtiges Thema : »Unsere Gesellschaft ist multikulturell und dem müssen wir Rechnung tragen.« Im Hinblick auf ihre eigenen Erfahrungen sei es wichtig, dass interkulturelle Öffnung im Diskurs gemeinsam entwickelt und auch nach außen kommuniziert werde, damit sie zur Alltagsrealität werden kann.

An einem Strang ziehen. Wie wichtig es ist, dass interkulturelle Öffnung vom gesamten Verband mitgetragen wird, betont auch Willy Klawe vom Hamburger Institut für Interkulturelle Pädagogik im Themenforum »vielseitig statt einseitig« zur kultursensiblen Jugendverbandsarbeit. Sonst könne es passieren, dass Einzelne sich im Jugendverband für interkulturelle Öffnung einsetzen, aber ihr Engagement isoliert versandet. Er rät dazu, alle Verbandsmitglieder durch symbolische Instrumente – beispielsweise eine Auftaktveranstaltung – einzubinden und möglichst schnell erste kleine Schritte zu unternehmen, um einen Wandlungsprozess anzustoßen. Dabei dürfe nicht aus den Augen verloren werden, dass interkulturelle Öffnung von Anfang an langfristig gedacht und in Strukturen überführt werden müsse, damit sie kein Projekt bleibt, sondern Verbandsalltag wird.

Problembewusstsein. Damit sich ein Verband stärker für junge Menschen mit Migrationshintergrund öffnet, müssen diese jungen Menschen erst einmal als Ziel- und Interessensgruppe für Verbandsaktivitäten wahrgenommen werden. Dies zeigt die Landesreferentin Claudia Kalina am Beispiel ihres Verbandes, dem Jugendrotkreuz (JRK). Beim JRK liegt der Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund bei rund 20%. Dass diese Relation nicht der gesellschaftlichen Realität entspräche, sei aber erst bewusst geworden, als bei einer Klausurtagung die stagnierenden Mitgliederzahlen thematisiert wurden. Dabei sei auch deutlich geworden, dass das eigene Selbstverständnis, offen für alle zu sein, nicht nach außen getragen werde. Zudem kam die Frage auf, ob das Deutsche Rote Kreuz nicht schon durch seinen Namen den Eindruck erweckt, allein für Deutsche offen zu sein. Um Hürden für potentielle Mitglieder mit Migrationshintergrund abzubauen, stellt das Jugendrotkreuz nun unter anderem seine Öffentlichkeitsarbeit neu auf, macht die interkulturelle Öffnung zum Thema in der Juleica-Ausbildung und setzt ein Patenschaftsprojekt für minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge um.

Von ersten Schritten berichtet auch Kathy Remek von der Jugendfeuerwehr. Diese beginnt gerade damit, die Migrationsgeschichte ihrer Mitglieder zu erfassen, nachdem eine Studie aufzeigte, dass die Mitglieder der Jugendfeuerwehr keineswegs einen Querschnitt der Hamburger Jugend darstellen. Genau wie viele Jugendverbände in Hamburg steht die Jugendfeuerwehr noch am Anfang des Wegs zur interkulturellen Öffnung.

Was tun? Ein Patentrezept für Jugendverbände, die die Herausforderung interkulturelle Öffnung angehen wollen, gebe es nicht, erklärt der Referent Willy Klawe : »Es geht nicht um zwei, drei praktische Tipps – die kann man gar nicht geben, die müssen verbandsspezifisch entwickelt werden.« Trotzdem gibt es wichtige Schritte auf dem Weg zur interkulturellen Öffnung, die beim Fachtag vorgestellt werden:

Identitätsfindung. Der erste Schritt ist, sich der eigenen Identität bewusst zu werden. Was macht den Verband aus? Wie wirken wir auf junge Menschen, die erst seit kurzem in Deutschland sind? Wenn bei Festen beispielsweise immer nur Bratwurst und Bier serviert werde, wirke das auf muslimische Jugendliche eher abschreckend, warnt Ansgar Drücker. Aber auch die Bedeutung von Religion und Politik bei der Verbandsarbeit und das Geschlechterverhältnis seien Punkte, die Jugendliche aus anderen Kulturen schnell abhalten könnten. Interkulturelle Öffnung bedeutet nicht, die identitätsstiftenden Eigenheiten des Verbandes abzuschleifen, sondern sich ihrer bewusst zu werden und sie reflektiert und erläuternd nach außen zu tragen. »Das heißt also nicht, Kluft, Uniform oder Blauhemd an den Nagel zu hängen oder das Kreuz von der Wand zu nehmen«.

Bereicherung. Ausdruck einer offenen Haltung ist es laut Willy Klawe zudem, die Interessen, Talente und Bedürfnisse junger Menschen mit Migrationsgeschichte wahrzunehmen und zu überlegen, wie und wo im Verband diese berücksichtigt werden können. Dafür, so Klawe, »muss das Rad nicht neu erfunden werden«, sondern sollten mit Kreativität und Veränderungswille bestehende Aktionen und Angebote weiterentwickelt werden. Letztlich sei es doch immer Aufgabe eines lebendigen und zukunftsorientierten Jugendverbandes zu schauen, wie Kinder und Jugendliche – ob mit oder ohne Migrationshintergrund – für die Verbandsangebote und die Mitarbeit zu begeistern sind. Die unterschiedlichen Interessen und Talente junger Menschen können und sollten Verbandsarbeit immer bereichern und lebendig machen!

Unterschiede berücksichtigen. Aber auch wenn alle Kinder und Jugendlichen bestimmte Interessen, Herausforderungen und Bedürfnisse teilen, müssen kulturelle und soziale Unterschiede erkannt, respektiert und mitgedacht werden. Kinder und Jugendliche haben weder völlig identische noch grundsätzlich immer verschiedene Interessen und Fähigkeiten. Klawe empfiehlt, sich stärker an den Lebenswelten der jungen Menschen mit Migrationshintergrund zu orientieren und den für Verständnis und Offenheit grundlegenden Perspektivwechsel immer wieder zu wagen. Ein erster Schritt kann sein, die eigene »kulturelle Lesebrille« abzulegen und die eigenen Angebote aus Perspektive der Kinder, Jugendlichen aber auch Eltern zu betrachten. Um mehr über die Lebenswelt, Wahrnehmung und kulturelle Prägung der Kinder und Jugendlichen zu erfahren, sei es zudem hilfreich, den Elternkontakt zu intensivieren, sie einzubinden und sich auszutauschen über Fragen, Befürchtungen und Erfordernisse. Da die älteren oft für die jüngeren Geschwister verantwortlich seien, kann eine Verzahnung oder zeitliche Abstimmung von Kinder- und Jugendangeboten zum Beispiel für alle Beteiligten strukturell sinnvoll sein.

Zusammenarbeit. Bei der interkulturellen Öffnung der Jugendverbandslandschaft ist auch die Zusammenarbeit mit Migrant_innenjugendselbstorganisationen (MJSO) entscheidend. Dabei ist es besonders wichtig, dass Kooperationen auf Augenhöhe stattfinden, betont Birgit Jagusch. Während MJSO unzureichende staatliche Förderung erhalten, werden immer mehr Tandemprojekte zwischen ihnen und etablierten Jugendverbänden gefördert, die strukturell das Ungleichgewicht verfestigen. Statt gemeinsam ein Tandem zu bilden, bei dem einer das Steuer in der Hand hat und der andere nur strampelt, gehe es laut Jagusch vielmehr darum, »Tretboot zu fahren« und in der Kooperation gemeinsam zu lenken.

Anerkennung und Austausch. Die Integration von MJSO in die etablierte Jugendverbandslandschaft steht noch am Anfang. Obwohl es einige MJSO in Deutschland bereits seit rund 25 Jahren gibt, sind viele noch nicht als Träger der freien Jugendhilfe anerkannt und haben Schwierigkeiten, in einen lebendigen Austausch mit anderen Jugendverbänden zu treten. Da kommt ein verbandsübergreifender Fachtag gerade recht. So sucht die DITIB-Jugend Nord den Dialog mit anderen Jugendverbänden – auch um Vorurteile gegen Muslime abzubauen, sagt die Vorsitzende Naile Burak : »Das ist ein ganz großes Anliegen von uns, dass interkulturelle Öffnung stattfindet und wir auch mal gemeinsame Projekte auf die Beine stellen. Jugendverbände und MJSOs sollten ein Netzwerk bilden, um gemeinsame Interessen zu vertreten und darüber auch wechselseitige Stereotypen und Vorurteile abzubauen.« Insofern ist der Fachtag für die 23-Jährige ein voller Erfolg : »So ein Begegnungsforum eröffnet die Möglichkeit, neue Projekte für sich zu finden. Das gibt mir sehr viel Motivation.«

Neue Zielgruppe. Im Zuge der gestiegenen Flüchtlingszahlen in Deutschland und Hamburg habe sich der Fokus interkultureller Öffnung aktuell auf junge Flüchtlinge verlagert, beobachtet Ansgar Drücker. Deshalb wird dem Thema auch beim Fachtag ein eigenes Themenforum mit dem Titel »willkommen heißen« gewidmet. Diskutiert wird darin insbesondere der Unterschied zwischen akuter Flüchtlingshilfe und der langfristigen Einbindung von Flüchtlingen in die eigene Jugendarbeit. Gerade mit letzterem könnten Jugendverbände einen wichtigen Beitrag zur Integration von jungen Flüchtlingen leisten. »Integration ist nicht nur Sprache. Integration ist auch unter Leuten zu sein, einfach mitzumachen – bei Versammlungen oder Veranstaltungen«, erzählt Hana Alkourbah, die selbst vor anderthalb Jahren aus dem syrischen Homs geflohen ist und derzeit ein Praktikum beim Bund der katholischen Jugend (BDKJ) in Hamburg absolviert. »Für mich war das die beste Chance, die ich kriegen konnte, aber man muss sich wirklich Mühe geben, weil es nicht so einfach ist, wenn man nicht gut Deutsch sprechen kann oder nicht so flexibel ist, viel unterwegs zu sein«, fasst die 32-Jährige ihre Probleme als »Neu-Deutsche« zusammen.

Neue Herausforderungen. Viele Jugendverbände verbinden ganz andere Hürden mit der Einbindung von Flüchtlingen – sie fühlen sich der Arbeit mit möglicherweise traumatisierten Kindern und Jugendlichen nicht gewachsen oder mit der besonderen rechtlichen Situation nicht ausreichend vertraut. Diese Ängste seien größtenteils unbegründet, sagt Tilmann Dieckhoff von den Falken : »Es ist seit Jahren eine Selbstverständlichkeit, dass Kinder aus Flüchtlingsunterkünften in unser dreiwöchiges Sommerzeltlager mitkommen. Das wissen alle und das ist nichts Besonderes mehr.« Auch Traumata seien bisher kein großes Problem gewesen, berichtet er. Meistens könnten Eltern und Jugendliche gut einschätzen, ob sie mit ins Zeltlager fahren können. Er ist überzeugt davon, dass es Kindern und Jugendlichen, die auf ihrer Flucht Schreckliches erlebt haben, helfen kann, wenn sie mit den richtigen Angeboten in die Verbandsarbeit eingebunden werden. Die Flüchtlinge in den Unterkünften alleine zu lassen, sei dagegen keine Option.

Vertrauen ist wichtig. Der Schlüssel zum engen und vertrauensvollen Kontakt mit Flüchtlingsfamilien sei bei den Falken der regelmäßige Besuch des Spielmobils in den Flüchtlingsunterkünften. »Dadurch, dass wir das Spielmobil haben, gibt es diese Vertrauensbasis«, erklärt Dieckhoff. Zudem passen die Falken ihre Sommerfreizeiten an die Flüchtlingskinder an – sie fahren nicht ins Ausland, binden die Eltern ein und tun alles, um jedem die Teilnahme an den Freizeiten zu ermöglichen. »Es scheitert nicht daran, dass eine Familie kein Geld hat«, so der 36-Jährige. Dieses Engagement für Flüchtlinge basiere auf ihrem verbandlichen Selbstverständnis, sagt Fatih Ayanolu von den Falken : »Wenn du gegen interkulturelle Öffnung bist, dann bist du falsch bei den Falken.«

Diese Aussage stellt das Themenforum »willkommen heißen« zum Abschluss des Fachtags vor – ermutigt durch die positiven Erfahrungen der Falken. Zudem formulieren die Teilnehmenden der Diskussionsrunde auch Wünsche an den Landesjugendring : Ein Fortbildungskurs zur Jugendverbandsarbeit mit Flüchtlingen; eine politische Positionierung gegen die rechtliche Ungleichbehandlung von jungen Geflüchteten gegenüber deutschen Jugendlichen; darüber hinaus wäre eine Langzeitstudie zum Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in den Jugendverbänden wünschenswert.

Aus der Runde zur kultursensiblen Jugendverbandsarbeit wird zum Abschluss der Wunsch nach einer interkulturellen Juleica-Schulung sowie nach einem großen Haus für alle Jugendverbände geäußert, damit etablierte Jugendverbände und MJSO sich einfacher kennen lernen und miteinander arbeiten können. Denn : »Interkulturelle Öffnung fängt mit Kennenlernen an«, so Naile Burak. Ähnlich fallen auch die Ergebnisse aus dem Forum »gemeinsam stark« zum Thema Kooperationen aus : Zum einen sollten Begegnungsräume wie das Netzwerk interkulturelle Öffnung (NIKÖ) noch stärker genutzt und zum anderen MJSO gestärkt werden. Angesichts dieser konkreten Ergebnisse zeigt sich Maria Wassersleben, Projektreferentin beim LJR, in ihren Abschlussworten optimistisch : »Man spürt, vieles ist in Bewegung. Ich hoffe, dass Ihr alle mit Ideen und Werkzeugen nach Hause geht, um interkulturelle Öffnung in Euren Verbänden mit Leben zu füllen!«