Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 3-2014, Rubrik Vielfältige Jugendarbeit

Denke, entscheide, handle: selbst!

Serie WirkungsStätten: Das Sommerzeltlager der Falken auf Föhr

Von Mathias Birsens, Hamburg

Im Sommerzeltlager der Hamburger Falken haben die Kinder und Jugendlichen das Sagen. Jeden Tag treffen sie sich nach dem Mittagessen zum sogenannten Delegiertenrat, um das Programm der nächsten Tage festzulegen. Die erwachsenen Helfer/innen leiten zwar die Sitzungen, die Entscheidungen treffen aber letztendlich die Jüngeren selbst.

Demokratie macht viel Arbeit. Im Sommerzeltlager des Hamburger Landesverbands der Sozialistischen Jugend – Die Falken auf der Nordseeinsel Föhr erleben 40 Kinder und Jugendliche im Alter von acht bis 16 Jahren drei Wochen lang, was direkte Demokratie bedeutet: Es gibt Komitees für verschiedene Aufgaben, eine Vollversammlung, an der alle aus dem Zeltlager teilnehmen, und jeden Nachmittag trifft sich der Delegiertenrat, um über das Programm der nächsten Tage zu entscheiden. Damit es dabei demokratisch zugeht, entsendet jede der Gruppen zwei Delegierte zu der Sitzung, die die Interessen aller Gruppenmitglieder vertreten und in ihrem Sinne abstimmen. Vor der Sitzung sprechen sich die Delegierten mit ihrer Gruppe ab, wie sie abstimmen und welche Anliegen sie bei der Sitzung thematisieren wollen.

Damit wirklich alle mitentscheiden, nehmen neben den Delegierten der Zeltgruppen auch Vertreter des Küchenteams und der Helfer/innen an den täglichen Sitzungen des »Delirates« teil, wie der Delegiertenrat im Zeltlager genannt wird. Für die Leitung der Sitzung sind zwei Helferinnen verantwortlich. Sie legen großen Wert darauf, dass sie weder »Betreuerinnen« noch »Leiterinnen« des Zeltlagers oder der Gruppen sind. Denn anstatt die Kinder und Jugendlichen nur zu betreuen, unterstützen die älteren Falken sie dabei, ihren eigenen Weg zu gehen, eigene Entscheidungen zu treffen und Dinge selbst in die Hand zu nehmen, erklärt Lea Wengel, die Bildungsreferentin der Hamburger Falken. »Nicht von oben, sondern solidarisch und gleichberechtigt!« Das Motto der Falken soll im Sommerzeltlager gelebte Alltagspraxis werden.

Deshalb moderieren die beiden Helferinnen die Sitzungen des Delirates nur. Wenn es nötig ist, erklären sie den Kindern und Jugendlichen etwas oder bringen Einwände vor, aber sie treffen keine Entscheidungen und machen – abgesehen von den Regeln, die das Grundgerüst der Zeltlagerdemokratie bilden – keine Vorschriften. Das treibt manchmal auch komische Blüten: So schlägt die achtjährige Lara vor, das Frühstück zukünftig an‘s Bett zu servieren. Doch häufig erkennen die Kinder und Jugendlichen selbst, warum Dinge manchmal anders gemacht werden, als sie es im ersten Moment gerne hätten. Einer der älteren Teilnehmer wirft sofort ein, dass die Zelte schnell verschmutzen, wenn das Frühstück am Bett serviert wird, weil man in den Schlafsack krümelt. Das sieht auch Lara ein, und der Vorschlag ist vom Tisch. In voll gekrümelten Zelten möchte schließlich niemand schlafen.

Wasserballons? Die Diskussion über das Programm des nächsten Tages verläuft ebenfalls konstruktiv und weitestgehend ohne Einmischung der Erwachsenen. Zuerst sammeln die beiden Helferinnen Vorschläge aus den Gruppen, was am nächsten Tag gemacht werden soll, zum Beispiel Grillen, eine Wasserschlacht oder ein Tag am Strand. Anschließend diskutieren die Delegierten darüber. »Nicht jeder mag Wasserballons – die tun weh«, argumentiert ein Mädchen gegen den Vorschlag, mit dem ganzen Zeltlager eine Wasserschlacht zu machen. Ein anderer Delegierter wirft ein, dass eine organisierte Wasserschlacht besser sei, als sich ständig gegenseitig nass zu machen. Schnell finden die Kinder und Jugendlichen einen Kompromiss: Am nächsten Tag gibt es einen Strandabend, bei dem jeder machen kann, was er will. Es soll ein Lagerfeuer geben und eine Wasserschlacht für alle, die mitmachen wollen.

»Wir haben wieder ein Superprogramm beschlossen«, schließt Lea die Sitzung, die sie rund eine Stunde lang moderiert hat. Selbst die acht Jahre alte Lara hat bis zum Schluss durchgehalten und mitdiskutiert – auch wenn sie manchmal ein bisschen abgelenkt war und der Tagesordnung nicht immer folgen konnte. Sie findet es gut, dass die Kinder im Zeltlager mitentscheiden können. Genauso wie Oscar, der zum ersten Mal mit den Falken ins Zeltlager gefahren ist. »Hier gibt es halt kein festes Programm, sondern wir können mitentscheiden, und wenn es keinen Spaß macht, können wir immer noch was anderes machen«, sagt der Zwölfjährige im Hinblick auf die vielen Wahlmöglichkeiten im Programm.

Für Lea ist es vor allem wichtig, dass Beschlüsse gemeinsam gefasst werden und alle mit anpacken: »Es sind nicht irgendwie fünf Leute, die den Laden hier schmeißen, sondern Selbstorganisation heißt auch selbst machen«, fasst sie die Herausforderung des Zeltlagers für die Teilnehmenden zusammen.

»Selbstorganisation heißt auch selbst machen.« Dazu gehört auch, dass die Kinder und Jugendlichen selbst für ihr Essen verantwortlich sind. Jeden Tag ist eine andere achtköpfige Gruppe aus einem der sechs Zelte für die Mahlzeiten im Lager zuständig. Heute sind die Mitglieder der »Crulz Bande« im Küchenzelt eifrig damit beschäftigt, Gemüse klein zu schneiden und Hummus zuzubereiten. Mittags gibt es »Crulz Wraps« mit Hummus. Die Mahlzeiten während des Lagers sind seit letztem Jahr komplett vegetarisch. »Wir wollten einfach mal ausprobieren, ob das drei Wochen lang klappt«, sagt Oliver Stettner, der schon lange bei den Zeltlagern dabei ist. Er hilft dieses Jahr im Küchenteam und wird von allen nur Olli genannt. Damit die Kinder und Jugendlichen mit dem Kochen für so viele Menschen nicht überfordert sind, werden sie bei der Planung der Gerichte und bei der Zubereitung vom Küchenteam unterstützt. Heute kochen Max und Moritz mit der »Crulz Bande«, die sich auch außerhalb des Ferienlagers trifft. Sie ist eine der Stadtteilgruppen der Falken in Hamburg, die sich jede Woche einmal treffen und sich mit unterschiedlichen Themen auseinandersetzen, die die Kinder und Jugendlichen interessieren.

Während die »Crulz Bande« noch damit beschäftigt ist, das Mittagessen vorzubereiten, sind die meisten der anderen fünf Gruppen auf der Insel unterwegs. Während der Gruppenzeit am Vormittag können die Gruppen selbst entscheiden, was sie gemeinsam unternehmen. Eine der Gruppen ist zum Eis essen in das Örtchen Nieblum, in der Nähe des Zeltplatzes, gegangen. Die »Green Papayas« – zu denen auch der elfjährige Etienne gehört – haben heute beschlossen, während der Gruppenzeit im Zeltdorf zu bleiben. Etienne ist seit 2010 schon sieben Mal mit den Falken ins Zeltlager gefahren. Das hat in seiner Familie Tradition, erzählt er stolz: »Mein Opa und meine Oma waren schon hier und haben sich um den Platz gekümmert.«

»unsere welt«. Der Zeltplatz auf Föhr und die Hamburger Falken haben eine lange Geschichte. Zählt man die Vorgängerorganisationen mit, so gibt es die Falken bereits seit mehr als 100 Jahren. Unter den Nationalsozialisten wurde die Organisation verboten und ihre Mitglieder zum Teil verfolgt, doch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren die Falken einer der ersten Jugendverbände in Hamburg, die von der britischen Militärverwaltung wieder anerkannt wurden. Nach dem Wiederaufbau der Organisation fand bereits 1947 das erste Zeltlager der Falken statt, das dreimal zwei Wochen dauerte, um möglichst vielen Kindern und Jugendlichen die Teilnahme zu ermöglichen. Seitdem fahren die Falken jedes Jahr ins Zeltlager – immer abwechselnd ins Landesinnere und ans Meer. In den Anfangsjahren nahmen bis zu 750 Kinder und Jugendliche an den Ferienfahrten teil.

Im Jahr 1958 schlossen sich einige Mitglieder der Hamburger Falken zu einem Verein zusammen, um einen eigenen Zeltlagerplatz an der See zu finden. Genau wie der Zeltplatz trägt der Verein den Namen »unsere welt«. Er besitzt und betreibt den Zeltplatz auf Föhr seit 1963. Auf dem gut acht Hektar großen Platz direkt am Nordseestrand finden bis zu 500 Menschen Platz. Damit ist er einer der größten Zeltplätze der Falken in ganz Deutschland, berichtet der erste Vorsitzende des Zeltlagervereins Peter Voß. Der Zeltplatz wird auch von anderen Organisationen genutzt, doch mehr als zwei Drittel der Gäste seien Falken, erzählt er. Betrieben wird der Platz hauptsächlich von Falken, die ehrenamtlich in der Küche oder bei anderen Aufgaben helfen. Dafür haben sie jeden zweiten Tag frei und können ihre Familie mitbringen. Selbst Mitglieder aus dem Bundesvorstand der Falken sind im Sommerurlaub mit ihren Familien auf dem Platz und packen mit an.

Neben den Hamburger Falken sind noch vier weitere Zeltdörfer auf dem Platz errichtet. Zwei weitere Falken-Gruppen aus Hessen und aus Neuss, so wie eine Gruppe der Arbeiterwohlfahrt und ein Konficamp haben ihre Zelte aufgeschlagen. Vom Parkplatz aus sieht man Zelte so weit das Auge reicht. Vorbei an der Mehrzweckhalle aus rotem Backstein, die aussieht wie eine Grundschulturnhalle aus den 70er Jahren, und dem langgezogenen Holzgebäude mit den Sanitäranlagen und einer Küche geht es zum Zeltdorf der Hamburger Falken. Hier wohnen die 40 Hamburger Kinder und Jugendliche zusammen mit ihren 20 Helfern/innen.

Zelten als solidarische Pädagogik. Das Zelten hat bei den Falken eine lange Tradition und ist ein wichtiger Bestandteil der Falkenpädagogik, erklärt Peter. Die ersten Zeltlager haben bereits gegen Ende der Weimarer Republik stattgefunden. Anfangs ging es vor allem darum, dass Arbeiterkinder für einige Wochen den schlechten Lebensbedingungen in den Großstädten entfliehen konnten. Auch heute wollen die Falken mit ihren Zeltlagern Kindern aus sozial benachteiligten Familien einen Urlaub ermöglichen, obwohl die Eltern dafür häufig kein Geld haben. Möglich wird das durch Zuschüsse der Stadt Hamburg, die durch die Falken vermittelt werden. Olli schätzt, dass mehr als die Hälfte der Kinder auf die Zuschüsse angewiesen ist. »Es gibt halt einen großen Teil der Bevölkerung, die sich keinen Urlaub leisten können«, sagt er. Damit die Kinder trotzdem mitfahren können, tragen selbst die Helfer/innen etwas zur Finanzierung des Lagers bei, indem auch sie einen, wenngleich reduzierten Teilnahmepreis bezahlen, obwohl sie ehrenamtlich im Einsatz sind.

Seit gut zehn Jahren nehmen die Falken jedes Jahr auch einige Kinder aus Flüchtlingsunterkünften mit ins Zeltlager. Dieses Jahr sind fünf Kinder aus Afghanistan, Bosnien-Herzegowina und Aserbaidschan mit dabei. Sie mussten zahlreiche Hürden überwinden, um mit zur Freizeit zu dürfen. So benötigen diese Kinder eine Erlaubnis, um Hamburg für das Zeltlager zu verlassen. Zudem muss Geld organisiert werden, um den Aufenthalt der Kinder zu finanzieren. Dieses Jahr kam erschwerend hinzu, dass die Duldung einer Familie erst zwei Tage vor dem Zeltlager verlängert wurde und bis zuletzt unklar war, ob die Kinder mitfahren können. Vor zwei Jahren sollten einige Kinder sogar aus dem Zeltlager heraus abgeschoben werden (nachzulesen in punktum 3/2012).

Doch davon lassen sich die Falken nicht abschrecken. Sie versuchen die Fluchtgeschichte der Kinder und ihren Status zu berücksichtigen, ohne sie dadurch zu etwas Besonderem zu machen. »Egal wie hoch der Druck ist: Uns geht es um die Kinder und darum, dass sie wie andere Kinder eine Chance haben, im Sommer wegzufahren und aus ihrem Alltag herauszutreten«, betont Fatih Ayanolu, der Landesvorsitzende der Falken, der auch in Hamburg in einer Jugendgruppe als Gruppenhelfer aktiv ist. »Schon eine tolle Leistung«, findet der 25-jährige, »dass es das Zeltlager immer noch gibt und dass es von Ehrenamtlichen gewuppt wird. Es ist ein kleiner Gegenentwurf zu den gesellschaftlichen Tendenzen der Entsolidarisierung.« Passend dazu lautet das diesjährige Motto des Lagers: »Föhrtopia – Wir machen’s gemeinsam«.

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Wirkungsstätte: Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken, Landesverband Hamburg