Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 2-2014, Rubrik Vielfältige Jugendarbeit

Eine Stadt für Kinder!

Ein Bericht aus Henry Town, der Kinderstadt des Jugendrotkreuzes

Von Lisa Marie Kohrs, Jugendrotkreuz Hamburg

Früh morgens am 29. Mai 2014 vor dem Eingang des Corvey-Gymnasiums in Lokstedt: Immer mehr Kinder und ihre Eltern, bepackt mit großen Taschen, Schlafsäcken und Isomatten, versammeln sich dort. Über dem Eingang steht in großen Buchstaben: »Herzlich Willkommen in der Kinderstadt!«

»Eine Kinderstadt, was soll das denn sein?« fragen sich sicherlich die wenigen morgendlichen Spaziergänger. Diese Kinderstadt heißt, benannt nach dem Gründer des Roten Kreuzes Henry Dunant, »Henry Town« und öffnet an diesem Morgen pünktlich um 9 Uhr ihre Tore. 192 Kinder aus ganz Hamburg werden in den nächsten vier Tagen zu den Bürger/innen dieser Stadt und gestalten diese nach ihren Wünschen und Vorstellungen. Die Betreuerinnen und Betreuer sind nur dabei, um für die Sicherheit der Kinder zu sorgen. Eltern und Besucher sind nur nach der Registrierung im Einwohnermeldeamt zugelassen und dürfen die Stadt auch nur im Rahmen von Touristenführungen (natürlich geführt von Kindern) betreten.

Arbeit und Leben. Nachdem alle Kinder ihre Schlafplätze in den gemütlich mit Feldbetten ausgestatteten Klassenzimmern gefunden haben und von ihren Betreuern begrüßt wurden, geht es weiter in Richtung »Arbeitsagentur«. Dort kann sich jedes Kind aus mehr als 80 Berufen in mehr als 50 Einrichtungen einen Job aussuchen – zum Beispiel als Bäcker/in, als Zeitungsredakteur/in oder als Mitarbeiter/in in der Kräuterapotheke. In jeder Einrichtung gibt es auch eine/n Geschäftsführer/in als Ansprechpartner/in für die Belange der Mitarbeiter/innen, aber auch für deren Lohnzahlung in der Stadtwährung »Henry«. Jedes Kind in Henry Town erhält für seine »Arbeit« einen Stundenlohn, von dem wie im richtigen Leben natürlich auch Steuern abgezogen werden. Zudem muss jedes Kind einen Teil seines Gehaltes für Miete aufwenden. Dabei bleibt aber immer noch genug übrig, um sich nach »Feierabend« oder während der bezahlten Pause in der Stadt zu vergnügen.

Zwei Mal am Tag dürfen die Kinder aus den vielfältigen Angeboten einen neuen »Job« oder ein »Fortbildungsangebot« wählen. Da ist es für einige manchmal gar nicht so leicht, sich für ein Angebot zu entscheiden und die Mitarbeiter/innen der Arbeitsagentur (natürlich ebenfalls Kinder) beraten die Arbeitssuchenden fleißig. Auch wenn es Jobs für alle gibt: Trotzdem entscheiden sich einige Kinder im Laufe des Spieles freiwillig mal »auszusetzen«, die Zeit anderweitig kreativ zu nutzen und sich in der Stadt zu bewegen. Es gibt also auch »Arbeitslose« in Henry Town – allerdings immer frei gewählt und durchaus beschäftigt.

Politik und Protest. Am Donnerstag-Nachmittag ist es dann das erste Mal soweit: Nach getaner Arbeit treffen sich die Bürgerinnen und Bürger von Henry Town zur ersten Bürger/innenversammlung, die von da an täglich stattfindet. Vorab konnten sich bereits die Kandidaten für die Wahl zur/m Bürgermeister/in bzw. zur/m Senator/in aufstellen lassen und auf selbstgestalteten Wahlplakaten ihre Ideen und Wünsche präsentieren, bevor sie sich dann in der Versammlung noch einmal persönlich bei den Bürgern/innen vorstellten. Fast 30 Kinder kandidieren schließlich und so ist es ein spannender Wahlkampf, den Nora für sich entscheidet. Noras erklärtes Ziel ist es, zunächst die Mieten in der Stadt zu senken, nachdem sie von mehreren Bürgern/innen vernommen hatte, dass diese doch viel zu hoch seien. Außerdem verspricht sie Pizza für alle und organisiert die Umsetzung gleich für den Abend der Wahl. Für die nächsten vier Tage ist Nora gemeinsam mit ihrem Team aus zwei weiteren Senatorinnen für die Belange der Bürger/innen ansprechbar und leitet die tägliche Bürgerversammlung, wo sie sich auch den kritischen Fragen der Kinder stellen muss. Nach der Ankündigung zur Einführung einer Vermögenssteuer kommt es in der Kinderstadt zu Unruhe: Einige Bürger/innen sind damit nicht einverstanden und fordern im Rahmen einer Demonstration Neuwahlen. Dazu erscheint auch eine Sonderausgabe der Stadtzeitung »Henry Blatt« mit Argumentationen von Gegnern/innen und Befürwortern/innen dieser Maßnahme. Nach einer heißen Diskussion in der Bürger/innenversammlung bleibt es jedoch dabei: Nora wird in ihrem Amt bestätigt und es finden keine Neuwahlen statt.

Am Sonntag endet die Kinderstadt schließlich mit einem großen Abschlussfest, das von der »Event-Agentur« in Henry Town organisiert wurde und zu dem natürlich auch Eltern und Freunde eingeladen sind und dieses zahlreich besuchen. Die Mitarbeiter/innen der »Event-Agentur« haben im Laufe der vergangenen Tage ein tolles Show-Programm zusammengestellt. So führen unter anderem die Bürger/innen, die an einem der Tanzangebote der »Tanzschule« und der »Buddhistischen Pagode« teilgenommen haben, ihre selbsteinstudierten Tänze auf, die Akrobaten zeigen, was sie in ihrer Fortbildung im Zirkus von Abraxkadabrax gelernt haben, und der selbstgedrehte Trickfilm zum Thema »Leben in der Stadt« wird im Kino gezeigt. Und diejenigen, die Waren produziert haben wie z.B. Schmuck, Cremes, Taschen, Kerzenlichter und vieles mehr, bieten diese auf dem Markt an. Viele strahlende Kinder und Eltern verlassen schließlich am Sonntag Mittag wieder die Kinderstadt und viele Stimmen fragen: »Wann gibt es ein nächstes Mal?«

Für die Helferinnen und Helfer ist natürlich noch längst nicht Schluss. So wie am Mittwoch die Kinderstadt liebevoll bis tief in die Nacht aufgebaut wurde, so muss nun doch alles wieder abgebaut werden – dahinter stecken doch einige Stunden voller körperlicher Anstrengung. Die vielen Feldbetten, Pavillons und Zelte, das Bastelmaterial – alles zusammen umfasst immerhin sieben LKW-Ladungen, die ein- und auch wieder ausgeladen werden müssen.

Lernprozesse. Was bewegt das Jugendrotkreuz, so eine Kinderstadt ins Leben zu rufen? Henry Town – die Kinderstadt des Jugendrotkreuzes – gab es schon im Jahr 2002 das erste Mal. Kindern die Möglichkeit zu geben, einmal die »Bestimmer« zu sein, sie in ihrer Meinungsbildung zu fördern und gleichzeitig reale Prozesse in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft kennenzulernen – das war der Grund, warum das JRK damals beschloss, eine Kinderstadt zu organisieren. Nicht zuletzt auch weil die Förderung von Kindermitbestimmung zu den zentralen Themen des Jugendrotkreuzes gehört und das Jugendrotkreuz sich für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland in der National Coalition engagiert. Und bei diesem einen Mal »Henry Town« ist es eben nicht geblieben, insgesamt wurde die Kinderstadt bislang viermal durchgeführt und hat bei den Kindern jedes Mal nachhaltige Eindrücke hinterlassen: In der Kinderstadt haben die Kinder gelernt, miteinander verantwortliche Entscheidungen zu treffen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen mitzutragen. Diese Erfahrungen konnten sie auch langfristig auf das Alltagsleben übertragen.

Über 150 Engagierte. Aber was braucht es eigentlich alles, um so eine Kinderstadt zu organisieren? Eine Vorbereitungsgruppe aus ehren- und hauptamtlichen Mitarbeitern/innen des Jugendrotkreuzes hat bereits im Herbst 2013 mit der Vorbereitung der Kinderstadt begonnen. In mehreren Arbeitstreffen wurden neue Ideen entwickelt und mit dem bewährten Konzept der Kinderstadt verbunden.

Parallel dazu wurden natürlich die vielen, vielen Helferinnen und Helfer gesucht und die Aufgaben verteilt: In der Kinderstadt gibt es Betreuer/innen, die sich nur um die Kinder kümmern, es gibt Betreuer/innen, die die verschiedenen Geschäfte, Ämter, Einrichtungen und Bastelangebote betreuen, und nicht zu vergessen sind natürlich die Helfer/innen, die für die gemeinschaftliche Verpflegung sorgen, das viele Material transportieren, die Kinderstadt mit Strom versorgen und Feldbetten aufbauen. Alle Helfer/innen nahmen im April an einem Vorbereitungsseminar teil, um sich gemeinsam auf die Aufgaben und Anforderungen in der Kinderstadt vorzubereiten. Und für alle, die dort nicht dabei sein konnten, gab es noch einmal einen Vorbereitungs-Crashkurs. Insgesamt mehr als 150 Helfer/innen waren an der Organisation der Kinderstadt beteiligt. An dieser Stelle danken wir daher allen Helfern/innen für ihr freiwilliges Engagement, ohne das die Organisation dieser Kinderstadt nicht möglich wäre! Und da eine Veranstaltung dieser Art auch nicht ohne die entsprechenden Finanzen vonstattengehen kann, danken wir auch unseren Förderern von ganzem Herzen: der GlücksSpirale und der Freien und Hansestadt Hamburg (BASFI)!

Eindrücke und Bilder aus der Kinderstadt gibt es auf www.henrytown.de!