Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 1-2012, Rubrik Titelthema

Hinter dem Klischeebild

Über die Vielfalt muslimischer Jugendszenen in Deutschland

Von Claudia Dantschke, Berlin

Für viele Jugendliche, die unter dem Label „muslimische Jugendliche“ gefasst werden, ist die Religion zwar ein wichtiger Teil ihrer Identität, aber nur eine Minderheit definiert sich selbst primär religiös. Die Autorin zeigt, dass sich das Segment der sich primär religiös definierenden muslimischen Jugendlichen in zahlreiche Gruppen und subkulturelle Milieus aufteilt. Diese Jugendszenen sind zum Teil klar voneinander abgegrenzt, zum Teil überschneiden sie sich auch. Und: Die Szene ist insgesamt sehr vielfältig und dynamisch, sie verändert sich stetig.

Jung, deutsch und Muslim
„Jetzt sprechen wir!“, titelt selbstbewusst das Blog des muslimischen Jugendmagazins „Cube-Mag“. Anfang 2010 ging die erste Ausgabe dieses deutschsprachigen Magazins online, damals noch unter dem Namen „Muslim – The Next Generation“. Inzwischen ist das fünfte Heft mit einer Druckauflage von 2.500 Exemplaren erschienen. Muslimische Jugendliche im Alter zwischen 18 und 25 haben sich hier zusammengetan, um „endlich nicht mehr stumm dazusitzen und sich anhören zu müssen, wie man als Muslim denn wirklich sei, was man denke und warum man wie handeln würde“. [1]  Zwar finanziert sich das Projekt inzwischen durch Verkauf und Werbeanzeigen, doch wird es maßgeblich getragen von dem ehrenamtlichen Engagement seiner unterschiedlichen Autorinnen und Autoren. Es sind junge Leute, „die zumeist in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Sie sind hier zur Schule gegangen, machen jetzt ihr Abitur, studieren oder arbeiten bereits. Ihre Religion, der Islam, ist es, was sie vereint und dazu bewegt aktiv zu sein“. [2] „Was uns vielleicht herausstellt, ist, dass wir jung sind, dass wir kreativ sind, dass wir uns mit der Gesellschaft, in der wir aufgewachsen sind, identifizieren und versuchen, hier auch die muslimische Identität mitzugestalten“, beschreibt der Marketingbeauftragte Nabil Chabrak in einem Interview mit Muslime-TV [3] die Macher seines Heftes.

Das „Cube-Mag“ ist kein oberflächliches Lifestyle-Magazin aber auch kein islamisch-theologisches Heft. Die Autoren wenden sich mit ihren Artikeln sowohl an Muslime wie Nichtmuslime und bieten einen vielfältigen und auch selbstkritischen Einblick in „die Themen und Ideen, die unsere Generation bewegen, beschäftigen und aufwühlen“. So werden innerislamische Tabuthemen aufgegriffen, um einen Austausch mit den eigenen Eltern und religiösen Vorbildern voranzubringen. Selbstbewusst setzen sie sich aber auch mit den Mythen, die sich um muslimische Jungen und Mädchen ranken, oder Projektionen, derer sie sich ständig argumentativ erwehren müssen, auseinander. Analysiert werden zudem die politischen Entwicklungen in den arabischen Ländern oder die empfundene Einschränkung der Religionsfreiheit in europäischen Ländern, wenn es um den Islam geht. Herausgeberin des Magazins ist die 21jährige Studentin Yasmina Abd el Kader. Sie engagierte sich bereits in Bremen bei der muslimischen Jugendinitiative Lifemakers. Das Credo des „Cube-Mag“ – sich an den Diskussionen in der Gesellschaft aus muslimischem Blickwinkel zu beteiligen und der muslimischen Jugend eine Stimme zu geben – ist letztendlich die publizistische Umsetzung des „Lifemakers“-Ansatzes.

Die Idee der „Lifemakers“ stammt von dem „bekanntesten arabischen TV-Imam“, dem ägyptischen Fernsehprediger Amr Khaled. In seinen seit 2004 sowohl im arabischen Raum als auch in Europa ausgestrahlten Fernsehshows wandte sich Amr Khaled speziell an die muslimischen Jugendlichen und ermutigte sie, sich in ihren jeweiligen Gesellschaften progressiv einzubringen. Er stärkte das Selbstwertgefühl junger Muslime, indem er ihnen deutlich machte, dass sie ihren Gesellschaften etwas zu bieten haben. Überall entstanden kleine Gruppen und Netzwerke, die sogenannten „Lifemakers“. In Deutschland begann diese Bewegung im Jahr 2005 und umfasste in kürzester Zeit etwa 400 aktive muslimische Jugendliche zwischen 16 und 30 Jahren, darunter ein hoher Anteil Mädchen und junge Frauen.

Inzwischen hat die Initiative „Lifemakers“ als Struktur zwar an Bedeutung verloren. Die dahinter stehenden Ideen Amr Khaleds finden aber in vielfältiger Form [4] ihre Umsetzung getreu seiner Botschaft an die Jugendlichen: „Wirkt in der westlichen Gesellschaft mit, integriert Euch und bietet ihr Dienstleistungen an; nicht um zu sagen, dass wir besser sind als sie, das ist kein Ziel! Das Ziel ist der Respekt Muslimen gegenüber. […] Ich denke, das Ziel eines jeden jungen Muslims im Westen sollte die Respektierung der eigenen Religion durch die Umwelt sein. Wie lässt sich das bewerkstelligen? Mit unserer Umgangsart, mit unserem Charakter, mit sozialem Engagement für die Menschen, durch unsere Mitwirkung und durch das Erlernen ihrer Sprachen. […] Von den muslimischen Jugendlichen müssen drei Dinge verlangt werden: vorbildlicher Charakter, überdurchschnittliche Leistung und Erfolg im Leben, damit sie respektiert werden. Das hier ist eine Gesellschaft, die auf Erfolg aufgebaut ist. Außerdem müssen dieser Gesellschaft Dienstleistungen angeboten werden.“ [5]

Islamische Vielfalt
Während sich ein Teil der muslimischen Jugendlichen zu neuen Initiativen und Netzwerken zusammenfindet, versuchen andere, ihren Platz in den klassischen Islamverbänden zu finden. Im Blick der Öffentlichkeit stehen dabei die in den Medien immer wieder hervorgehobenen vier Dachverbände: der Islamrat (Milli Görüs), der Zentralrat der Muslime (türkische und arabische Sunniten sowie Schiiten), DITIB (türkischsunnitischer Staatsislam) und VIKZ (Anhänger eines türkisch-sunnitischen Ordens). Das organisatorische Spektrum ist jedoch vielfältiger und umfasst weit mehr als „nur“ die klassischen Moscheevereine. In all diesen Vereinen und Gemeinden suchen auch Jugendliche ihre organisatorische Heimat. Ganz unterschiedlich gestaltet sich dabei die aktive Einbeziehung der Jugendlichen. Zum Teil haben sie die Leitung von den Älteren übernommen, führen als „nächste Generation“ die Arbeit der Gründungsgeneration weiter. Zum Teil tut sich die ältere Generation aber auch schwer damit, den Stab an die Jugend zu übergeben.

Für die Komplexität muslimischer Jugendkulturen spielt neben den unterschiedlichen religiösen Interpretationen und Anbindung an islamische Organisationen aber auch die soziale Schichtung eine Rolle. So werden ethnische/ nationale Bezüge am stärksten in einem eher mittelständischen, sozial integrierten und bildungsnahen Milieu von religiösen Bekenntnissen verdrängt, während es in den bildungsferneren Milieus oft zu einer Mischung von Religion und nationaler Herkunft kommt. Auch politische Konflikte in den Herkunftsländern der Familien prägen nationale Orientierungen von Jugendlichen. Bei den Jugendlichen türkischer Herkunft resultiert die Kombination aus ethnischer/nationaler und religiöser Orientierung aus einem von verschiedenen islamischen Organisationen oder dem Elternhaus geprägten Religionsverständnis, das als „türkisch-islamische Synthese“ bezeichnet wird. Herkunft, türkische Sprache und Kultur erhalten dabei eine quasi religiöse Bedeutung. Eine starke Orientierung der Vereinsvorstände auf das Herkunftsland verstärkt diese Entwicklung, stößt aber vor allem bei gesellschaftlich interessierten und engagierten Jugendlichen zunehmend auf Ablehnung.

Innerhalb dieses heterogenen Spektrums gibt es aber auch gezielte Bestrebungen, die internen Abgrenzungen und Segmentierungen zu überwinden und zu einer tatsächlichen und nicht nur nach außen dargestellten „islamischen Einheit“ zu gelangen. Die Grundlage dafür bildet eine panislamisch ausgerichtete, also von Nationalität, Sprache und Kultur losgelöste Islaminterpretation. [6] Das Verbindende ist allein die Religion, Herkunft und Sprache sind sekundär, weshalb diese Gruppen sehr pragmatisch die jeweilige Verkehrssprache, hierzulande also Deutsch, zur Kommunikation nutzen. Die sunnitisch-panislamischen Gruppierungen werden zwar von Jugendlichen türkischer oder arabischer Herkunft dominiert, insgesamt sind sie aber sehr multinational zusammengesetzt und üben auch auf junge deutsche Konvertiten beiderlei Geschlechts eine gewisse Anziehungskraft aus. Auch dieses Milieu unterteilt sich in verschiedene Szenen.

Jugendliche als Teil traditioneller Verbandsarbeit: Milli-Görüs-Jugend
Die größte Jugendszene der sunnitisch-panislamischen Strömung dürfte immer noch die Milli-Görüs-Jugend sein, allein aufgrund der seit über 35 Jahren in Europa und speziell in Deutschland etablierten, dichten Infrastruktur und der intensiven Kinder- und Jugendarbeit der Organisation. Die Anzahl der Mitglieder des Jugendverbandes (Milli-Görüs-Jugend / IGMG-Genclik) beläuft sich auf etwa 15.000 mehr oder weniger aktive Jungen und Mädchen [7] in Europa (etwa 80 Prozent davon in Deutschland). Zwar ist diese Szene in der gelebten Mitgliedschaft noch stark sprachlich und kulturell türkisch geprägt, die zugrunde liegende Milli-Görüs-Ideologie des im Februar 2011 im Alter von 84 Jahren verstorbenen Milli-Görüs-Führers Necmettin Erbakan ist in ihrer Theorie jedoch auf einen Panislamismus ausgerichtet und in ihrem Kern eine türkische Spielart der Ideologie der arabischen Muslimbruderschaft. Während die Mutterbewegung in der Türkei bereits im Sommer 2001 durch die Spaltung in Reformer und Traditionalisten an Bedeutung verloren hat und der traditionalistische Erbakan-Flügel, die Saadet-Partei, seit 2010 durch interne Streitereien und durch den Tod des ideologischen Kopfes wohl endgültig zu einem Fossil der Geschichte geworden ist, verzeichnete der nach wie vor mit der Saadet-Partei verbundene europäische Arm der Bewegung, die IGMG, nur einen leichten Rückgang ihrer Mitgliederzahlen. Wie lange der noch vor Erbakans Tod in der Türkei als neuer IGMG-Vorsitzender auserkorene Kemal Ergün, bisher Chef des Kölner IGMG-Regionalverbandes, die Einheit der IGMG in der jetzigen religiös-politischen Ausrichtung halten kann, bleibt abzuwarten. Vor allem in den bildungsnahen Kreisen der Milli-Görüs-Jugend treten die tradierten türkischkulturellen Elemente immer stärker zugunsten einer europäischen islamisch-konservativen Orientierung in den Hintergrund. Und auch die Abhängigkeit von der Mutterbewegung, der Saadet-Partei, wird von jungen IGMGFunktionären offen infrage gestellt.

Im Gesamtkonzept der Milli Görüs für Europa kommt der jungen Generation vor allem eine Aufgabe zu: Die Jugendlichen sollen als gute Muslime aktiv werden, da sie das Bild der Muslime prägen, und dieses Bild müsse ein positives, ein perfektes sein. Mit der Ende 2006 gestarteten Jugendoffensive wendet sich die IGMG jedoch primär an die Erwachsenen, die sich stärker um die Jugendlichen kümmern sollen, denn „schließlich gibt es noch zehntausend Jugendliche, die wir noch erreichen müssen und die vielen Problemen ausgesetzt sind. […] Es ist nicht genug, sie zu organisieren; wir müssen sie in unsere Gemeinschaft aufnehmen und sie für die Zukunft und für die Gesellschaft erziehen. Unser größter Wunsch ist, dass diese Jugendlichen im Sinne des Islam als gläubige, fleißige, ehrliche und erfolgreiche Personen in der Gesellschaft einen bedeutenden Platz einnehmen.“ [8] Das dazugehörige Projekt, das der IGMG-Jugendausschuss gestartet hat, wird als „zeitgenössische Dar-ul-Erkam-Schule“ („Gesprächskreise 2000“) bezeichnet und findet gleichzeitig überall in Europa statt. Es ist ein Projekt, das auf Nachbarschaft und Bekannte im Haus, in der Straße usw. abzielt, die zum Gespräch auf lokaler Ebene eingeladen werden sollen. Eingeladen sind Jugendliche „und alle, die sich jung fühlen“. In diesem Programm, so die Vorgaben, „werden Themen über den Glauben und das Gebet angesprochen. Vor allem aber werden wir die islamische Geschichte und das beispielhafte Leben unseres Propheten (saw) und seiner jungen Gefährten kennenlernen. Somit werden wir das Gemeinschafts- und Brüderlichkeitsbewusstsein stärken.“ Die Eltern sollen die Jugendlichen ermutigen, an diesem Programm teilzunehmen, und ihre Wohnungen als Ort der Gesprächsrunden zur Verfügung stellen. „Wir als Milli Görüs möchten die Jugendlichen in aller Hinsicht fördern. Wir sehen es als unsere Pflicht, ihnen jugendgerechte Begegnungsorte anzubieten. Es ist unsere größte Aufgabe, sie zu fleißigen, zielstrebigen und mit gutem Benehmen ausgestatteten Menschen zu erziehen.“ Dazu brauche man die Zusammenarbeit mit den Eltern, erklärt die IGMG. [9]

Neben dieser eher traditionellen Jugendarbeit des Verbandes über die Eltern laufen seit einiger Zeit Versuche, den Jugendlichen auf Bundes-, Regional-, Landes- und Lokalebene mehr Autonomie zu gewähren und damit die Mitbestimmung und Aktivierung der Jugendlichen zu erhöhen. Vor allem die IGMG-Studentenabteilung kann hier einige Erfolge für sich verbuchen. Letztendlich ist es der Versuch, die Jugendlichen bei der Organisation zu halten und zu verhindern, dass sie in die immer zahlreicher werdenden alternativen muslimischen Jugendszenen abwandern, seien es die „Pop-Muslime“, salafitische Gruppen oder das Fethullah-Gülen-Bildungsnetzwerk.

Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland
Im Unterschied zur Milli-Görüs-Organisationsstruktur verfolgen die anatolischen Aleviten eher einen kooperativen Ansatz, vergleichbar mit den Jugendorganisationen der politischen Parteien. In Deutschland gibt es mehrere Organisationen der anatolischen Aleviten, die größte und repräsentativste ist die „Alevitische Gemeinde Deutschland (AABF)“. Sie kooperiert mit dem „Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland (BDAJ)“, eine Selbstorganisation von alevitischen Jugendlichen im Alter zwischen 16 und 27 Jahren. Hier sammeln die Jugendlichen eigenständig Erfahrungen, einige professionalisieren sich, um dann später in der Alevitischen Gemeinde Funktionen zu übernehmen.

Die ca. 500.000 anatolischen Aleviten (Türken und Kurden aus der Türkei) in Deutschland werden unabhängig ihrer Selbstdefinition in den Statistiken unter „Muslime“ subsummiert. Sie selbst definieren sich z.T. als eigene Konfession innerhalb des Islam oder als aus dem Islam hervorgegangene oder vom Islam beeinflusste eigene Religionsgemeinschaft neben den Muslimen. Historisch ist das anatolische Alevitentum eine synkretistische Sonderform im Islam auf schiitischer Grundlage mit vorislamischen und islamisch mystischen Einflüssen. Aleviten beten nicht in der Moschee, sondern nutzen für ihre religiösen und sozialen Gemeindeaktivitäten Cem-Häuser, Männer und Frauen gemeinsam und nicht voneinander getrennt. Der Koran ist für Aleviten lediglich die Niederschrift von Offenbarungen, die kritisch gelesen werden dürfen. Sie fasten nicht im Ramadan und lehnen generell eine dogmatische Religionsauslegung und die Scharia ab. Lange Zeit wurden sie von der sunnitischen Mehrheit als Häretiker stigmatisiert und verfolgt. Diese Diskriminierungen setzten sich in Deutschland fort, so dass sich Jugendliche, die sich primär als Alevit begreifen, von Jugendlichen abgrenzen, die sich primär sunnitisch oder schiitisch als Muslim definieren.

Muslimische Jugend in Deutschland (MJD)
Die Muslimische Jugend in Deutschland (MJD) ist eine bundesweit organisierte deutschsprachige Organisation für muslimische Jugendliche zwischen 13 und 30 Jahren aus eher bildungsorientierten und sozial integrierten Schichten, darunter auch zahlreiche Jugendliche bikultureller Herkunft sowie Konvertiten. Sie stellt sich selbst als eigenständige und unabhängige Jugendorganisation dar. Auch wenn diese Darstellung nicht ganz der Realität entspricht, so ist die MJD immerhin die größte Organisation der sozial engagierten sunnitisch-konservativen „Pop-Muslime“.

Gegründet wurde die MJD 1994 nach dem Vorbild der britischen Young Muslims [10] unter Leitung des Lützelbacher Vereins „Haus des Islam (HDI)“. Der erste Amir und Vorsitzende der MJD war Muhammad Siddiq (Wolfgang Borgfeld), ein deutscher Konvertit und Leiter des HDI. Der Verein HDI ist bis heute Pate der MJD, u.a. bei der Veranstaltung der jährlichen MJD-Meetings oder der Brüder- und Schwestern-Lager. Personelle Verflechtungen zwischen ehemaligen MJD-Vorsitzenden und Organisationen, die der Muslimbruderschaft zugerechnet werden, speziell die Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD), [11] die Empfehlung verschiedener Autoritäten dieses Spektrums als Referenten durch das Lokalkreis-Handbuch der MJD und die von der MJD über ihren ehemaligen Buchverlag Greenpalace verbreitete religiöse Literatur haben der MJD wohl nicht zu Unrecht den Ruf einer inoffiziellen Jugend- und Eliteorganisation dieses politisch-islamischen Spektrums eingebracht. [12]

Die MJD ist gegliedert in Lokalkreise, der Vorstand der MJD nennt sich Schura, Vorstandsvorsitzender ist der Amir. Zwar sind in der Schura inzwischen mehr junge Frauen als Männer vertreten, der Amir war aber bisher stets männlich. Die registrierte Mitgliederzahl der MJD soll sich zwischen 600 und 900 bewegen, zu den Jahrestreffen melden sich aber über 1.000 muslimische Jugendliche an, darunter ein hoher Anteil junger Frauen. Obwohl männliche und weibliche Mitglieder der MJD auch gemeinsam zu regionalen Treffen reisen, treffen sich die „Schwestern“ und „Brüder“ des Vereins an unterschiedlichen Wochentagen getrennt. Die konservativ-islamische Geschlechtertrennung wird bei der MJD eingehalten und praktiziert.

So gibt es für Mädchen und Jungen jeweils eigene mehrtägige Jugendlager, bei denen das Gemeinschaftsgefühl und der Gruppenzusammenhalt gestärkt werden sollen. „Unter den Geschwistern der Muslimischen Jugend fühlen wir uns zu Hause, mit keiner anderen Gemeinschaft fühlen wir uns so sehr verbunden“, resümiert ein langjähriger MJD-Funktionär seine Zeit bei der Organisation. Die Jugendarbeit der MJD ist hoch professionell, wie die Handbücher für die Lokalkreise mit ihren Hinweisen für eine erfolgreiche Organisation von Jugendgruppen zeigen. [13] Im Zentrum der MJD-Jugendarbeit steht das Bemühen, die religiöse Selbstdefinition als gläubiger und praktizierender Muslim mit dem Leben in Deutschland zu verbinden. Beides wird im Einklang und nicht im Widerspruch zueinander gesehen, definiert und den Jugendlichen vermittelt. Elemente urbaner, nicht religiöser Jugendkulturen, wie Hip-Hop oder Graffiti, werden adaptiert und mit den eigenen religiösen Inhalten gefüllt.

Die Arbeit der MJD ist darauf ausgerichtet, „nichts gegen den Willen der Eltern zu machen, und dass die Eltern auch zufrieden sind mit dem, was wir leisten, damit es da keine Probleme gibt“, so der ehemalige Vorsitzende der MJD, Mohammed Nabil Abdulazim. „Jüngere“, so Abdulazim, „können in der Regel besser auf die Jugendlichen eingehen, sind flexibler, und die Jugendlichen fühlen sich von ihnen besser verstanden. Die Erfahrung der Älteren ist aber trotz allem nicht zu ersetzen. Wir können als Jugendliche immer nur einen gewissen Input geben, aber durch Lebenserfahrung und Weisheit können auch Ältere einen wichtigen Beitrag geben.“ [14]

Sowohl die Milli-Görüs-Jugend als auch die MJD sind Teil eines europäischen Netzwerkes, zu dem neben der Jugend- und Studentenorganisation FEMYSO auch der offiziell in Irland ansässige Europäische Fatwa-Rat (European Council for Fatwa and Research – ECFR) gehört. An dessen Spitze steht der einflussreichste Gelehrte der arabischen Muslimbruderschaft, Yusuf al-Qaradawi. In einem Interview mit ufuq.de relativiert der aktuelle MJD-Vorsitzende, Hischam Abul Ola, nicht nur die Einbindung seiner Organisation in dieses Netzwerk, sondern auch dessen politisch-ideologische Ausrichtung. „Gleich wie man zum ECFR stehen mag und wie man ihn ideologisch zuordnet – unbestreitbar ist, dass er zu den wenigen gehört, die, zumindest in Teilbereichen, zufriedenstellende Antworten für religiöse Muslime in Europa liefern“, erläutert Abul Ola das Verhältnis der MJD zum ECFR. Zu den Positionen Qaradawis befragt, dass außerehelicher Sexualverkehr und Homosexualität als schwere Sünden auch mit drastischen Körperstrafen bis hin zur Todesstrafe geahndet werden sollen und Selbstmordattentate in Israel legitim seien, erklärt der MJD-Vorsitzende, dass seine Organisation „Qaradawi nie als für uns wichtige Autorität bezeichnet“ habe. „Wir haben uns lediglich in einzelnen Fragen auf den ECFR bezogen – etwa zu Fragen des Reisens, der Musik und der Teilnahme an Wahlen. In Fragen, bei denen wir uns nicht auf ihn beziehen, haben wir eine erkennbar eigene Position. In einigen Fällen betreffen uns seine Ansichten als deutsche Jugendorganisation nicht. Das ist vor allem bei außenpolitischen Themen der Fall“, so Abul Ola. [15]

Salafitische Strömungen
Distanzierter zur nichtmuslimischen Umwelt und kompromissloser in ihrem Islamverständnis verhalten sich die an fundamentalistischen saudi-arabischen Gelehrten ausgerichteten salafitischen Gruppen. Sie propagieren eine absolute Souveränität Gottes in allen Lebensbereichen und orientieren sich am Vorbild der „lauteren Vorfahren“ (al-salaf al-salih) und damit an einem fiktiven „Urislam“, einem vermeintlich reinen Islam zu Zeiten des Propheten Mohammad und seiner Nachfolger im 7. und 8. Jahrhundert. Kennzeichnend für diese Strömungen ist der Missionseifer, der Muslime wie Nichtmuslime betrifft (da‘awa), die Abwertung all derjenigen, die nicht ihrer dogmatischen Islaminterpretation folgen [16], sowie die extreme Ablehnung der Schiiten als „Sekte“ und „Abweichung vom Islam“. Die männlichen Anhänger dieser Strömung (gerade die Jugendlichen) fallen in der Öffentlichkeit durch Barttracht und orientalisch anmutende Kleidung auf, die Mädchen und Frauen durch den Hijab, weite Kleidung, die den Körper bis auf Gesicht und Hände verhüllt. Besonderen Wert legen Salafiten auf die Einhaltung der konservativen Ethik- und Moralvorstellungen: Strenge Kleidervorschriften, Geschlechtertrennung und das Verbot von außerehelicher Sexualität sind Dogmen, mit denen die moralische Überlegenheit „des Islam“ gegenüber der als dekadent und materialistisch beschriebenen demokratischen Gesellschaft demonstriert werden soll. Nur ein „sündenfreies“ Leben im Dienste Gottes garantiere den Einzug ins Paradies – statt auf ewig in der Hölle zu schmoren. Radikale salafitische Strömungen propagieren darüber hinaus Gewalt als legitimes Mittel im Kampf gegen die „Feinde des Islam“. Jeder Muslim sei zum jihad (hier „heiliger Krieg“) verpflichtet, wenn der Islam irgendwo auf der Welt aktiv unterdrückt werde.

In Deutschland tritt die salafitische Bewegung seit 2005 offensiv missionierend in Erscheinung und findet vor allem bei Jugendlichen Anklang, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, ob aus muslimischem oder nichtmuslimischem Elternhaus. Man unterscheidet aktuell vier relevante Strömungen – mit fließenden Übergängen: die puristische (auf das eigene private Leben konzentriert); die politisch-missionarische mit Ablehnung von Gewalt (Mehrheit); die politischmissionarische einschließlich der Legitimation des bewaffneten Jihad sowie die jihadistische. Das Internet und die sozialen Netzwerke sind überfüllt mit den deutsch- und türkisichsprachigen Videos salafitischer Vorträge, Clips religiöser Propagandalieder oder ideologischen Schriften. Ob durch mehrtägige Seminare, regelmäßige Vortragsnachmittage, Infostände in Fußgängerzonen oder Großevents, die salafitischen Wanderprediger sind längst zu einer Herausforderung für alle muslimischen Gemeinden geworden, sprechen sie doch die Jugendlichen in einer Weise an, wie es die traditionellen Imame nicht vermögen. Sie bieten den Jugendlichen eine klar abgrenzbare Identität, eine Gemeinschaftsidentität und ein übersteigertes Selbstwertgefühl, u.a. mit ihrem Anspruch, die „einzig richtige“ Islaminterpretation zu verkünden. Das Leben im Hier und Jetzt wird einem einzigen Ziel unterstellt: der Hoffnung auf das wahre Leben im Paradies. Die charismatischen Autoritäten [17] mit ihrer dichotomen Weltsicht von „richtig“ und „falsch“, „gut“ und „böse“ vermitteln den Jugendlichen eindeutige Werte und geben ihnen Halt und Orientierung. Gleichzeitig sprechen sie das Gerechtigkeitsempfinden der Jugendlichen an, indem sie Diskriminierungserfahrungen von Muslimen hierzulande in einen Kontext mit Unterdrückung und Krieg stellen und das Bild einer globalen Opfergemeinschaft zeichnen. „Dass Muslime in Deutschland und weltweit unterdrückt würden, wogegen man sich zu Recht wehren müsse, wird zum Teil einer ganzen Welterklärung und ist als solcher ein wesentlicher Aspekt salafitischer Propaganda”. [18]

Knapp 5.000 Anhänger sollen die salafitischen Strömungen in Deutschland derzeit haben, wobei die Zahl der Jugendlichen nicht bekannt ist. Die Zahl der jihadistisch orientierten Salafiten beziffert der Verfassungsschutz auf etwa 200. Die Bedeutung der salafitischen Strömungen beruht jedoch nicht auf der Zahl ihrer Anhängerschaft. Es sind vor allem die Angebote im Internet, die den Einfluss dieser Strömungen ausmachen. „Hier verfügen sie über eine klare Deutungshoheit gegenüber anderen Angeboten, die alternative Auslegungen des Islam bestärken könnten. Jugendliche, die im Internet nach Informationen über den Islam suchen, landen insofern mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Seiten salafitischer Akteure“. [19]

Zwischen Ohnmacht und Aktivität
Im Unterschied zu den bildungsnahen und sozial integrierten islamistisch orientierten Jugendlichen, die ihren gesamten Lebensalltag entsprechend ihrer politisch-ideologischen oder dogmatisch-religiösen Orientierung gestalten, ihre Überzeugung leben und dafür auch aktiv werden, gestaltet sich die Affirmation gegenüber radikalen islamistischen Gruppierungen in Kreisen eher bildungsferner und sozial desintegrierter muslimischer Jugendlicher vor allem rhetorisch. Sie begreifen sich aufgrund ihres muslimischen Familienhintergrundes als Teil einer Weltgemeinschaft und leiten aus dem positiven Bezug auf die radikalen und terroristisch agierenden Jihad-Gruppen, deren Führungspersonen und „Märtyrer“ für sich selbst ein Überlegenheitsgefühl und ein übersteigertes Selbstwertgefühl ab. Es ist eher eine Kompensation erlebter eigener Ohnmacht, Unzulänglichkeit und Schwäche, Perspektivlosigkeit und eine Flucht aus dem Alltag. Die Selbstaufwertung erfolgt größtenteils über das Internet und die dort veröffentlichten Gewaltvideos mit Szenen aus den zahlreichen aktuellen Konflikten. Im Alltag äußern sich diese Bezüge bei den Jugendlichen nicht durch religiöses Verhalten oder Praktizieren der Religion, sondern eher in Form von Sprüchen, aggressiven verbalen Abgrenzungen entlang der Linie „Muslim“ – „Nichtmuslim“ und einem das Männliche, das Starke betonenden Habitus und Outfit. Eine sehr wohl kleinere, schwer zu schätzende Anzahl von Jugendlichen geht über diese formale und eher rhetorische Identifikation hinaus. Sie beziehen über das Internet nicht nur die audiovisuellen Propagandamaterialien, sondern auch die zahlreichen religiös verbrämten ideologischen Schriften und Anweisungen und machen sie sich zu eigen. Gleichzeitig vernetzen sie sich über Diskussionsforen und es entsteht eine virtuelle Gemeinschaft, die den Beteiligten das Gefühl gibt, einer weltweiten starken Gemeinschaft anzugehören, auch wenn sie im Alltag recht einsam sind.

Das Internet, vor allem die sozialen Netzwerke und die breite Bloggerszene, ist aber auch der Raum für progressive Debatten und die Erarbeitung neuer Identitätsansätze: Patchwork-Identitäten mit Wertpositionen, die sehr stark aber nicht ausschließlich aus der Religion abgeleitet werden. Diese jungen Muslime zeichnet ein hohes Selbstwertgefühl aus verbunden mit einer uneigennützigen Einsatzbereitschaft – für die Gesellschaft an sich und für die Muslime im speziellen. Diskriminierungen und Ablehnungen durch diese Gesellschaft spornt sie eher an, als dass sie sich entmutigen lassen. Elemente der Popkultur, ein eher konservatives Religionsverständnis und soziales und politisches Engagement kennzeichnet diese muslimische Jugendszene. Hier entsteht eine kleine, aber recht selbstbewusste Elite, die entweder den traditionellen islamischen Verbänden neuen Schwung geben wird, so man sie denn lässt, oder „dem Islam“ in Deutschland in all seinen Ausprägungen ein eigenes Gesicht verleiht, dem sich diese Verbände werden stellen müssen. Die u. a. mit dem Namen Sarrazin und der Frage, „ob der Islam nun zu Deutschland gehöre oder nicht“, verbundenen ausgrenzenden Debatten des letzten Jahres haben vor allem diese engagierten Kreise junger Muslime getroffen und ein wenig den Schwung dieser Entwicklung gebremst.

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Anmerkungen

[1 „Pssssst, über solche Themen redet man doch nicht!“, unter: islam.de/19814

[2 Siehe: „Über uns“ auf: www.cube-mag.de

[3 muslime.tv

[4 Mediale Initiativen, lokale Jugendgruppen, Vereine, Internetnetzwerke usw.

[5 Zitiert nach Islamische Zeitung, 14.10.2003, „Bezug zur Gesellschaft herstellen – Gespräch mit Amr Khaled“.

[6 Bei den einzelnen Szenen klaffen hier Theorie und Praxis noch stark auseinander, was aber nichts am anvisierten Ziel ändert.

[7 Bei der IGMG werden nur die Jungen ab 12 Jahre der Jugendabteilung zugeordnet, für die Mädchen gibt es eine eigene Jugendabteilung innerhalb der Frauenabteilung.

[8 24. November 2006, Freitagspredigt (Hutba): Gesprächskreise für Jugendliche, unter: www.igmg.de/islam/freitagspredigt/artikel/2006/11/24/413.html?L=%2%2Fphprojekt%2Flib%2Fconfig.inc.php.html.html

[9 Ebenda.

[10 Jugendabteilung der Islamic Society of Britain, siehe: www.isb.org.uk/pages06/home.asp#

[11 Siehe u.a. Verfassungsschutzbericht Berlin für das Jahr 2010, Seite 184 ff, unter: www.berlin.de/imperia/md/content/seninn/verfassungsschutz/vs_bericht_2010_deutsch.pdf?start&ts=1310032941&file=vs_bericht_2010_deutsch.pdf

[12 Siehe auch aktuelle gerichtliche Auseinandersetzung der MJD mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz: www.mjd-net.de/verfassungsschutzbericht-ueber-muslimische-jugend-deutschlandhaelt-gerichtlicher-pruefung-nicht-stand und www.berlin.de/sen/justiz/gerichte/vg/presse/archiv/20120216.1640.366241.html

[13 Siehe: www.lokalkreis-handbuch.de

[14 Zitiert nach Islamische Zeitung: Yasin Alder, 3.1.2007: Hintergrund: Wie sich gegenüber den Älteren verhalten?

[15 Ufuq.de, Newsletter Nr. 17/Mai 2010: „Der Islam ist unsere Religion, Deutschland unsere Heimat“. Ein Gespräch mit Hischam Abul Ola, Vorsitzender der Muslimischen Jugend in Deutschland, über die Arbeit der MJD.

[16 Diese Abwertung kann soweit führen, dass Muslime zu Nichtmuslimen (Ungläubigen) erklärt werden: takfir – jemanden zum Nichtmuslim (kafir, Pl: kuffar) erklären.

[17 Der ehemalige Profiboxer Pierre Vogel ist zwar der Bekannteste, er ist aber nur einer von Vielen.

[18 Ausführlich zum Thema Salafismus in: Dantschke, Mansour, Müller, Serbest: „Ich lebe nur für Allah“ – Argumente und Anziehungskraft des Salafismus. Schriftenreihe Zentrum Demokratische Kultur, Berlin Sept. 2011, www.zetrum-demokratische-kultur.de

[19 Götz Nordbruch: „Deutsch und/oder Muslim? – Muslimische Jugendliche in Deutschland” unter: ufuq.de/newsblog/1120-deutsch-undoder-muslim-muslimische-jugendliche-in-deutschland