Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 5-2005, Rubrik Nachrichten

Das Wochenende der antirassistischen Adoptivenkel

von Oskar Piegsa, FREIHAFEN/respekt* AK

Verstärkte NPD Präsenz in Harburg, die Eröffnung eines rechten Life-Style-Ladens in einer Seitenstraße der Reeperbahn und eine provokante Nazi-Party, die Anfang November im Herzen St. Paulis den Clubbetrieb am Nobistor flach legte – die Szenen, die sich im vergangenen Sommer und Herbst in und um Hamburg abspielten, verhalfen dem Aktionswochende »respekt* – gegen alltägliche Gleichgültigkeit«, das am 19. und 20. November 2005 in die dritte Runde ging, zu unerfreulicher Brisanz.

Einen Raum für Gespräche und Denkanstöße über Gleichsein und Anderssein möchte respekt* bieten und diesem Anspruch – zunächst einmal streng wörtlich genommen – wird das Aktionswochenende auch gerecht. Das in warmen Rot- und Orangetönen ausgeleuchtete Movimento in St. Georg fühlt sich auf Anhieb gut an. Jugendliche wuseln zwischen Café und Kickertisch umher, lassen sich mit Statements gegen Rassismus fotografieren oder bleiben schon im Vorraum interessiert und irritiert hängen, um sich durch die Ausstellung der »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten e. V.« über die Neonazi-Szene in Deutschland zu informieren.

Wie in den Vorjahren beginnt der offizielle Teil von respekt* auch 2005 mit einem Workshop-Programm am Samstagnachmittag. Trotz der zeitgleichen Demo gegen die Kiezpräsenz lokaler Nazis sind die Seminare dabei noch besser besucht als im Vorjahr. Besonderer Aufmerksamkeit erfreut sich der Workshop von Zissi Sauermann und Thorsten Hahnel vom miteinander e.V., die extra aus Halle in Sachsen-Anhalt angereist sind, um aus ihrer Arbeit zu berichten und Hilfestellungen zur Opferhilfe rechter Übergriffe zu leisten. Neben dem – ergänzend zum inhaltlichen Teil angebotenen – Swing- und Lindy-Hop-Crashkurs der Tanzlehrerin Kerlin Da Silva werden auch die eher theoretischen Workshops zu Antisemitismus, Rassismus und Geschichtsrevisionismus gut angenommen. »Was ist Rassismus eigentlich?«, fragt die Diplom-Pädagogin Tina Scheef sich und ihre Teilnehmer; Olaf Kistenmacher von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme sucht nach aktuellen Spuren des Antisemitismus in unserer Gesellschaft und Journalist und Buchautor Andreas Speit fühlt u.a. an Hand des Filmes »Der Untergang« dem gegenwärtigen Geschichtsverständnis auf den Zahn.
Der Samstag findet seinen Höhepunkt in dem kulturell/politischen Abendprogramm durch das – wie in vergangenen Jahren – ein Überlebender des Naziterrors führt: Günter Discher, mit seinen 80 Jahren und im feinen Anzug gleichermaßen ältester und bestangezogenster DJ Deutschlands berichtet aus seiner widerspenstigen Jugend im Nationalsozialismus. Discher war in der Hamburger Swingjugend aktiv, die sich der Normkultur durch die faschistischen Jugendorganisationen entzog und durch anglo-amerikanische Musik, Mode und Lebensfreude bald als jugendkulturelle Entartung unter-drückt und verfolgt wurde.

Der Altmeister beginnt seinen Auftritt surreal. Was als atmosphärischer Swing-Abend angekündigt und erwartet worden war, beginnt als »Radio zum Zuschauen«. Auf der Bühne, die eigens für diesen Zweck mit tapezierten Stellwänden, Ohrensessel und (nicht hundertprozentig stilechtem) Nierentisch in ein altertümliches Wohnzimmer umdekoriert worden war, nimmt Günter Discher Platz und beginnt sein Programm. Er kündigt einen Swingtitel an, erzählt kurz etwas zu seiner Geschichte, setzt sich, spielt die knisternde Aufnahme komplett aus, erhebt sich nach den dreieinhalb Minuten Musik aus seinem Sessel, kündigt den nächsten Titel an, drückt Play, setzt sich wieder. Zwischendurch Anekdoten, wie die von einer Big Band, die auf den ausdrücklichen Naziwunsch, man solle doch nun einmal eine deutsche Komposition spielen und nichts amerikanisches mehr, »Bei mir bist du schön« des jüdischen Komponisten Sholom Secunda anstimmte. Oder die von dem Orchester, das von den Notenbögen die Kopfzeilen abschnitt, so dass die Nazis gar nicht erst erkennen konnten, ob es sich bei den instrumentalen Titeln um eine deutsche oder ausländische Komposition handelte.

Wenn auch mancher anderes erwartet haben mag – zwei aufgebrezelte jugendliche Swingboys, die in ihre Nadelstreifenanzügen offensichtlich weniger Geschichtsunterricht erwartet hatten verschwinden bald wieder polternd von der Bildfläche – werden alle, die sich auf die ungewohnte Atmosphäre einlassen von Dischers schelmischem Charme in den Bann geschlagen. Immer wieder bekommt man während des Vortrages von der Seite zugeflüstert, einen solchen Opa wolle man doch auch mal adoptieren. Mindestens, um beim familiären Zusammenkommen an Weihnachten die Stille Nacht durch ein paar Hot-Scheiben aufgemöbelt zu bekommen. Als Discher kurz und mit plötzlich brüchiger Stimme Nachfragen zu seiner Verschleppung ins Jugendkonzentrationslager Mohrigen beantwortet, wird jedoch plötzlich der Kontext klar. Das Schmuggeln und Verkaufen von Jazzplatten stellte in den frühen vierziger Jahren keine Streiche dar, sondern, wenn auch vielleicht eher unfreiwillig, lebensgefährliche Widerstandsaktionen.

Als Discher dann nach seinem Vortrag zu Jazzgeschichte und NS-Alltag und dem Beantworten der Publikumsfragen das Mikrophon aus der Hand legt, um in den informellen Teil des Abends überzugehen, reißt es die bereits als frenetische Mitwipper aufgefallenen Anwesenden aus ihren Sitzen. Bald wird klar, wieso die mutigeren Zeitgenossen von Discher diese Musik dem von oben diktierten Militärgemarsche vorzogen. Jugendlicher Hedonismus und politische Selbstbestimmung kann durchaus einen mitreißenden gemeinsamen Nenner finden. Und während vorne elegant bis ausgefallen geschwooft wird, staunt weiter hinten so mancher, der mit Weinglas in der Hand die Volltotale wahrt, mit welcher Leichtigkeit es Discher, der zum Lesen seiner CD-Etiketten die Scheiben bis 10 cm vor seine Augen führen muss, gelingt, zwei Dutzend Adoptivenkel zum Tanzen zu bringen. Kein Wunder also, dass es bis weit nach Mitternacht dauert, bis DJ Discher die Stimmung langsam herunterfährt, sich in seinen Mantel schlägt und mit einem Augenzwinkern an die noch versammelten Damen im Raum zu seinem Taxi aufbricht.
Dass nach einer solchen Nacht ein nahrhaftes Frühstück dringend Not tut, mag einer der Gründe sein, warum die Frühstücksmatinee am Sonntagvormittag, mit der respekt* traditionell ausklingt, mit über 100 Anwesenden ebenfalls gut besucht ist. Zum Kaffee und O-Saft gereichen die »Swinging Hafenjungs« Livemusik und nachdem die letzten Brötchen bestrichen sind, lädt der Vortrag »Themen der Rechten – Themen der Mitte?« noch einmal zum Nachdenken ein. Leider schafft es der Referent Alexander Häusler nach dem Vorstellen einiger neurechter Publikationen und Think Tanks nicht, das durchaus dubiose Nationalverständnis der »Du bist Deutschland«-Kampagne für das junge Publikum verständlich aufzubereiten. Vom völkischen Weltbild ist da die Rede, von Sozialdarwinismus, einmal gar vom adornischen Theorem – Zwischenfragen mit der Bitte um Erläuterung sind dringend angebracht und werden von dem Politikwissenschaftler nicht immer dankbar beantwortet.

Dennoch sind die Veranstalter aus der Arbeitsgemeinschaft freier Jugendverbände (AGfJ), des Pfadfinderinnen und Pfadfinder Bund Nord und die Medienpartner des Jugendmagazins FREIHAFEN mit der Veranstaltung hoch zu frieden. Dass es trotz »Du bist Deutschland« nicht hip ist, unreflektiert mit der Geschichte umzugehen, dass es trotz immer frecheren Nazivorstößen auch in Hamburg immer noch Jugendliche mit Mut zum Widerstand gibt, hat die auf über 300 Teilnehmer gestiegene Nachfrage an respekt* bewiesen. Der Arbeitskreis, der sich zur Organisation des Wochenendes in der AGfJ zusammen gefunden hat, will daher nicht loslassen und zusätzlich zu dem für kommenden Herbst geplanten vierten Auflage des Aktionswochenendes unregelmäßig kleinere Veranstaltungen wie Film- und Informationsabende anbieten. Wer sich für respekt* interessiert oder zukünftige Veranstaltungen mitgestalten will, ist herzlich eingeladen. Kontakt: mail@agfj.de

Ein ausführliches Interview mit Günter Discher ist in FREIHAFEN 6/05 erschienen, eine Buchrezension zu weiterer Lektüre zur Hamburger Swingjugend in FREIHAFEN 3/05, beide online in der Magazinsektion auf www.freihafen.org.