Vor 25 Jahren stieß die Datensammelwut des Staates auf breiten Protest in der Bevölkerung. Eine anberaumte Volkszählung, die laut Regierung planungstechnisch wichtige Daten wie Bevölkerungszahl oder Mängel in der Infrastruktur bestimmen sollte, scheiterte vor dem Bundesverfassungsgericht aufgrund eklatanter Datenschutzmängel. Das erscheint heute wie ein Märchen aus alter Zeit – aus der Zeit vor der virtuellen Kommunikation. Deren technische Voraussetzung, die PC-Vernetzung via TCP/IP, war damals allein für IT-Experten kein Unwort. Erst zehn Jahre später begann mit einem Webbrowser namens Mosaic der Siegeszug des Internets, das derweil ein Jedes und einen Jeden willkommen ins globale Netz spinnt. Heute bloggen Schüler über Lehrer, Schulstunden und erste amouröse Abenteuer; Studenten tauschen sich über StudiVZ nicht nur über Prüfungsordnungen aus; die Netzwerkplattform Facebook, ein virtuelles Poesiealbum, kennt weltweit über 66 Millionen Nutzer; und auch Opa gibt über den ausgemusterten PC des Enkels bereitwillig seine Privatdaten ein, um an einem Preisausschreiben teilzuhaben.
Was ist geschehen? Im Hype ums »Mitmach-Netz«, dem sogenannten Web 2.0, schwinden bei vielen alle Hemmnisse, private Daten, Meinungen und persönlichen Erlebnisse wohlfeil ins Netz zu stellen oder an Dritte weiterzureichen. Allen Warnungen von Datenschützern zum Trotz vertrauen Millionen ihre Privatdaten Diensten wie Google oder Online-Communities wie Facebook an – und machen damit ihre Daten auch gewerblich nutzbar für eine auf die Person maßgeschneiderte Online-Reklame. Wurde also vor 25 Jahren noch die Privatheit der Bürger verteidigt, so helfen heute viele »Internet-User« bei der Volkszählung 2.0 freiwillig oder zumindest unbedacht mit.
Ein Blick zurück. »Zählt nicht uns – zählt eure Tage!« Mit dieser Parole zogen Demonstranten 1983 gegen die geplante Volkszählung durch die Straßen. 1984 stand vor der Tür, das symbolische Jahr für den Orwell‘schen Überwachungsstaat. Der massenhafte Protest siegte. Zumindest teilweise.
Das Bundesverfassungsgericht gab einer Klage von zwei Hamburger Rechtsanwältinnen statt, wodurch die Volkszählung, die u.a. die Speicherung und Weitergabe von personenbezogenen Daten an Meldeämter vorsah, gekippt wurde. In der unkontrollierten Speicherung und Weitergabe von Personendaten sahen die Verfassungsrichter einen Eingriff in die Grundrechte der freien Persönlichkeitsentfaltung und der Menschwürde. Um einem potentiellen Datenmissbrauch einen Riegel vorzuschieben, führte das später sogenannte »Volkszählungsurteil« von 1983 den Gedanken der »informationellen Selbstbestimmung« als Grundrecht ein.
Die Begründung der Verfassungsrichter war seinerzeit weitsichtig (und sei deshalb ausführlich zitiert). Die Richter bezogen den Gedanken informationeller Selbstbestimmung »unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung« (1983!) nicht nur auf die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen sondern auch auf die Voraussetzungen einer demokratischen Gesellschaft. Ohne die Freiheit des Einzelnen gäbe es keine Demokratie. Daher widersprachen die Verfassungsrichter einer Situation, »in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß. Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. [...] Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist. Hieraus folgt: Freie Entfaltung der Persönlichkeit setzt unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraus. [...] Das Grundrecht gewährleistet insoweit die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.« (BVerfGE 65, 1)
Ein Blick nach vorn. Was kommen wird, läßt sich z.B. an Googels Zielen ablesen. Zwar stehe Google noch »ganz am Anfang der Bewältigung der Informationsmenge«, sagte Google-CEO Eric Schmidt gegenüber der Financial Times: »Wir können noch nicht einmal die grundlegendsten Fragen beantworten, weil wir zu wenig über Sie wissen. Das ist der wichtigste Aspekt von Googles Expansion.« Doch »die Algorithmen werden besser und wir werden besser personalisieren können.« Dabei helfen Dienste wie iGoogle und kostenlose Mail-Konten, über die persönliche Daten, Vorlieben und Surfverhalten eingesammelt und Nutzerprofile erstellt werden können. Ziel sei es, so Eric Schmidt weiter, »möglichst viele persönliche Daten zu sammeln, so dass man den Benutzern eines Tages sagen könne, welchen Job sie nehmen und was sie morgen machen sollen. Nebenbei würde dadurch das Unternehmen an Einfluss gewinnen, das sich der Mission verschrieben hat, die Informationen der ganzen Welt zu organisieren.« (englische Originalversion in: Financial Times, 22. Mai 2007)
Eric Schmidts Auskünfte über Googles Ziele sind von bemerkenswerter und ungeschminkter Klarheit. Da schickt sich eine Firma an, die Informationen der »ganzen Welt« zu organisieren und dem Individuum sagen zu wollen, was er zukünftig machen soll. Man deute diese Aussage einmal im Kontext des vorher zitierten »Volkszählungsurteils« über den Zusammenhang von individueller Freiheit und Selbstbestimmung des Individuums und einer demokratischen Gesellschaft. Was Google plant, ist – auf’s Ganze gesehen – nichts weniger als die Aushöhlung dieses substantiellen Verhältnisses zugunsten kommerzieller Interessen. Wenn das Individuum vorausberechenbar wird oder es allein sich angehalten sieht, mit Verhaltensempfehlungen von Dritten konform zu gehen, dann schwindet der letzte Rest Freiheit aus der Gesellschaft.
Alles rechtens? Wer hier jedoch aufschreit und Google oder vergleichbare Online-Dienste als »böse« schilt oder gar von Stasi 2.0 spricht, lässt Eines außer Acht. Alle Daten, die Google hat, stellen Internet-User der Firma in »informationeller Selbstbestimmung« über die Nutzung kostenloser Dienste zur Verfügung. Es ist der unbedachte Bürger also selber, der Google zur Datenkrake wachsen lässt. Was hier über seinen Kopf hinauswächst und sich seiner Kontrolle entzieht, hat er selbst mit ausgelöst. Wer folglich an dieser Stelle »Haltet den Dieb« ruft, sollte zunächst darauf schauen, welche Spuren, Meinungen und Daten er selbst im Internet hinterlässt. Freilich wäre darüber hinaus auch zu fragen, ob der Betrieb von global genutzten Internetdiensten wie Suchmaschinen mit ökonomischen Verwertungsinteressen zusammen passt.
Ein Blick auf uns. Was folgt aus all dem für die Jugendverbandsarbeit? Zunächst stellt sich die Frage, ob Jugendverbände nicht unversehens oder in verkehrter Weise an der Masche Web 2.0 selber mitstricken. Wenn Datenbanken oder Online-Communities (wie zukünftig um die JuLeiCa herum) eingerichtet werden, dann muss Datenschutz und Aufklärung der Nutzer über das, was mit ihren Daten geschieht, an erster Stelle stehen. Ohne Wenn und Aber. Weiterhin ist das weite Feld von informationeller Selbstbestimmung junger Menschen im Internet ein Bildungsthema für Jugendverbände, das bislang eher im Argen liegt. Damit informationelle Selbstbestimmung wahrgenommen werden kann, bedarf es der Aufklärung über implizite Verstrickungen bei der »Preisgabe und Verwendung persönlicher Daten« im Internet. Das wäre Bildungsarbeit am mündigen Bürger »im virtuellen Zeitalter«.
Von Jürgen Garbers, LJR-Bildungsreferent