Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 3-2009, Rubrik Titelthema

»Eine Verpflichtung gibt es ja gerade nicht.«

Helga Trüpel (Mitglied im Europäischen Parlament, Fraktion der Grünen / Freie Europäische Allianz, stellvertretende Vorsitzende im Ausschuss für Kultur und Bildung) im Interview über die neue EU-Jugendstrategie und die Einflussmöglichkeiten des EU-

?: Frau Trüpel, die neue EU-Jugendstrategie »Investitionen und Empowerment« wird kommen – inwieweit war diese ein Thema im Europäischen Parlament?
Helga Trüpel:
Noch nicht – zeitbedingt. Die EU-Kommission hat ihren Vorschlag zur Jugendstrategie am 27. April 2009 veröffentlicht. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Ausschuss für Kultur und Bildung (CULT), der inhaltlich zuständig ist, seine letzte Sitzung vor der EU-Parlamentswahl im Juni 2009 bereits hinter sich. Der Ausschuss kann sich erst jetzt nach der Neukonstituierung mit dem Thema beschäftigen. Der Weg wird so aussehen: Wir werden einen Berichterstatter oder eine Berichterstatterin für die Jugendstrategie festlegen, dann im CULT-Ausschuss anhand des noch zu erstellenden Berichtes die Jugendstrategie beraten und gegebenenfalls Änderungsanträge im Parlament einbringen. Das wird entweder zum Ende dieses Jahres oder Anfang 2010 geschehen.

?: Erklären Sie uns bitte den Weg zur neuen EU-Jugendstrategie.
H.T.:
Als Hüterin der EU-Verträge hat die EU-Kommission immer die Aufgabe, Vorschläge für Programme im Rahmen der gemeinsamen Politikfelder zu unterbreiten. Im Falle der Jugendstrategie ist diese Programmentwicklung durch die Methode der offenen Koordinierung flankiert worden. Mit gutem Grund: Da für ein Jugendprogramm die Kompetenzen nicht allein in Brüssel sondern bei den EU-Mitgliedsstaaten liegen, ist dieses Thema über Nationale Konferenzen in den Mitgliedsstaaten mit vielen Akteuren der Jugendarbeit und -politik diskutiert worden. Es gibt also kein »gerichtlich« geregeltes Gesetzgebungsverfahren. Aber so wird die neue EU-Jugendstrategie am Ende des Prozesses als Ausdruck eines weit gefächerten Beteiligungsverfahrens gelten können.

?: Der sprachliche Duktus im bisherigen Strategiepapier klingt aber anders. Mehr nach altväterlichem »Jugendpflege-Erlass« als nach einem lebendigen Ausdruck von Partizipation: Denn Jugend wird als eine Ressource beschrieben – als ein »Humankapital, das gehegt und gepflegt« werden soll …
H.T.:
Der Begriff »Humankapital« ist immer ein bisschen schwierig. Selbst wenn man weiß, dass Menschen ungeheuer intelligent, kreativ und produktiv seien können, hat dieser Begriff immer einen ökonomischen Beigeschmack. Darum benutze ich selber dieses Wort nicht, sondern würde lieber von den Wünschen, Bedürfnissen und Erwartungen der jungen Menschen sprechen.

?: Aber der Ansatz, junge Menschen als Ressource zu qualifizieren, zieht sich als roter Faden durch das Strategiepapier. Explizit ist z.B. gefordert, dass Jugendarbeit vornehmlich dazu helfen soll, die Beschäftigungsfähigkeit junger Menschen zu befördern. Und ebenso, dass informelles Lernen für schulischen Lernen nutzbar gemacht werden soll. Ist der Eigensinn der Jugendarbeit passé?
H.T.:
Ich glaube, das ist etwas übertrieben. Man kann sich in der Tat an dem Vokabular der Kommission stören. Aber das Papier greift das zentrale Thema junger Menschen auf: die Jugendarbeitslosigkeit. Dass man sich dies zu Herzen nimmt und darin eine Schwerpunktaufgabe der neuen Jugendstrategie erkennt, würde ich nicht diskreditieren. Das finde ich schon richtig.
Die Frage ist vielmehr, wenn man den Begriff Ressource nimmt und diesen dann nur von links kritisiert, ob man der Kommission dann berechtigt eine falsche Verengung vorwerfen kann. Die andere Interpretation ist ja, dass die Kommission im Strategiepapier die Bedeutung des informellen Lernens für das formelle anerkennt. Und dieses ist auch eine Kritik am technokratisch verengten Bildungsbegriff, der in den formalen Bildungsinstitutionen vorherrscht.
Also, es gibt eine doppelte Bewegung. Und diese Dynamik jetzt ausschließlich nur mit dieser linken Kritikwelle zu sehen, finde ich ein bisschen einseitig.

?: Aus Sicht der Jugendverbände ist das keine »linke Kritik« – vielmehr eine Frage von Autonomie und Eigensinn der Jugend(verbands)arbeit. Nur wenn Freiräume für junge Menschen vorhanden sind, sich selbst auszuprobieren und sich für eigene Zwecke zu organisieren, funktioniert Jugendarbeit. Wenn hingegen die EU-Jugendstrategie propagiert, das Potential von Freiwilligkeit und Ehrenamtlichkeit als Qualifikationselement für den Arbeitsmarkt auszuschöpfen und unter »Empowerment« zu subsumieren, dann …
H.T.:
… das darf nicht passieren. Dagegen würde ich mich verwahren. Wenn Sie meinen, dass man das nur so verstehen kann. Dann muss man dagegen vorgehen. Denn Eigensinn und Kreativität muss natürlich in der Jugendverbandsarbeit möglich sein.
Auf der anderen Seite weiß man natürlich (wenn es um Qualifikationen und Durchsetzungsvermögen geht), dass Eigensinn in der modernen Welt dazugehört. Mit angepassten Leuten, die sich nicht trauen, ihre Meinung zu sagen, kann kein Unternehmen und keine Bildungseinrichtung leben. Folglich: junge Menschen müssen »empowered« werden, um sich genau das zu trauen, um ihren Eigensinn, ihre eigene Meinung, ihre eigene Sicht der Dinge einzubringen.
Aber das Strategiepapier der EU-Kommission steht ja noch auf den Prüfstein des EU-Parlamentes. Ich werde es mir sehr genau anschauen, ob es darin einen falschen Zungenschlag gibt. Wenn es so ist, muss man dagegen vorgehen. Aber das würde ich am liebsten erstmal austesten.

?: Wo sehen Sie die positiven Aspekte der neuen Jugendstrategie?
H.T.:
Erstmal finde ich positiv, dass dieses Papier Jugend als Querschnittsthema behandelt. Weiterhin ist die Schwerpunktbildung zur Umsetzung der Strategie richtig. Jugendthemen sind als Querschnittsaufgaben sowohl bei Bildungs- und Beschäftigungspolitik, bei Kreativität und Unternehmergeist wie bei Gesundheit und Sport anzugehen. Das Menschenbild stimmt hier, da Jugend nicht nur auf einen Teil des Lebens bezogen wird. Ebenso werden Armutsprophylaxe und Ausgrenzung ernst genommen.
Auf der Ebene dieser Ziele, finde ich, kann man und muss man nichts dagegen haben. Und wenn ich an meine letzen Kontakte, Gespräche und Anhörungen mit Vertretern der Jugendverbände und Jugendlichen in Brüssel denke, dann konnte ich auch da den Eindruck gewinnen, dass die EU-Kommission mit diesen Zielen richtig liegt.

?: Wo sehen Sie Probleme?
H.T.:
Wir fangen die Beratung erst an. Ich werde mir die Bereiche, die Sie als problematisch angedeutet haben, noch einmal sehr genau angucken. Mir geht es immer darum, das Kernelement einer Programmatik ernst zu nehmen. Wenn Jugendthemen ressortübergreifend wichtig werden sollen, dann werde ich mich dafür einsetzen, dass man dafür das EU-Strategiepapier auch beim Wort nehmen kann.

?: Wenn Jugendfragen als Querschnittsaufgabe in den EU-Ländern verankert werden sollen, stellt sich die Frage nach der Wirkungsmächtigkeit der kommenden EU-Strategie. Welche Verpflichtungen ergeben sich für die Mitgliedsländer durch einen gemeinsamen jugendpolitischen Rahmen?
H.T.:
Eine Verpflichtung gibt es ja gerade nicht. Der im Papier beschriebene Ansatz zur Realisierung, die Offenen Methode der Koordinierung, bedeutet vielmehr, dass die politischen Akteure in den Ländern zu freiwilligen Übereinstimmungen und Ansätzen gelangen sollen, um die Ziele der EU-Jugendstrategie zu verwirklichen. Es gibt keine Sanktionsmöglichkeiten seitens der EU. Wir sind in diesem Fall auf die gute Bereitschaft, das Verständnis und den Weitblick sowie auf die politische Entschlossenheit der Mitgliedsstaaten angewiesen.

?: Wie verhält sich die neue Jugendstrategie zum bisherigen und bis 2013 noch laufenden Programm »Jugend in Aktion«? Wird sie diese ersetzen? Das liefe auf eine deutliche Akzentverschiebung hinaus, wenn Jugendpolitik zukünftig als Teilaspekt in die Lissabon-Strategie eingeordnet würde.
H.T.:
Also erstmal läuft »Jugend in Aktion« noch bis 2013, und das ist auch das Ende der jetzigen Finanzplanperiode. Die Lissabon-Strategie läuft seit dem Jahr 2000 und endet hingegen schon 2010. Sie sollte dazu führen, dass Europa bis 2010 der größte, wettbewerbsfähigste und dynamischste und wissensbasierteste Wirtschaftsraum der Welt wird. Das haben wir nicht geschafft! Die Mitgliedsstaaten haben weder drei Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes in Forschung und Bildung investiert, noch andere Innovationsziele erreicht, sodass vieles dieser Lissabon-Strategie nicht funktioniert hat. Wenn sie 2010 ausläuft, steht man politisch erst einmal vor der Aufgabe zu klären, warum diese Strategie gescheitert ist und was man anders und besser machen müsste. Deswegen glaube ich im Moment nicht, dass »Jugend in Aktion« von der Lissabon-Strategie aufgefressen wird. Bis jetzt ist es doch eher das Problem, dass die Lissabon-Strategie noch gar nicht gegriffen hat.

?: Das lässt aber erwarten, dass man als Folge des Scheiterns die Ausrichtung auf ökonomische Imperative innerhalb anderer EU-Programme weiter verstärkt. Darin liegt die Befürchtung der Akteure im Jugendbereich. »Jugend in Aktion« ist ein klassisches Bildungs-, Begegnungs- und Förderungsprogramm. Die neue Strategie »Investitionen und Empowerment« folgt dagegen der Lissabon-Strategie für mehr Wirtschaftswachstum. Das riecht nach Politikwechsel …
H.T.:
Den sehe ich nicht. Es ist auf jeden Fall so, dass die Inhalte, wofür insbesondere das Programm »Jugend in Aktion« steht, weiterhin auf der europäischen Agenda oben angesiedelt sind. Hier geht es ja gerade um Austausch, Mobilität, Begegnung, sich kennen lernen und Freunde gewinnen in den verschiedenen Ländern. Junge Menschen machen darüber Erfahrungen mit der europäischen Vielfalt.
Europa hat nur dann eine Zukunft, wenn es das Potential seiner kulturellen Vielfalt aufgreift. Es geht daher nicht darum, dass das alles falsch angeglichen wird, sondern darum, dass man lernt, mit der Vielfalt zu leben und diese zu akzeptieren. Das ist in der Kulturpolitik so – wie in der Jugendpolitik.
Ich glaube nicht, dass das abgeschafft werden soll. Da würde ich mir nicht so große Sorgen machen. Dass der politische Ansatz der neuen Jugendstrategie, wie Sie befürchten, dazu führt, alles so stromlinienförmig in eine ökonomistische Richtung zu führen und in die Lissabonstrategie einmünden zu lassen, sehe ich im Moment wirklich nicht. Zumal diese Strategie ja sowieso nicht gegriffen hat. Aus grüner Sicht kritisieren wir die Lissabon-Strategie doppelt: Ist diese erstens eine richtige Konzeption der Modernisierungspolitik? Sie scheiterte doch, weil keine angemessene ökologische Zukunftsvorstellung entwickelt wurde. Und zweitens kritisieren wir, dass die Mitgliedstaaten gar nicht so mitgezogen haben, wie es die Übereinkunft vorsah.

?: Sie plädieren also dafür, nach 2013 ein Programm vergleichbar mit »Jugend in Aktion« fortzuführen?
H.T.:
Ja, auf jeden Fall. Für die Jugendthemen Begegnung, Vielfalt erfahren und Empowerment werde ich mich immer einsetzen. Ich würde mich gegen alle Politikansätze wehren, die da irgendwas abschmelzen wollen. Denn es wäre kontraproduktiv zu den Zielen, die ja auch von der Kommission vertreten werden.

Das Interview führte Jürgen Garbers, Landesjugendring Hamburg