Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 4-2021, Rubrik Vielfältige Jugendarbeit

U18 wählt – ein Auslaufmodell?

Von Oliver Trier, Bund der Katholischen Jugend Hamburg

Mit über 260.000 jungen Wählern/innen und ca. 1.500 Wahllokalen erzielte die U18-Bundestagswahl im September ein Rekordergebnis. Ein Trend, der sich auch in Hamburg niederschlug, wo sich so viele Kinder und Jugendliche an der Abstimmung beteiligt haben wie noch nie. Doch wie lässt sich dieser Erfolg bewerten, und was bedeutet der Plan der neuen Ampelkoalition, das Wahlalter auf 16 Jahre zu senken, für die Zukunft der U18-Wahl in Hamburg?


[Photo: © Oliver Trier]

Geduldig warten die Achtklässler/innen in einer langen Schlange vor dem Wahllokal. Coronabedingt können die Mittelstufenschüler/innen der Sophie-Barat-Schule (SBS) nur nacheinander eintreten, um in einer der vier Wahlkabinen ihren Stimmzettel auszufüllen. Die Wartezeit verkürzen sie sich mit lebhaften Diskussionen über die richtige Wahlentscheidung. In aller Seelenruhe verteilt Zachariah Arkenberg derweil die Stimmzettel an die Jugendlichen an den vordersten Plätzen und erklärt ihnen auf Nachfrage noch einmal den Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimme. Der 17-Jährige leitet die Stadtgruppe der Katholischen Studierenden Jugend (KSJ) an dem Gymnasium und organisiert mit seinen Kolleginnen Amelie Rücker und Ava Carstensen bereits das zweite Mal eine U18-Wahl für seine Mitschüler/innen. »Für uns stellte sich eigentlich nie die Frage, ob wir wieder mitmachen wollen«, erinnert sich Zachariah. »Mitbestimmung und Beteiligung sind wir aus unserem Jugendverband gewohnt und wollen so unseren Mitschülern/innen wenigstens die Möglichkeit geben, ihre Wahlentscheidung klar zu formulieren.«


[Photo: © Oliver Trier]

Ganz anders das Bild am Wahllokal der BUNDjugend an der Langen Reihe. Da am 17. September der internationale Aktionstag »Parking Day« und die U18-Wahl zusammenfallen, haben die Jugendlichen kurzerhand beide Aktionen miteinander verbunden und einen Parkplatz nicht nur zum Infostand sondern auch zum Wahllokal umfunktioniert. Doch zur Mittagszeit sind die vorbeieilenden Passanten/innen zu alt und interessieren sich eher für die Informationen der jungen Umweltschützer/innen zum Thema Verkehrspolitik und Klima. Junge Menschen unter 18 Jahren dagegen scheinen alle noch die Schulbank zu drücken. Die Hoffnungen der BUNDjugend liegt daher auf der Fridays for Future-Demonstration, die im Laufe des Tages an der Langen Reihe vorbeiziehen soll – eine Hoffnung, die sich jedoch nicht erfüllen soll. Denn am Ende des Tages bleibt die Zahl der Wähler/innen im einstelligen Bereich.

Rekord für Hamburg. Angesichts der endgültigen Zahlen zeigt sich Patrick Kirsch trotzdem mehr als zufrieden mit dem Verlauf der U18-Wahl in Hamburg: 50 Wahllokale haben sich angemeldet und mehr als 2.700 junge Menschen mitgemacht. »Das hat all unsere Erwartungen übertroffen, denn unser sogenanntes Utopie-Ziel lag bei 50 Wahllokalen«, freut sich der Diözesanvorsitzende des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ). Der Dachverband der katholischen Jugendverbände kümmerte sich in Hamburg um die Landeskoordination der bundesweiten Wahlaktion. »Die Zahlen zeigen deutlich, dass immer mehr Akteuren/innen ein Wahlrecht junger Menschen wichtig ist und welches Potential in diesem Format noch steckt«, meint Patrick und ergänzt nüchtern: »Genauso deutlich zeigen sie allerdings auch auf, wieviel Luft nach oben wir noch haben und wie viele junge Menschen wir mit unseren begrenzten Mitteln eben noch nicht erreicht haben. Das gilt auch für den Fall, dass die von der Ampelkoalition geplante Senkung des Wahlalters tatsächlich schon für die kommende Bundestagswahl gilt. Denn mit der U16-Bürgerschaftswahl haben wir bereits gezeigt, wie gut sich das Format anpassen lässt.«

In Hamburg verfügt die U18-Wahl bislang nur über eine überschaubare Tradition, und vor allem mangelt es ihr an Konstanz. Die Koordination von Bürgerschafts-, Bundestags- oder auch Europawahlen übernahmen in den letzten Jahren die Katholische junge Gemeinde (KjG), der Landesjugendring (LJR) und seit 2020 der BDKJ. Ein Blick nach Berlin dagegen zeigt, was möglich wäre. Vor 25 Jahren startete das Beteiligungsformat mit einem Wahllokal in der Hauptstadt und wird mittlerweile von einem breiten Netzwerk aus öffentlichen und freien Trägern, Jugendverbänden, landesweiten und bezirklichen Akteure/innen der Kinder- und Jugendbeteiligung sowie weiteren Engagierten getragen. In Zahlen bedeutet das: An knapp 400 Wahllokalen haben über 47.000 junge Berliner/innen an der U18-Bundestagswahl teilgenommen.

Potentiale. Patrick sieht das größte Entwicklungspotential der U18-Wahl jedoch nicht im bloßen Wahlvorgang sondern im Vorfeld. »Die Stimmabgabe bildet natürlich den emotionalen Höhepunkt der Wahlaktion«, erklärt Patrick. »Doch die nachhaltigen Chancen der U18-Wahl bestehen darin, jungen Menschen klar zu machen, dass auch sie Mitglieder in unserer Gesellschaft sind, ihre Bedürfnisse sowie Interessen wichtig sind und für ihre eigene Meinung einstehen können. Das Format bietet Gelegenheiten, sich über anstehende Wahlen und die verschiedenen Parteiprogramme zu informieren, sich mit Gleichaltrigen und Freunden/innen oder auch Politikern/innen auszutauschen, sich eine eigene Meinung zu bilden und diese auch zu artikulieren. Hier steckt echte Bildungsarbeit, und da stehen wir in Hamburg noch am Anfang einer großen Entwicklung – gerade auch mit Blick auf das Alter! Je früher wir anfangen, jungen Menschen die Idee von Beteiligung, Mitbestimmung und Wahlen näher zu bringen, desto besser. Wir würden uns daher sehr wünschen, dass die U18-Wahl im Falle einer Senkung des Wahlalters bei Bundestagswahlen als U16-Wahl fortgeführt wird.«

Wahl macht Schule. Eine Einschätzung, die Susanna Baum von der Grundschule Am Weiher nur unterschreiben kann: »Wenn man die Kinder berührt und sie merken, dass es sie nicht nur was angeht, sondern sie auch wirklich mitentscheiden können, dann sind sie mit Begeisterung dabei.« Gemeinsam mit dem Lehrer/innenkollegium hatte sich die Schulleiterin dazu entschlossen, sich mit der gesamten Grundschule und auch der Vorschule an der Jugendwahl zu beteiligen, und lud gleichzeitig die Schulen der Umgebung ein, zur Stimmabgabe das Wahllokal in der Turnhalle der Schule aufzusuchen. Um die Kinder auf die anstehende Abstimmung vorzubereiten, wählten die Klassen ihre Sprecher/innen erst kurz vor der U18-Wahl. Außerdem organisierte die Schule drei Projekttage rund um das Thema Mitbestimmung und Demokratie. Zum Abschluss und Höhepunkt dieser Projekttage gaben die jungen Schüler/innen ihre Stimmen an den von ihnen gestalteten Wahlkabinen und -urnen ab. »Tatsächlich hätten wir eine solche Begeisterung und Energie – sowohl unter den Schülern/innen als auch unter den Kollegen/innen – nicht erwartet«, erzählt die Schulleiterin. »Wir sind sehr gespannt, ob oder welche Folgen sich aus dieser Wahlaktion noch für unseren Schulalltag ergeben, und können uns gut vorstellen, in vier Jahren wieder bei einer Bundestagswahl mitzumachen.«


[Photo: © Foto Christoph Schomer]

Nachdem in jedem der vergangen drei Jahre eine U18-Wahl auf der Agenda stand, stehen die nächsten Wahlen erst 2024 an. Doch nach Ansicht des BDKJ-Vorsitzenden Patrick sollten die Weichen für diese Wahl schon jetzt gestellt werden: »Vieles von dem, was wir uns vorgenommen haben, konnten wir aufgrund fehlender Ressourcen nicht umsetzen. Wir waren meilenweit davon entfernt, alle Akteure/innen der Kinder- und Jugendarbeit in Hamburg über die U18-Wahl auch nur mit einer E-Mail zu informieren.« Dabei läge eine Chance des Projektes gerade darin, die verschiedenen Akteure/innen der Hamburger Kinder- und Jugendarbeit zusammenzubringen. »Das Format ist grundsätzlich offen für alle«, meint Patrick. »Sowohl für die Jugendverbandsarbeit, als auch für Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit. Außerdem können Schulen mitmachen und noch viele mehr. So haben wir uns sehr über die unerwartet breite Teilnahme der Bücherhallen gefreut und mussten gleichzeitig die Erfahrung machen, dass sich gerade bei offenen Angeboten die Anzahl der Wähler/innen nur schwer kalkulieren lässt. Schulen und feste Gruppen haben solche Sorgen nicht. Je mehr junge Menschen aber im Vorfeld über die Wahl erfahren und je mehr Angebote sie zur Meinungsbildung erhalten, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich am Wahltag auf den Weg machen.«

Baustellen. »Wenn wir wollen, dass die Wahllokale schon im Vorfeld der U18-Wahl inhaltlich mit jungen Menschen arbeiten und ihnen unterschiedliche Angebote zur Meinungsbildung oder zum Austausch machen, müssen wir sie dabei unterstützen«, räumt Patrick selbstkritisch ein. »Sehr gern hätten wir sie schon dieses Mal mit ausgearbeiteten Methoden für ihre Arbeit versorgt. Wir dürfen nämlich nicht vergessen, dass das Engagement für diese Wahlaktion zum normalen Alltagsgeschäft immer zusätzlich oben auf kommt – doch das gilt leider auch für uns, und das ist sehr ärgerlich. Denn politische Bildung ist entscheidend für unser politisches System und unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt. Doch mit der U18-Wahl haben wir ein Format, mit dem wir jungen Menschen auf sehr spielerische und unaufdringliche Art und Weise vermitteln können, worauf es in einer Demokratie ankommt. Deswegen müssen wir prüfen, welche Möglichkeiten wir haben, uns auf diesem Feld besser aufzustellen, und wo wir entsprechende Töpfe anzapfen können.«

Bis dahin sind aber auch die Wahllokale, die schon heute dabei sind, durchaus bereit, einige Mühen auf sich zu nehmen, um den Wählern/innen von morgen eine Stimmabgabe zu ermöglichen. So wollten sich die Jugendlichen vom AWO Jungentreff in Bergedorf-Lohbrügge nicht damit begnügen, nur in ihrem Jungentreff abzustimmen und organisierten mit ihren Hauptamtlichen ein mobiles Wahllokal, das an zwei Schulen der Nachbarschaft Halt machte und zum Wählen einlud. »Beim nächsten Mal würden unsere Jungs am liebsten alles allein vorbereiten«, freut sich Torben Köhler, der Sozialarbeiter vom AWO Jungentreff. »Leider dauert es noch über drei Jahre bis zur nächsten Wahl.«