Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 4-2019, Rubrik Titelthema

Eine pragmatische und optimistische Jugend?

Fragen zur Shell Jugendstudie 2019

Von Prof. em. Ronald Lutz, Fachhochschule Erfurt

Zweifelsohne ist das Erscheinen einer jeden Shell-Studie seit ihrer ersten Auflage im Jahr 1953 ein bedeutsames Ereignis, das spannende Informationen über die Situation Jugendlicher und deren Einstellungen liefert. Auf Grund dieser Kontinuität können Vergleiche gezogen und Entwicklungen dokumentiert werden. Auch liefern die Analysen unbestritten wichtige Informationen für die schulische und außerschulische Jugendbildung.

Die 18. Shell Jugendstudie bietet vielfältig Zündstoff bezüglich der Einstellungen der 12- bis 25-Jährigen, ihre zentralen Ergebnisse werden wie folgt verdichtet [1]: »Jugendliche melden sich vermehrt zu Wort und artikulieren ihre Interessen und Ansprüche nicht nur untereinander, sondern zunehmend auch gegenüber Politik, Gesellschaft und Arbeitgebern. Dabei blickt die Mehrheit der Jugendlichen eher positiv in die Zukunft. Ihre Zufriedenheit mit der Demokratie nimmt zu. Die EU wird überwiegend positiv wahrgenommen. Jugendliche sind mehrheitlich tolerant und gesellschaftlich liberal. Am meisten Angst macht Jugendlichen die Umweltzerstörung.«

Da 58% optimistisch in die eigene Zukunft blicken, werden die jungen Menschen mehrheitlich so dargestellt.[2] Auch würden sie insgesamt, so der grundlegende Tenor der Studie (Albert et al 2019) [3], seit einiger Zeit ein größeres Engagement für politische und gesellschaftliche Themen äußern. Dies zeige sich in einem zunehmenden Umwelt- und Klimabewusstsein, sie sorgten sich um die ökologische Zukunft. Hinsichtlich dessen sähen sie es als nötig an, endlich zu handeln. In dieser Einstellung werde eine Botschaft an ältere Generationen deutlich: als junge Menschen seien sie zwar zuversichtlich, man möge aber mehr auf sie hören und auf ihre Zukunft achten. Das ist ja auch das, was sich derzeit in den Schulstreiks »Fridays for Future« zeigt [4]. Auch formulierten sie wieder stärker eigene Ansprüche hinsichtlich der Gestaltung von Zukunft und forderten Weichenstellungen. Über alle soziale Grenze hinweg, auch unabhängig von Migrationshintergründen, lasse sich ein Trend zu gegenseitigem Respekt und einer großen Achtsamkeit gegenüber der eigenen Lebensführung sowie ein stark ausgeprägter Sinn für soziale Gerechtigkeit feststellen.

Neben den Hoffnungen, die sich mit dieser engagierten Jugend verbinden, müssen allerdings die Schattenseiten betont werden, die sich in der Studie ebenfalls zeigen. Betont wird explizit die Benachteiligung von Jugendlichen, die sich vor allem daran zeige, dass sich Jugendliche aus der untersten Schicht stärker als andere als abgehängt fühlen und im Bildungssystem weiterhin schlechtere Chancen haben. Nicht zu übersehen sei auch die Affinität einer Minderheit zu populistischen Positionen.
Dennoch wird zum Ausdruck gebracht, die Jugend von heute sei optimistisch, engagiert, kritisch, wertegebunden, pragmatisch und tolerant; sie arrangiere sich dabei mit den Bedingungen, die sie in der Gesellschaft vorfinde. Genau betrachtet reflektiert dieses Bild vor allem Einstellungen der Mittel- und Oberschichten. In der Studie verdichtet sich, wenn man sie kritisch liest, ein unausgesprochenes »Narrativ«, das ein positives Bild der Jugend suggeriert.

Narrativ [5]
Dieses Narrativ könnte auch so gelesen werden, dass sich die heutige Jugend weitestgehend mit den Gegebenheiten des »Krisenkapitalismus« (Graefe 2019) arrangiert, Kritik daran nur punktuell platziert, in ihrer Mehrheit sich aber den Herausforderungen der Gegenwart stellt und danach strebt, einen guten Platz in der Gesellschaft zu finden. Damit entsprächen sie letztlich jenem Bild, das Erwachsene gerne von ihr hätten und das in Bildungsprozessen die Norm zu sein scheint. Aus dennoch erkennbaren Widersprüchen und Unklarheiten heraus versuche ich dieses grundlegende und unreflektierte Narrativ kurz zu skizzieren; ich führe damit meine Argumentationen von 2016 fort (Lutz 2016 a und b).

Die Jugendlichen kommen offenkundig dort an, wo Erwachsene sie gerne sehen. Sie akzeptieren die Realitäten dieser Welt und die Bilder von sich als Jugend. Sie setzen scheinbar das um, was man von ihnen erwartet. Sie arrangieren sich mit der Wirklichkeit und formulieren nur punktuell andere Möglichkeiten. Jene Welt, die ihnen die Erwachsene hinterlassen, soll allerhöchstens modifiziert werden. Damit aber bestätigen sie diese Welt der Erwachsenen, wie sie ist, und damit diese in ihren Lebensentwürfen. Fundamentale Kritik würde die von Erwachsenen aufgebaute Realität prinzipiell in Frage stellen. Gut und zugleich hoffnungsvoll ist es deshalb auch, dass die Jugendlichen mehrheitlich tolerant und gesellschaftlich liberal sind. Auch das gehört zum unausgesprochen Narrativ genauso wie ihre Angst vor Umweltzerstörungen. Das macht die Jugendlichen zusätzlich sympathisch, da sie auch hier Bildern von Erwachsenen entsprechen, die dies gleichfalls als drängendes Problem sehen. Die befragten Jugendlichen spiegeln mehrheitlich die Einstellungen liberaler, weltoffener und toleranter Erwachsener. Sie sehen und erkennen ihre Chancen, wollen diese für sich ergreifen und blicken optimistisch und pragmatisch in die Zukunft. Genau das wird ja von ihnen erhofft. Dabei melden sie sich vermehrt zu Wort und artikulieren ihre Interessen und Ansprüche, sowohl unter sich als auch öffentlich und adressiert an die Politik. Das entspricht dem Bild des mündigen Bürgers, wie Erwachsene ihn als Ideal skizzieren.

All dies ist keine grundsätzliche Kritik an der Studie. Die Ergebnisse sind unbestritten valide und stehen nicht zur Disposition. Wichtig ist es aber einen kritischen Blick auf das unausgesprochene Narrativ zu werfen, das bei der Ausformulierung der Fragen und der Interpretation eine Rolle gespielt haben dürfte und somit in der Anlage und Gestaltung der Studie wirkte. Es ist diese Dialektik von Voraussetzungen und Bestätigungen derselben durch Ergebnisse, die sich oft in Befragungen wiederfinden. Das Verständnis dieses Zusammenhangs, den es eigentlich in der Konstruktion der Studie und in der Interpretation der Ergebnisse zu reflektieren gälte, hat uns die Kritische Theorie geliefert (Breuer 2016).

Es gehört nun aber auch zur Tücke der Forschung, dass in den Resultaten immer auch Hinweise zu finden sind, die über diese Dialektik hinausgehen und nach anderen Interpretationen verlangen sowie neue Fragen stellen. Damit eröffnen sie erst Blicke auf das zugrundeliegende Narrativ, indem sie sich diesem entziehen und zu anderen und widersprüchlichen Aussagen führen, die genau betrachtet von großem Gewicht sein können, da sie Probleme zeigen (Populismus) und neue Fragen aufwerfen (Umweltbewusstsein).

Liest man die Studie mit diesem kritischen Blick, dann wird das Bild, das zunächst medial und öffentlich wirksam gezeichnet wird, an einigen Stellen brüchiger und problematischer. Das positive und auch »glänzende« Bild der Jugendlichen zeigt »Risse«, von denen einige hier besonders zu betonen sind. Dabei geht es gar nicht darum, den Grundtenor in Frage zu stellen, dass die Jugend in einer erkennbaren Mehrheit engagiert, kritisch, pragmatisch und optimistisch scheint. Es sollen aber jene Problematiken, wie ein erkennbarer Hang zum Populismus, stärker als es die Studie selber tut, in den Fokus rücken.

Ersichtlich wird auch, dass die Spaltungen und Widersprüche der spätmodernen Gesellschaft sich bereits in den Einstellungen der 12- bis 25-Jährigen niederschlagen. Diese anderen Interpretationen müssen nämlich vor dem Hintergrund aktueller soziologischer Analysen gesellschaftlicher Widersprüche gespiegelt werden, die sich zweifelsohne auch in jugendlichen Lebenswelten niederschlagen (Butterwegge 2019; Graefe 2019; Foroutan 2019, Reckwitz 2017): soziale Ungleichheiten, Klimawandel und Folgen, unbewältigte Migrationsfragen oder der sich verstärkende Rechtspopulismus, der demokratische Grundlagen in Frage stellt. Dies kann hier keinesfalls umfänglich geschehen, es ist lediglich eine Skizze, die sich auf besonders hervorstechende Punkte konzentriert.

Achtsamkeit
Gut 80% der Jugendlichen sehen eine gesunde Lebensweise als Wert und äußern eine besondere Betonung von Achtsamkeit, Verträglichkeit und Zufriedenheit. Zugleich sind sie aber bereit, sich in einem betont hohen Maß an gesellschaftlichen Leistungsnormen zu orientieren – an Fleiß und Ehrgeiz aber auch an Unabhängigkeit.
Diese erkennbare Dialektik von der Orientierung an Leistungsnormen der Gesellschaft einerseits und der Betonung einer gesunden Lebensweise sowie Achtsamkeit andererseits kann mit einer aktuellen soziologischen Analyse zur »Resilienz im Krisenkapitalismus« (Graefe 2019) hinterfragt werden. Die Autorin stellt einen Paradigmenwechsel in den Einstellungen besser Gebildeter in den Mittelschichten fest. Diese wollen nicht mehr die Gesellschaft ändern, sie stehen den erschöpfenden Bedingungen eines beschleunigten Krisenkapitalismus nicht mehr skeptisch gegenüber, sie richten sich ihr Leben vielmehr so ein, dass sie den Anforderungen der Gesellschaft gerecht werden – ohne sich daran zu erschöpfen oder zu erkranken.
Leistung und Erfolg stehen demnach als Grundprinzipien nicht mehr in Frage und somit auch nicht die sozioökonomische Struktur der Gesellschaft. Subjekte richten vielmehr ihr Leben und ihre Kompetenzen nach den darin liegenden Anforderungen aus. Sie wollen so resilient wie möglich sein und zugleich auf eine gesunde Lebensweise achten, um gegen »burnout« und anderes gefeit zu sein. Nicht umsonst ist Achtsamkeit eine essentielle sowie aktuelle Metapher für den Umgang der Menschen mit sich selbst (Piver 2013). Sie erhalten sich dadurch aber auch ihre Arbeitskraft und erfüllen damit die Anforderungen, ein »Arbeitskraftunternehmer« zu sein (Voß & Pongratz 1998).

Das wachsende Umweltbewusstsein kann gleichfalls in diesem Kontext etwas anders interpretiert werden: man will die Welt ökologisch erneuern, was auch als »Grüner Kapitalismus« gilt (Kaufmann; Müller 2009) und von vielen Erwachsenen propagiert wird. So soll Energie nicht mehr von Atomspaltung und Kohle kommen, sondern von Sonne und Wind, die Autos fahren zukünftig elektrisch statt mit Benzin. Das ändert einiges, aber eben nicht alles. Darin zeigt sich eigentlich nur eine Modifikation des bisherigen Wachstumsmodells [6].

Es wäre von großem Interesse nach diesen neuen Mustern in den Einstellungen der Jugendlichen zu suchen, inwieweit dieser »Wechsel« bereits bei ihnen erkennbar ist. Die vorliegenden Ergebnisse deuten darauf hin, doch hätte viel pointierter gefragt werden müssen.

Umweltbewusstsein
Eine besonders hohe Bedeutung erlangt die ökologische Zukunft und somit das Umweltbewusstsein, fast drei von vier Jugendlichen sehen Umweltverschmutzung und die ökologischen Probleme des Klimawandels als das Hauptproblem der Gegenwart. Das verwundert nicht, da dies gleichfalls ein essentielles Thema in der Gesellschaft ist und von vielen Erwachsenen und insbesondere besser Gebildeten transportiert wird. Diese Ängste und Sorgen reflektieren zugleich die Debatten der vergangenen Jahre. Dies zeigen ja auch die freitäglichen Demonstrationen »Fridays for Future«. Umweltbewusstsein beschäftigt inzwischen junge Menschen weltweit, das bestätigt die Shell-Studie. Darüber hinaus wäre es aber interessant zu wissen, ob sich die jungen Menschen auch mit den Konsequenzen auseinandersetzen, die sich aus diesen Sorgen um die ökologische Zukunft notwendigerweise ergeben.

Wer sich nämlich Sorgen um die ökologische Zukunft macht, der muss sich auch mit der globalen Situation beschäftigen, die Umweltkrisen und ökologischen Katastrophen zugrunde liegt. Der Globale Norden, und somit wir alle, lebt auf Kosten anderer im Globalen Süden; wir leben dabei nicht nur über unsere Verhältnisse, wir leben über die Verhältnisse der anderen. Lessenich spricht von einer Externalisierungsgesellschaft, deren Macht darin liegt, Ressourcen in Ländern des Südens auszubeuten und zugleich die Kosten der eigenen Lebensführung auf diese Weltregionen abzuwälzen, die dann zu Internalisierungsgesellschaften des Abfalls und der Folgekosten des Wohlstands im Globalen Norden werden. Wohlstand entsteht wesentlich durch die Auslagerung der Kosten und Lasten des technologischen Fortschritts zu Lasten des Südens (Lessenich 2016).

Diese soziologischen Überlegungen werden im Begriff der »imperialen Lebensweise« erweitert: der Globale Norden bereichert sich weiterhin, auch zur Absicherung eines breiten Wohlstandes, an den ökologischen und sozialen Ressourcen des Globalen Südens (Brand & Wissen 2017). In den verfestigten Abhängigkeiten wird der globale Kapitalismus nicht nur als Fortsetzung kolonialer Muster, sondern als eine neue Form des »ökonomischen Imperialismus« erkennbar. Überbordende Produktion und ein sich stetig ausweitender Konsum erfordern einen überproportionalen Zugriff auf Ressourcen, Arbeitskräfte und biologische Senken der restlichen (südlichen) Welt. Die Ausbeutung von Mensch und Natur hält zugunsten einer als imperial gesetzten Lebensweise nach wie vor an und beschleunigt sich dabei.

Wenn man erwägt, in welchem Maße sich der Globale Norden nach wie vor an den ökologischen und sozialen Ressourcen des Globalen Südens bedient, dann muss eine Beschäftigung mit der ökologischen Zukunft diese »imperiale Lebensweise« selbst in Frage stellen. Es fragt sich nun, ob die Jugend sich zum einen dieser Zusammenhänge bewusst ist und zum anderen auch bereit wäre, Abstriche am eigenen Wohlstand zu akzeptieren. Angst und Kritik ist die eine Seite, doch Analyse und Handeln stellen die andere Seite dar.

Ist den Jugendlichen klar, dass ihre Sorgen sich in konkreten Maßnahmen umsetzen müssen, die auch ihre eigene Situation und ihren Wohlstand verändern werden? Sind sie bereit diesen erreichten Wohlstand zu hinterfragen und ihn abzubauen? Sehen sie sich selbst als Vertreter/innen einer »imperialen Lebensweise«, als hegemoniale Macht, die an anderen Orten der Welt Leid, Elend und Armut verursacht? Stehen sie den Tatsachen der Externalisierung und der Ressourcenextraktion kritisch gegenüber? Sind sie bereit die Konsequenzen daraus zu tragen und an grundlegenden Veränderungen zu arbeiten? Oder wollen sie nur einen »grünen Kapitalismus«, der wenig an den tatsächlichen Verhältnissen ändert, sondern diese lediglich modifiziert, indem Wachstum nicht mehr auf fossilen Energien, sondern auf erneuerbaren Energien ruht? Beschäftigen sie sich intensiver mit Ansätzen und Konsequenzen einer »Postwachstumsgesellchaft« (D`Alisa; Demaria & Kallis 2016)?

Auf diese Fragen gibt die Studie keine klare Antwort. In dieser Thematisierung stellen sich aber Fragen, auf die es zunächst keine Antwort gibt, doch diese wären essentiell für die Gestaltung und die die Organisation von Bildungsprozessen.

Populismus
Zwar betont eine Mehrheit die Trends zu einer immer bunteren Gesellschaft, was mit einem hohen Maß an Toleranz einhergeht. Völlige Ablehnung liegt bei unter 20 Prozent. Es sei »nur« eine Minderheit, die eine Affinität gegenüber rechtem Populismus habe. Diese Jugendlichen sind allerdings nicht zu übersehen und fordern eigentlich neue Fragen heraus; auch sind es bei genauerer Betrachtung doch mehr als »nur« eine Minderheit.
Die Debatten um Flucht und Migration spiegeln sich in gestiegener Angst sowohl vor Ausländerfeindlichkeit als auch vor Zuwanderung wieder. Unabhängig von der sozialen Spaltung, die sich hier zeigt, muss dieses Ergebnis eine weitaus höhere Aufmerksamkeit erlangen. Populistische Argumentationen sind offensichtlich auch für eine Minderheit, aber doch für einen beträchtlichen Anteil der Jugendlichen, anschlussfähig. So stimmte immerhin mehr als die Hälfte der Aussage zu, dass »der Staat sich mehr um Flüchtlinge als um hilfsbedürftige Deutsche« kümmere. Auch Jugendliche fühlen sich in einem nicht zu vernachlässigenden Umfang, mitunter die Hälfte, von affektiven Komponenten populistischer Statements angezogen, auch bei ihnen werden durch diese bereits Ressentiments und Ängste bedient. Die Studie sah sich angesichts dieser Ergebnisse veranlasst fünf »Populismuskategorien« einzuführen, die eine interessante Verteilung aufweisen:
• 12% lassen sich als »Kosmopoliten« beschreiben, die sich für die Aufnahme von Flüchtlingen einsetzen und keinerlei Anfälligkeit gegenüber populistischen Statements zeigen.
• 27% wurden als »weltoffen« bezeichnet, die es mehrheitlich begrüßen, dass Deutschland so viele Flüchtlinge aufgenommen hat; sie distanzieren sich explizit von nationalpopulistischen Statements.
• 28% werde als die »nicht-eindeutig-Positionierten« beschrieben, die in der Mehrheit zwar für die Aufnahme von Flüchtlingen sind, die aber dennoch eine gewisse Affinität zu Äußerungen haben, die von einem »Meinungsdiktat« in der Republik sprechen. Sie äußeren auch ein »gewisses Misstrauen« gegenüber der Regierung und dem Establishment, was immer das auch konkret sein mag.
• 23% werden als »Populismus-Geneigte« eingeschätzt, von denen nur ein Drittel es gut findet, dass so viele Flüchtlinge aufgenommen wurden; populistisch gefärbte Aussagen wie »Der Staat kümmert sich mehr um Flüchtlinge als um hilfsbedürftige Deutsche« stimmen aber fast alle zu.
• 9% werden als »Nationalpopulisten« eingeschätzt, die allen populistischen Statements zustimmen und sich die Aufnahme Geflüchteter ablehnen.

Genau äußern gut ein Drittel, nämlich 33% eine erkennbare bzw. eine starke Affinität gegenüber rechtem Populismus, während gleichzeitig »nur« 40% diesen völlig ablehnen. In der Mitte der Unentschiedenen findet sich noch gut ein Fünftel. Insgesamt sollte das sehr nachdenklich machen. Der Populismus spaltet offensichtlich die Jugend. Es zeigt sich, dass es jenseits des positiven Bildes, das die Studie vermitteln will, große Brüche gibt. Das Land spiegelt sich in seinen Widersprüchen bereits in der Jugend.

Das Ergebnis der Populismuskategorien erinnert an die soziologische Analyse von Reckwitz, die er in seinem Buch »Gesellschaft der Singularitäten« vorgelegt hat (Reckwitz 2017). Darin analysiert er das Streben in hoch individualisierten Gesellschaften nach Authentizität, Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Gesellschaft der Singularitäten nicht nur strahlende Sieger kennt, sie produziert auch ganz eigene Ungleichheiten, Paradoxien und Verlierer. Reckwitz konstruiert zwei Klassen:
• Neue Mittelklasse; das sind besondere Individuen, die kosmopolitisch, liberal und tolerant sind; in besonders relevanten und hochwertigen Jobs (IT, Werbung, kreative Jobs, besondere Dienstleister, leitende Angestellte) arbeiten und als ökonomische und kulturelle Gewinner gelten.
• Neue Unterklasse: sie haben nichts Besonderes vorzuweisen, sie sind »Jedermann oder Jederfrau«, darin sind sie eher konformistisch, arbeiten in Jobs ohne Besonderheiten (nachahmende Jobs, repetitive Bürotätigkeiten, weisungsgebundene Tätigkeiten), sie sind weniger weltoffen, eher konservativ bis populistisch und werden eher ökonomische und kulturell als Verlierer gesehen.

Gerade die »Verlierer« der »Neuen Unterklasse« sieht Reckwitz als anfällig für populistische Aussagen und Aktivitäten eines neuen Bezugs auf die Nation, einer Abwehr von Fremden, einer Verabschiedung des Liberalismus und einer Nähe zur Vorstellungen von »illiberalen Demokratien«. Bedeutsam scheint mir deshalb auch, dass die Affinität Jugendlicher zu populistischen Statements und Ressentiments sich tendenziell eher bei niedriger Gebildeten zeigt: je höher die Bildungsposition desto geringer die Populismusaffinität. Zu fragen wäre dann, ob man tendenziell diese Jugendlichen zur »Neuen Unterklasse im Sinne von Reckwitz »rechnen kann. Das hieße, dass sie schon als Jugendliche in ihren Einstellungen eine Realität spiegeln, in die sie eigentlich erst hineinwachsen. Das könnte auf eine radikale Verfestigung von populistischen Einstellungen hinweisen, die eine erkennbare Spaltung und Polarisierung der Gesellschaft erkennbar machen.

Gesellschaftliche Trends, die der AfD zu ihrem Aufstieg verhalfen, beeinflussen offensichtlich bereits das Denken der Jugendlichen. Wenn man die Politik der AfD genau betrachtet, dann wird deutlich, dass es einer ihrer Ziele ist, eine »kulturelle Revolution« zu starten und die Köpfe der Menschen zu erobern, vor allem der Jüngeren (Hennig & Höcke 2018). Zu fragen ist dann, wie stark sich Populismus und somit auch die Ideen und Konzepte einer »illiberalen Demokratie« bereits in den Köpfen der Jugend eingenistet haben. Die Studie gibt Hinweise darauf.

Die für rechten Populismus anfälligen Jugendlichen stellen einen Bruch im Narrativ dar. Wichtig werden somit Fragen nach Trends einer »Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit« unter den Jugendlichen [7]. Immerhin stellt die Studie fest, dass die Affinität zum Populismus mit Ressentiments einhergeht, die gegenüber Fremden und sonstigen Gruppen, die anders und nicht akzeptabel sind, geäußert werden. Zu fragen wäre deshalb, inwieweit Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus ober auch Homophobie sich bereits in jungen Jahren formen. Zu thematisieren wäre schließlich, wie weit sich Jugendliche durch rechten Populismus (und nicht nur durch diesen) radikalisieren lassen und ob es da Korrelationen zum Bildungsstand gibt. Die Ergebnisse der Studie müssen stärker fokussiert werden und langfristig in die Debatten um Bildungsinhalte und -prozesse eingehen.

Normalisierungen
In der Studie wird an vielen Stellen betont, dass es erkennbare soziale Unterschiede gibt und somit auch stark benachteiligte Jugendliche. Insbesondere zeige sich das in ungleichen Bildungszugängen und -erfolgen. Nach wie vor sei ein starker Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft zu erkennen. So erreichten Jugendlichen aus bildungsfernen Elternhäusern deutlich weniger das Abitur als Jugendliche aus gebildeten Elternhäusern.

Trotz dieses klaren Ergebnisses sieht die Studie keine unüberbrückbaren Polarisierungen und Spaltungen in den Einstellungen. Angesichts der Realitäten, dass es auch weiterhin eine hohe Kinder- und Jugendarmut mit massiver Beschränkung von Teilhabechancen gibt, die Studie selbst liefert ja durchaus Beispiele, stellt sich die Frage, ob die erkennbare Normalisierung von Armut, die gesellschaftlich vor allem in Mittelschichten zu beobachten ist, sich bereits im Denken der Jugendlichen niedergeschlagen hat.

Spiegelt sich also in den Einstellungen die Tatsache, dass wir in einer tief gespaltenen und »zerrissenen Republik« leben, in der Ausgrenzung und Armut diese polarisieren und zugleich als normal gelten (Butterwegge 2019)? Passen sich, wäre zu fragen, die Jugendlichen an diese Realität an, indem sie diese als gegeben ansehen und schlicht und einfach akzeptieren, da ihnen vermittelt wird, dass dies Normalität sei, an der nicht mehr zu rütteln sei? Wird somit ein Denken tradiert, dass Armut genauso wie Reichtum zu dieser Gesellschaft gehören? Auf eine zu vermutende Normalisierung von Armut und Ungleichheit in den Mittelschichten, das sich bei Jugendlichen spiegelt, gibt die Studie leider keine Antwort.
Immerhin sagten lediglich 59%, dass es in Deutschland insgesamt gerecht zugeht. Was ist mit den Anderen? Das sind genau genommen um die 40%. Diese Unklarheit wird noch relevanter, wenn man sich das folgende Ergebnis betrachtet: Da »nur noch jeder zweite« die steigende Armut und somit die wirtschaftliche Lage als Bedrohung wahrnimmt, lässt dies offen, was mit der anderen Hälfe ist und wie diese denkt und fühlt. Interessant wird auch, dass die Zustimmung zur erkennbaren sozialen Gerechtigkeit in der Gesellschaft stark mit der Herkunftsschicht korreliert: je niedriger der soziale Status, umso geringer ist die Anzahl derer, die zustimmen. So beklagt jeder zweite Jugendliche aus der untersten sozialen Schicht eine fehlende soziale Gerechtigkeit.

Erkennbar wird ein weiterer Bruch, nämlich zwischen dem Eintreten der Jugend für soziale Gerechtigkeit, und dem sich Einlassen auf soziale Ungleichheiten; zwischen einem möglichen Trend zur Normalisierung von Armut in Mittelschichten und einer Unklarheit darüber, was die anderen denken. Habe diese Angst vor der Armut? Diese Unklarheiten ließen sich u.a. mit dem Hinweis auf das grundlegende Narrativ erklären, das eine pragmatische, optimistische und weltoffene Jugend im Fokus hat. Insofern wurden andere bzw. weitergehende Frage, die auf die Zerrissenheit der Gesellschaft und deren gleichzeitig stattfindende Normalisierung zielen, möglicherweise nicht gestellt.

Fazit
Auch wenn ein scheinbar einheitliches bzw. »mehrheitliches« Bild suggeriert wird, offenbart die Studie klare Unterschiede zwischen Gebildeten und weniger Gebildeten, und somit zwischen sozialen Schichten. Allerdings sehen die Autoren/innen diese nicht so fokussiert, wie sie erscheinen. So ist zu lesen, dass eine klare Aufteilung der jungen Generation im Sinne einer Aufspaltung in Lager nicht festgestellt werden kann. Allein schon die Populismuskategorien sagen etwas Anderes. Das Narrativ bricht in den Ergebnissen; diese Brüche werfen neue Fragen auf, die aber nicht gestellt wurden – aber thematisiert werden müssen.

Die Studie zeigt eigentlich große Spaltungen in einer zerrissenen Republik. Sie muss Anlass sein, nach anderem zu fragen, als sie es getan hat. Für die Gestaltung von Bildungsprozessen müssen wir mehr wissen: Passt sich die Jugend wirklich den Gegebenheiten an? Welche Lebensweise ist ihr Ideal? Ist ihr die Verantwortung des Nordens für den Klimawandel bewusst? Wie kritisch ist sie wirklich? Wie optimistisch sind Benachteiligte? Zu welchen Veränderungen sind die jungen Menschen bereit? Wie stark ist ihre Affinität zu Populismus und illiberalen Vorstellungen? Sind Tendenzen einer Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit erkennbar? Findet sich eine Normalisierung von Armut?

All das wäre wichtig, um mit ihnen Wege in die Zukunft zu gehen bzw. Utopien zu entwickeln, die von den Menschen ausgehen und in Bildungsprozessen münden.

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Endnoten

1 https://www.shell.de/medien/shell-presseinformationen/2019/shell-jugendstudie-2019-jugendliche-melden-sich-zu-wort.html
2 Zu fragen wäre allerdings, was ist mit den anderen 42%?
3 Wenn in der Folge von »der Studie« gesprochen wird, bezieht sich dies zum einen auf die Publikation Albert et al 2029 sowie auf die Zusammenfassung unter: https://www.shell.de/ueber-uns/shell-jugendstudie/_jcr_content/par/toptasks.stream/1570708341213/4a002dff58a7a9540cb9e83ee0a37a0ed8a0fd55/shell-youth-study-summary-2019-de.pdf
4 https://fridaysforfuture.de/
5 Narrative sind sinnstiftende Erzählungen, in denen Realitäten, Vorstellungen, Ideologien und Visionen in Bildern verdichtet werden, die einen starken Einfluss darauf haben, wie etwas wahrgenommen wird bzw. werden sollte (Hahn; Hausmann; Wehr 2013). Darin werden Normen, Werte, Zuschreibungen und auch Emotionen zum Ausdruck gebracht, die sich aus ökonomischen, sozialen und kulturellen Kontexten und Entwicklungen ergeben bzw. diese zugleich auch beeinflussen können. Sie unterliegen zwar dem zeitlichen Wandel, dennoch haben sie eine gewisse Persistenz und determinieren immer auch Diskussionen und die Politik (Hofmann; Renner; Teich 2014). Narrative sind keine beliebigen Geschichten, sondern etablierte Erzählungen, die eine gewisse Legitimität beanspruchen und Realität zu formen vermögen. Dies gilt auch für Familie als Element sozialer Ordnung von Gesellschaft, mit ihr verbinden sich Traditionen und Ansprüche, wie sie sein sollten. Narrative der Jugend entfalten große Bedeutung und bestimmen Diskurse, behauptete Vorstellungen von ihr werden mitunter als generell gültig definiert und andere als abweichend dargestellt.
6 Kritisch hierzu: https://www.klimafakten.de/meldung/mehr-als-gruener-kapitalismus-nur-ein-wechsel-des-wirtschaftssystems-kann-die-klimakrise
Sowie: https://www.rubikon.news/artikel/mythos-gruner-kapitalismus
7 Siehe u.a.: https://www.uni-bielefeld.de/ikg/projekte/GMF/Gruppenbezogene_Menschenfeindlichkeit_Zusammenfassung.pdf 
 

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Literatur
Albert, Mathias; Hurrelmann, Klaus; Quenzel, Gudrun; Schneekloth, Ulrich; Leven, Ingo; Utzmann, Hilde & Wolfert, Sabine: Jugend 2019 – 18. Shell Jugendstudie: Eine Generation meldet sich zu Wort, Beltz: Weinheim 2019
Brand, Ulrich & Wissen, Markus: Imperiale Lebensweise, Oekom Verlag: München 2017
Breuer, Stefan: Kritische Theorie. Schlüsselbegriffe, Kontroversen, Grenzen. Mohr Siebeck: Tübingen 2016
Butterwegge, Christoph: Die zerrsissene Republik, Beltz: Weinheim 2019
D`Alisa, Giacoma; Demaria, Federico & Kallis, Giorgios (Hg.): Degrowth: Handbuch für eine neue Ära, Oekom Verlag: München 2016
Foroutan, Naika: Die postmigrantische Gesellschaft, transcript: Bielefeld: 2019
Graefe, Stefanie: Resilienz im Krisenkapitalismus, transcript: Bielefeld 2019
Hahn, K./ Hausmann, M./ Wehr, C. (Hrsg.): ErzählMacht. Narrative Politiken des Imaginären, Königshausen & Neuman: Würzburg 2013
Hennig, Sebastian & Höcke, Björn: Nie zweimal in denselben Fluß. Björn Höcke im Gespräch mit Sebastian Hennig, Manuscriptum: Lüdinghausen 2018
Hofmann, W./ Renner, J./ Teich, K. (Hrsg.): Narrative Formen der Politik, Springer: Wiesbaden 2014
Kaufmann, Stephan; Müller, Tadzio: Grüner Kapitalismus: Krise, Klimawandel und kein Ende des Wachstums, Dietz: Berlin 2009
Lessenich, Stephan: Neben uns die Sintflut, Hanser: Berlin 2016
Lutz, Ronald: Ausblendung? Idealisierung? Fragen an die Shell-Studie, in: punktum, 1/2016a, S. 3-7
Lutz, Ronald: Was ist mit Jugendarmut? Fragen an die Shell-Studie, in: sozialmagazin1/12, 2016b, S. 81-88
Piver, Susan: Der achtsame Weg zu einem authentischen Leben. Arbor Verlag: Freiburg 2013
Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten - Zum Strukturwandel der Moderne, Suhrkamp: Berlin 2017
Voß; Günther & Pongratz, Hans: Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. H. 1, 1998, S. 131–158.