Von Oliver Trier, Hamburg
Seit neun Monaten demonstriert Fridays for Future auf Hamburgs Straßen und mobilisierte bis zu 25.000 junge Menschen. Die Schüler/innen und Studierenden fordern einen radikalen Wechsel der Klimapolitik von Stadt und Land.
Es ist kurz nach halb vier, als sich der Lautsprecherwagen endlich seinen Weg durch den Feierabendverkehr bis zum Hauptbahnhof gebahnt hat. Die Sanitäter/innen warten bereits seit einiger Zeit in der prallen Nachmittagssonne, als der Wagen am Hachmannplatz ankommt. Zu diesem letzten Freitag im August hat Fridays for Future (FFF) nicht wie gewohnt zu einem Schulstreik am Vormittag aufgerufen. Zwei Tage vor den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen will die Hamburger Ortsgruppe unter dem Motto: »Eure Stimme, unsere Zukunft« am Nachmittag demonstrieren.
Helfende Hände. Nach und nach treffen auch die ersten Schüler/innen am verabredeten Auftaktplatz der Demonstration an, während der Lautsprecherwagen vom Transporter gelöst wird. »Könnt Ihr mal alle anpacken?« ruft Andreas Schnoor den wartenden Demonstranten zu. Der 18-jährige Schüler engagiert sich normalerweise bei der Jugend- sowie der Freiwilligen Feuerwehr. Freitags aber ist er in erster Linie Klimaschützer. »Vier Ecken, vier Menschen – gerne noch mehr!« Sofort kommen einige Jugendliche zum Wagen und helfen das Dach vom Anhänger erst herunterzuheben. Routiniert und mit geübten Griffen verwandeln die jungen Aktivisten den Wagen zu einer fahrbaren Bühne.
Andreas erinnert sich noch gut, wie es mit seinem Engagement für FFF losging: »Ich bin seit der ersten Demonstration im Dezember 2018 dabei.« Eine Freundin habe ihn damals gefragt, ob er nicht auch zu »dieser Demo« wolle. »Wir sind tatsächlich hingegangen und ich habe mich gut mit den Leuten unterhalten, die die Kundgebung angemeldet hatten«, erzählt Andreas. Er habe auch von seinem Engagement bei der Jugendfeuerwehr erzählt und sei kurz danach in eine Whatsapp-Gruppe aufgenommen worden. »Und wie das bei FFF so ist: Aus dieser Whatsapp-Gruppe bin ich schnell in der nächsten Gruppe gelandet und habe angefangen meine ersten Au fgaben zu übernehmen.«
Mit ihrem Protest vor dem schwedischen Reichstag am 20. August 2018 brachte die damals 15-jährige Greta Thunberg die Entstehung einer weltweiten Klimaschutzbewegung junger Menschen ins Rollen. Ihre Idee, während der Schulzeit auf die Straße zu gehen und für umfassende und schnelle Klimaschutz-Maßnahmen zu kämpfen, motivierte junge Menschen auch in anderen Ländern zu eigenen Streikaktionen. In Hamburg startete am 14. Dezember die erste FFF-Kundgebung mit ungefähr 60 Teilnehmern/innen. Zur zweiten Demonstration im Januar 2019 zogen dann schon 2.000 junge Menschen vor das Hamburger Rathaus. Als sich Greta Thunberg vor den Märzferien dem Streik in Hamburg anschloss, beteiligten sich sogar 10.000 an der Kundgebung. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte die hiesige Ortsgruppe Ende Mai, als sich im Vorfeld der Europawahl allein in Hamburg 25.000 Menschen am globalen Klimastreik beteiligten.
»Langsam wird es heiß«, steht auf einem der Plakate geschrieben, mit dem sich junge Menschen frische Luft zu fächern, während sie auf den Beginn der Kundgebung warten. Um 16 Uhr sollte es losgehen, doch noch wird am Lautsprecherwagen fleißig gewerkelt. »Das wirkt alles ein wenig unorganisiert, ein wenig spontan«, raunt ein älterer Herr mit Brille seinen Bekannten zu, während sie im Schatten eines Großraumtaxis darauf warten, dass es losgeht. So sehr können Wahrnehmungen auseinandergehen. Denn die Aktivisten erwecken nach Außen den Eindruck, als wüssten sie genau, was sie tun.
In der Zwischenzeit füllt sich der Hachmannplatz von Minute zu Minute. Leere Pfanddosen werden aufgesammelt und neben den Müllereimer gestellt, um in Windeseile von einer Flaschensammlerin weggeräumt zu werden. Gegenüber vom Bieberhaus interviewt ein Team vom NDR die 16-jährige Annika für einen Beitrag im Nachmittagsprogramm. Die Schülerin engagiert sich seit den Märzferien bei FFF und war in die Organisation der heutigen Kundgebung eingebunden. »Ich bin schon immer politisch sehr interessiert gewesen, habe aber vor FFF nichts gefunden, was mich zu einem persönlichen Engagement reizte«, erzählt Annika. »Doch mit der Zeit ist mir klar geworden, wie wichtig Klimaschutz ist und wie wichtig es ist, jetzt etwas zu unternehmen!«
Forderungen. Anfang April legte FFF konkrete Forderungen an die Politik vor: Die Ziele des Pariser Abkommens und das 1,5°C‑Ziel müssten eingehalten werden. Für Deutschland würde das nach Ansicht der Klimaschutzbewegung bedeuten, bis 2035 die sogenannte »Nettonull« zu erreichen – also nicht mehr CO2 zu produzieren, als Natur oder Speichersysteme kompensieren können. Darüber hinaus formulierte die Hamburger Ortsgruppe im August auch konkrete Forderungen an die Hamburgische Bürgerschaft und den Senat. Auch die Stadt müsse bis 2035 klimaneutral werden und zu diesem Zwecke u.a. das bis dahin zur Verfügung stehende CO2-Budget auf alle Behörden verteilen.
»Es übt mehr Druck auf die Politik aus, wenn wir während der Schulzeit streiken«, meint Wanja, der mit seinen Freunden Michael, Niels und Matti aus Bergedorf gekommen ist, um zu demonstrieren. »Aber natürlich wird das irgendwann normal. Deswegen ist es auch gut, dass es heute mal an einem Nachmittag ist. Das zeigt, dass wir es ernst meinen.« Die vier Freunde seien im März das erste Mal zu einer Aktion von FFF dabei gewesen und kämen seitdem regelmäßig, erzählen sie gut gelaunt. Es habe sich so eingespielt, dass sie es immer in der Klasse absprechen würden, wer hingehe und wer nicht. Manchmal würde es wegen Hausaufgaben oder wegen anstehender Theaterproben nicht gehen.
Die prominenteste Wirkungsstätte von FFF ist die Straße. Hier entstehen die Bilder für die Nachrichten, die das Thema Klimaschutz in die Mitte der Gesellschaft gebracht haben. Doch ohne das Internet blieben die Straßen leer. »Alles vernetzt sich über soziale Netzwerke und soziale Medien«, erzählt Andreas und nimmt einen Schluck aus einer Flasche mit »lautem« Mineralwasser. Inzwischen kommuniziert FFF über drei Messenger-Dienste und Social Media.« Durch Accounts auf Facebook, Instagram und Twitter kann die Hamburger Ortsgruppe für ihre geplanten Aktionen werben. Chat-Gruppen auf Messenger-Diensten wie Whatsapp und Telegram ermöglichen interessierten Jugendlichen mit den Klimaaktivisten/innen in Kontakt zu treten. Gleichzeitig geben die Reaktionen, die FFF über Facebook und Co. erreichen, auch einen Eindruck davon, wie die Aktionen ankommen. »Es ist ein sehr gemischtes Bild, aber das meiste ist dann doch positiv«, versichert Andreas.
»Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist. Es wär‘ nur deine Schuld, wenn sie so bleibt.« Aus den Boxen erklingt »Deine Schuld« von den Ärzten, als der Lautsprecherwagen mit einer Viertelstunde Verspätung zum Leben erwacht. Währenddessen verteilen Freiwillige ohne Pause Sticker und Flyer, die zur Teilnahme am nächsten weltweiten Klimastreik am 20. September unter dem Motto »#AlleFürsKlima« aufrufen. Wenn dann in Berlin das Klimakabinett der Bundesregierung tagen wird, um zu beschließen, mit welchen Maßnahmen der Ausstoß von Treibhausgasen in Deutschland reduziert werden solle, hofft FFF in Hamburg mit einem breiten Bündnis, alle Generationen auf die Straße bringen. »Wir wollen zeigen, dass der Schutz des Klimas nicht nur ein Thema für Schüler/innen und Studierende ist, sondern für alle wichtig ist«, stellt Annika klar.
Die ersten beiden Redebeiträge eröffnen die Kundgebung und dann geht es endlich los: Das Transparent mit der Aufschrift »Eure Stimme, unsere Zukunft« nimmt seinen Platz an der Spitze des Demonstrationszuges ein, und auch der Lautsprecherwagen wird von tatkräftigen Jugendlichen in Stellung gebracht.
»Tatsächlich sind wir zum ersten Mal dabei«, gestehen Emily, Smilla und Hannah lachend. Die drei Schülerinnen besuchen die 12. Klasse, und das Abitur steht vor der Tür. Für ihre Plakate hätten sie sich Inspiration aus dem Internet geholt. Gern wären sie schon früher dabei gewesen, aber während der Schulzeit sei eine Teilnahme für sie noch keine Option gewesen. »Wir haben das Gefühl, mit unserem Engagement bei FFF etwas bewirken zu können«, sind sie sich einig. Dass FFF inzwischen auch mit der Hamburgischen Bürgerschaft im Gespräch sei, zeige, dass die Proteste ankämen und gehört würden. Es habe natürlich auch schon vorher Organisationen gegeben, in denen Jugendliche etwas bewirken könnten, meint Smilla. Aber dort sei das Engagement immer auch mit einem hohen Aufwand an Freizeit verbunden.
Strukturen. Mittlerweile bilden in Deutschland über 600 Ortsgruppen die Basis für FFF. Wo es noch keine Gruppe gibt, kann ohne viel Aufwand eine neue gegründet und über die Homepage von FFF eingetragen werden. Jede Ortsgruppe ist frei in ihren Entscheidungen und kann drei Delegierte wählen, die die Vertretung zur Bundesebene übernehmen. »Jedes Wochenende gibt es ein großes Orga-Treffen, zu dem alle eingeladen werden, die sich gern beteiligen wollen«, erklärt Annika. Von 80 regelmäßigen Aktivisten/innen seien im Schnitt ca. 40 dabei, um im Plenum Anfragen und Fragen abzustimmen und zu besprechen, was zu tun sei. »Die konkrete Arbeit geschieht dann in einzelnen Arbeitsgruppen (AGs). Es gibt beispielsweise die Schul-AG, die Studierenden-AG, die Mobilisierungs-AG, die sich um die Mobilisierung der Streikaktionen kümmert, und die Struktur-AG, die sich mit allen internen Angelegenheiten befasst.« So kümmere sich die Struktur-AG um die Tagesordnung und Räume für die Sitzungen oder organisiere Wahlen.
»Wer mitmachen möchte, kann über unsere Info-Gruppen auf Whatsapp oder Telegram erfahren, wann die Termine sind, und erfährt den Ort auf Nachfrage. Oder man schreibt uns einfach direkt per Mail oder über jegliche Social-Media-Accounts an, die wir im Angebot haben.«
Marschroute. Vom Hachmannplatz aus geht es über die Ernst-Merck-Straße einmal um den Hauptbahnhof herum. Vor dem Vattenfall-Kundenzentrum am Glockgießerwall stimmt Annika vom Lautsprecherwagen aus einen neuen, an dieser Stelle offensichtlich bewährten Sprechruf ein: »Moorburg stoppen, Hambi bleibt – one struggle, one fight!« Interessiert verfolgen Passanten, wie sich der lautstarke Demonstrationszug über den Ring 1 seinen Weg durch den Hamburger Feierabendverkehr bahnt. Handys werden gezückt und halten die Eindrücke auf Videos fest. Die Demonstrierenden nutzen die Gelegenheit, um großzügig Flyer zu verteilen und die Passanten über FFF aufzuklären. Um kurz vor fünf schließt sich eine Herrenrunde mittleren Semesters samt Rollkoffern fröhlich dem Klimaprotest an – Trolleys for Future.
Vernetzung. »Wir wollen generell für alle offen sein«, meint Annika. Aber bisweilen würde FFF vor allem als eine Bewegung von Schülern/innen wahrgenommen. Deswegen versuche man mit der Studierenden-AG auch an den Universitäten präsenter zu werden. Die Klima-Uni von unten, die regelmäßig an der Universität Hamburg stattfindet, sei ein gutes Beispiel dafür. »Darüber hinaus stehen wir stehen in einem engen Kontakt mit den anderen Teilen der For-Future-Bewegung: den Scientist for Future oder den Parents for Future.« Auch das breite Bündnis für den Klimastreik am 20. September sei der bewusste Versuch, die Bewegung noch besser in der Gesellschaft zu verankern. Gute Kontakte gäbe es schon zu Umweltorganisationen und Gewerkschaften und natürlich zu den mit ihnen verbundenen Jugendorganisationen. Einen guten Austausch pflege FFF auch mit Extinction Rebellion (XR). »Jede*r muss für sich entscheiden, wie weit der Einsatz für mehr Klimaschutz gehen darf. Doch am Ende sind wir alle Teil einer großen Klimaschutzbewegung.«
»Keep it in the ground, keep it in the ground”, schallt ein weiterer Sprechchor von den Glasfassaden der Hochhäuser zurück. Auf ihrem Zug durch die Hamburger Innenstadt bringt die Kundgebung den Hamburger Feierabendverkehr zum Erliegen, indem sie zum inzwischen zweiten Mal die Willy-Brandt-Straße überquert. Mit aller Kraft hupt ein LKW-Fahrer. Es wird nur nicht klar, ob er die Sprechchöre überstimmen oder unterstützen will. Doch je näher die knapp 1.000 Schüler/innen und Studierenden dem Rathaus kommen, desto lautstärker werden sie.
»Die Jugendverbände trauen sich noch nicht so sehr an uns ran«, wundert sich Andreas. Seiner Ansicht nach gäbe es auf Seiten der Klimaschutzbewegung durchaus den Wunsch nach Kontakt. »Am besten wäre es, wenn uns Jugendverbände mal zu sich einladen würden. Wir machen zum Beispiel sehr gern kleinere Podiumsdiskussionen und Veranstaltungen, bei denen man ins Gespräch kommt.« Daraus könne sich sehr viel entwickeln. Doch bislang kämen vor allem Nichtregierungsorganisationen und Journalisten/innen auf sie zu. »Solche Treffen sind oft wichtig, um bei Leuten, die sich noch nicht so sehr mit FFF auseinandergesetzt haben, den Eindruck zu korrigieren, dass wir nur ein Partyevent am Freitag seien.«
Um halb sechs erreicht der Klimastreik sein Ziel. Jubel bricht unter den Jugendlichen aus, die den Lautsprecherwagen vom Hauptbahnhof bis zum Gänsemarkt gezogen haben. Nachdem sich die Organisatoren/innen bei allen Helfern/innen und vor allem den Sanitätern/innen und Wagenziehern/innen bedankt haben, hält Annika noch eine Rede zum Abschluss der Kundgebung. Die Angewohnheit, die eigene Verantwortung für Klimapolitik vom Land auf den Bund und von dort auf die EU zu schieben, müsse aufhören. »Sonst wird sie am Ende an spätere Generationen weitergegeben«, erklärt Annika. Die Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen seien Klimawahlen und eine Chance, das Ruder noch umzureißen. »Wir sind die erste Generation, die mit den Auswirkungen der Klimakatastrophe aufwachsen muss, die aktuellen Politiker/innen sind die letzte Generation, die der Irreversibilität der Klimaschäden noch entgegenwirken können.«
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Alle Photos © Oliver Trier