Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 1-2011, Rubrik Titelthema

Demokratiebildung am Ende?

Jugendverbände zwischen Familiarisierung und Verbetrieblichung*

Von Helmut Richter und Benedikt Sturzenhecker, Hamburg

Aktuelle Problementwicklungen von Jugend­verbänden stellen unter heutigen sozialpolitischen, gesellschaftlichen und jugendspezifischen Rahmenbedingungen Verschärfungen von strukturellen Grundwidersprüchen der Jugendverbandsarbeit dar, die schon seit den 1960er Jahren erkennbar waren – so eine zentrale These dieses Textes. Sie wurden besonders von Giesecke (1980/1971) bereits in dem Klassiker »Die Jugendarbeit« analysiert. Im Folgenden werden wir an die historischen Grundprobleme anknüpfen und aus unserer Sicht ihre heutige Zuspitzung erläutern. Diese erkennen wir besonders in den Tendenzen zur Familiarisierung der Verbände einerseits und ihrer Entwicklung zu dienstleistenden Wirtschaftsbetrieben andererseits. In beiden Entwicklungen sehen wir Gefahren für Strukturen und Potentiale einer Demokratiebildung in der Jugend­verbandsarbeit.

Auftrag und Potential zur Demokra­tiebildung in Jugendvereinen

Der § 11 Abs. 1 SGB VIII (Kinder- und Jugend­hilfegesetz) weist der Jugendarbeit die Auf­gabe zu, junge Menschen durch partizipative Angebotsformen zur Selbstbestimmung, gesellschaftlichen Mitbestimmung und zum sozialen Engagement zu befähigen (vgl. zum Folgenden Sturzenhecker/Richter 2010). Das Gesetz entwirft mit den Wirkungszielbegriffen der »Selbst­bestim­mung, gesellschaftlichen Mitverant­wor­tung und des sozialen Engagements« ein mündiges und engagiertes Subjekt in einer demo­kratischen Zivilgesellschaft, das die eigene Autonomie im Rahmen gesellschaftlicher Mitbestimmung, Mitgestaltung und Mit­ver­ant­wor­tung realisiert. Dieses Ziel der Bildung eines/r demokratischen Bürgers/in wird konkretisiert durch die demokratische Strukturierung der jugendarbeiterischen Bildungsbedingun­gen: Jugendarbeit soll bei den Interessen der Kinder und Jugendlichen ansetzen und von ihnen mitgestaltet und mitbestimmt werden. Damit wird Jugendarbeit als ein demokratischer Prozess entworfen, in dem die Beteiligten Inte­r­es­sen artikulieren und ihre Umsetzung gemeinsam bestimmen und gestalten. Demokratie wird hier durch ihre praktische Anwendung angeeignet: Jugendarbeit mutet Demokratie zu, und die Fähig­keiten der Selbst- und Mitbestimmung entstehen im Prozess ihrer Aus-Übung. Solche entwicklungsförderlichen Erfahrungen werden als »Angebote« zur Verfügung gestellt, denn die Potenziale zur Demokratiebildung können sich nur frei und nicht unter Zwang entfalten. Es wird eine freie Assoziation der Kinder und Jugendlichen ermöglicht. Sie können sich in der Jugendarbeit frei gesellen und bestimmen, was und wie sie etwas zusammen tun möchten. Durch Demokratiebildung wird insofern dem Prinzip der Freiwilligkeit in der Jugendarbeit in ausgezeichneter Weise Rechnung getragen.

Der § 12 SGBVIII verstärkt diese demokratieförderlichen Bedingungen noch für die Jugendverbandsarbeit. Jugendvereine bzw. -verbände werden als demokratische Assoziationen freiwillig sich zusammenfindender Mitglieder entworfen, die das Verbandsleben eigenverantwortlich selbst organisieren, gemeinsam gestalten und mitverantworten. Darüber hinaus wird den Verbänden die Funktion einer Artikulation und Vertretung der »Anliegen und Interessen junger Menschen« in der demokratischen Öffentlichkeit und Politik zugewiesen. Ent­sprechend lautet auch das Selbstverständnis der Jugendverbände: »Die Demokratie wird erfahrbar, weil das Zusammenleben in der Freizeit und im Verband demokratisch gestaltet wird. Jugendverbände sind daher lebendige Werkstätten der Demokratie und übernehmen wichtige Sozialisierungs- und Bildungs­auf­gaben« (Deutscher Bundesjugendring 2004, S. 2).

Diese Demokratie eröffnenden Struktur­bedin­gungen werden besonders deutlich, wenn die Jugendverbände auch als rechtlich verfasste eingetragene Vereine erkannt werden (vgl. Richter 2000). Denn der (Jugend-)Verein ist von seiner Rechtsform her eine demokratisch strukturierte Organisation und deshalb durch folgende »Vereinsprinzipien« gekennzeichnet: »Der Verein ist [also] eine soziale Gruppe (bzw. Organisation), die sich anhand der freiwilligen, formalen, nicht ausschließenden Mitgliedschaft abgrenzt, ein gemeinsames Vereinsziel und Mitgliederhandeln aufweist, sich lokal begrenzt und dauerhaft angelegt sein soll (...) und (die) über ein gewisses Maß an ›Öffentlichkeit‹ verfügt« (Bühler/Kanitz/Siewert 1978, S. 43). Kurz: Organisationeller Rahmen, Freiwilligkeit, formale Mitgliedschaft, gemeinsame inhaltliche Interessens- bzw. Zielorientierung, Mitglieds­handeln (Ehrenamt), Ortsgebundenheit (Lokali­tät) und Öffentlichkeit zeichnen den Verein als genuine Institution der Demokratiebildung aus – im Unterschied zur Schule mit ihrer Bindung an (Schul-)Pflicht, Curriculum, Fachdidaktik und Gruppenzwang (Schulklasse).

Von besonderer Bedeutung ist dabei das Prinzip der Öffentlichkeit, wenn man sie als demokratische im Sinne von Habermas' Kategorie der Öffentlichkeit versteht, wie er sie in seiner Untersuchung über den »Strukturwandel der Öffentlichkeit« (1990/1962) eingeführt hat (vgl. Richter 1999). Dann lässt sich zum Ersten der Verein aus seiner je möglichen partikularis­tischen Milieuhaftung lösen und zum Zweiten über das Prinzip der Lokalität als verortet in der kommunalen Öffentlichkeit (in Großstädten auch in den Stadtteilen) bestimmen. Diese kommu­nale Basis des (Jugend-)Vereins verschafft ihm zugleich seine konkrete demokratische Qualität, konturiert sie ihn doch gegen-über der Privatsphäre einerseits und der »Welt­öffentlichkeit« andererseits als besondere Einheit von partikularer und universeller Öffent­lichkeit.

Unsere These ist nun, dass die hier entfalteten Potentiale der Demokratiebildung in den Jugend­vereinen und -verbänden bisher kaum verwirklicht worden sind und sie daher für ihre Mitglieder – also besonders für die Kinder und Jugendlichen in den kommunal verorteten Basisgruppen – zu wenig als Feld konkreter Umsetzung eigener demokratischer Mitverant­wortungs- und Mitentscheidungspraxis erfahrbar werden.

Diesen Mangel an Demokratiebildung sehen wir bereits in dem die bundesrepublikanische Jugendverbandsarbeit prägenden »Grundsatz­ge­spräch von St. Martin« angelegt, das der Deutsche Bundesjugendring (1962) im Jahre 1962 über »Selbstverständnis und Wirklichkeit der heutigen Jugendverbandsarbeit« führte. Es bildete den Ausgangspunkt für eine neue Konstruktion des Jugendverbandes, und zwar sowohl in seinem Innenverhältnis als auch in seinen Außenbeziehungen zu Gesellschaft und Politik (vgl. Richter 2011).

Jugendverband in der Konkurrenz­demo­kratie – St. Martin revisited

In dem Grundsatzgespräch von St. Martin wird zunächst ein spezifisches Konzept der Gruppe als Gemeinschaft an der Basis des Verbandes entwickelt. Diese Basisgruppe wird entworfen als ein ständiges »Zusammenwirken junger Men­schen gleicher Altersstufen im überschaubaren Bereich der Primärgruppe« – als »kleine Gemeinschaft« im Gegensatz zur »Großgesell­schaft«. Ihre Prinzipien werden als »Erziehung auf Gegenseitigkeit« und als »Selbsterziehung und Selbstveranstaltung der Jugend« be­stimmt. Wenn dabei der altershomogenen Gemeinschaft die Qualität einer »Primär­grup­pe« – soziologisch wird mit diesem Begriff sonst die Familie bezeichnet (!) – ebenso wie die Aufgabe der Selbsterziehung und Selbst­organisation zugesprochen wird, so erinnert diese Konstruktion deutlich an die gemeinschaftsbezogenen und Autonomie beanspruchenden Vorstellungen der Jugendbewegung.

Allerdings: »Ein ›autonomes Jugendreich‹ wird nicht angestrebt« (Deutscher Bundesjugendring 1962, S. 119). Vielmehr werden den Jugend­verbänden entgegen den traditionellen Auto­nomiebestrebungen der Jugendbewegung Funk­tionen der Erziehung und Integration in die Gesellschaft übertragen. Die Aufgabe des Jugendverbandes wird nun verstanden als »Einführung des jungen Menschen in seine späteren Aufgabenkreise«, indem ihm »seine Pflich­ten und Rechte innerhalb der Familie, im Rahmen des Berufs- und Arbeitslebens und in Politik und Gesellschaft deutlich gemacht« werden. Orientiert an der »Gesamtgesellschaft« und »Erziehungsleitbildern« sollen »menschliche Tugenden und Wertvorstellungen vermittelt werden«. Erziehungsziel ist eine Integration in die (unhinterfragten) Strukturen und Hand­lungsformen der »Großgesellschaft«.

Mit dieser widersprüchlichen Konstruktion tritt der zentrale Jugendverband seinen sich selbst erziehenden Gemeinschaftsgruppen in den dezentralen Vereinen nun selbst als Erzieher gegenüber. Diesem Konzept zu Grunde liegt eine Analogisierung zwischen Jugendverband und Staat: Es wird angenommen, dass der Verband wie der Staat strukturiert und so in der Lage sei, an seinen Verhältnissen »den Aufbau der Großgesellschaft überschaubar zu machen«. In diesem Sinne wird auch die Ebene der »Verbandsleitungen« eingeführt, die auf eine »sich ständig erneuernde Legitimation ›von unten‹, vom jungen Menschen her« angewiesen sei. Das wird als »Grundbedingung demokratischen Jugendlebens« bezeichnet.

Die Verhältnisse im Verband werden gleichgesetzt mit denen des Bürgers zum Staat: Wie in der »Großgesellschaft« die Bürger/innen in den Staat, so sind die Gruppen in die Verbands­organi­sationen »eingeordnet« und so wird auch »das Einüben von Verhaltensweisen in der demo­kratischen Massengesellschaft möglich«. Das ist das Geheimnis der Integrations­er­zieh­ung des Jugendverbandes, denn wie der Staat den Bürgern tritt der Verband seinen jugendlichen Gruppen/Mitgliedern gegenüber: Er erzieht sie, er ordnet sie ein, er betreibt Politik für sie, er erwartet die »Verantwortung staatsbürgerlicher Lebensführung« als Integra­tion in die staatstragenden (Erwachsenen-) Verbände und Parteien, er informiert sie und er erfüllt zudem staatliche/kommunale pädagogische Aufgaben. Und wie in der demokratischen Großgesellschaft müssen sich die Regierenden, also im Verband die »Leitungen«, »von unten« legitimieren lassen: durch Wahlen. Wer – so der konzeptionelle Grundgedanke – bereits im Jugendverband die gesellschaftlichen Struk­turen erfahren hat, der übt hier schon die dort angesagten Verhaltensweisen.

Auf diese Weise wird allerdings nicht nur die Jugendverbandsarbeit modelliert, sondern auch das in den westlichen Verfassungsstaaten vorherrschende Verständnis von Demokratie als bloßer Regierungsform für gültig erklärt, das nach Joseph Schumpeter als »Konkurrenz­modell« bezeichnet wird. In der Form einer »demokratischen Methode« geht es dabei einzig um eine Regelung des Abwechselns der Regie­ren­den, die Schumpeter (1950, S. 428) als methodisch-marktförmig organisierten, inhaltlich nicht vorwegbestimmten »Konkurrenz­kampf« verschiedener Eliten um die Macht im Staate beschreibt (vgl. Richter 2011, S. 230).

Dass Demokratie aber nicht nur als Regierungs-, sondern auch – wie schon im Verständnis von John Dewey (1916) – als Lebensform (vgl. Himmelmann 2001) wirksam werden und daher ebenso das Binnenverhältnis im Jugendverband und seinen Jugendvereinen strukturieren könnte, kommt nicht in den Blick. Die Beziehung der Mitglieder an der Basis wird entworfen als eine vor allem emotional und nicht auch formal verbundene Gemeinschaft (d.h. insbesondere, dass diese Beziehung nicht als eine demokratische verstanden wird) und ihr demokratischer Bezug zu den Verbandsleitungen besteht einzig darin, ihnen durch Wahlen Legitimität zu sichern. Als Verbandsregierende kommunizieren die Lei­tungen mit Erwachsenenverband, Staat und Politik und vertreten dabei die von ihnen definierten Interessen der Verbände. Entsprechend wird von den Jugendverbänden als Gesamt­organisation ein jugendpolitisches Mandat beansprucht: Sie wollen »zielbewusst an der Gestaltung der Lebensverhältnisse der jungen Generation unseres Landes mitwirken«.

So entsteht das Grundmodell der noch heute gültigen Verhältnisse im Verband und des Verbandes nach außen. Damit verbunden ist ein Auseinanderdriften der beiden Verbands­sphä­ren, der gemeinschaftlichen Basisgruppen »unten« und den an Staat und Politik orientierten Leitungen »oben«.** Das Struktur­prin­zip von (Konkurrenz-) Demokratie, das beson­ders in der Wahl der Oberen durch die Unteren besteht, koppelt diese beiden Ebenen nur lose aneinander. In ihrer Entwicklung folgen die beiden Sphären den Strukturprinzipien, die mit St. Martin angelegt sind: Für die Basisgruppen wird die Gemeinschaft zentral, für die Lei­tungen die Staats- und Politikorientierung. Die Unteren konzentrieren sich auf sich und verlieren die Bindung nach oben, die Oberen konzentrieren sich auf die staatlich politischen Systeme und verlieren den Kontakt zur Basis.

Giesecke (1980/1971, S. 91) weist schon 1980 auf diese Trennung von »Basis« und Organisa­tionsspitze hin: Die Organisation wird in der Folge nach denselben Regeln bürokratischer Effizienz und von Profis mit eigenen berufspolitischen Interessen geleitet wie andere Organisationen auch. Er zeigt zugleich auf, dass die Jugendverbände eine »auf ›Wirtschaft­lichkeit‹ ausgerichtete(n) Unternehmens­struk­tur« und einen an der Zahl der »Kunden« orientierten »Markt-Charakter« entwickeln, um so die staatliche Förderung zu rechtfertigen.

Im Folgenden werden diese beiden Aspekte näher beleuchtet: die an einer familienähnlichen Gemeinschaft sich orientierenden Basis­gruppen auf der Ebene der kleinen bzw. dezentralisierten Vereine – diese Orientierung nennen wir Familiarisierung – und die sich an ökonomischen Rationalitäten ausrichtenden »Spitzen« der Großvereine und Verbände – diese Entwicklung nennen wir Verbetrieb­lichung (vgl. auch Riekmann 2010).

Entwicklungstendenz Familiarisierung

Die Familiarisierung wird bereits seit längerem in empirischen Untersuchungen (vgl. etwa Fauser/Fischer/Münchmeier 2006; Richter/Jung/ Riekmann 2007) durch den Nachweis belegt, dass Jugendverbände ihre Mitglieder in einem hohen Maße aus Familien und Freundeskreisen rekrutieren, deren Angehörige schon im Ver­band aktiv sind. Es kommt also, wer ohnehin zur spezifischen Subkultur des Verbandes passt – wer real verwandt oder »wahlverwandt« ist. Mit dieser Rekrutierungsweise der »Pas­sung« sind aber Risiken verbunden: Es erfolgt (oft durchaus ungewollt oder unbemerkt) eine Exklusion von Menschen ohne diese subkulturelle Nähe.

Hinzu kommt, dass solche zueinander passenden Gruppen ein starkes Gemeinschaftsgefühl erzeugen. So zeigen Fauser/Fischer/Münch­meier (2006), dass die in der Evangelischen Jugendverbandsarbeit erfahrene Gemeinschaft für die Nutzer den höchsten Stellenwert hat, noch vor den Inhalten. Sie ist die Basis für die gemeinsamen Aktivitäten, weil Freundschaft, Aktivität, Spaß und Sinnhaftigkeit des gemeinsamen Tuns hier eng miteinander verbunden sind.

In solchen Gemeinschaften aber ist eine demokratische (und deshalb oft konfliktreiche und scheinbar zeitaufwändige) Entscheidungs­fin­dung oft nicht die Regel: Entschieden wird lieber auf Grund von gemeinschaftlichen »Selbst­verständlichkeiten oder unerschütterten Überzeugungen« (Habermas) anstatt in einer demo­­kratischen Auseinandersetzung mit (u.U. durchaus widerstreitenden) Interessen und unter Abwägung von Argumenten und Lösungs­wegen. Die von der Vereinssatzung her durchaus lokal, z.B. auf Stadtteilebene, ausgerichteten Vereine oder Ortsgruppen der Verbände entwickeln sich mit ihren subkulturellen Stilen und familienhaften Gemeinschaftsinszenierungen zu eigenen Milieus (vgl. Sturzenhecker 2007). Solche Milieus zeichnen sich aus durch gemeinsamen Raum innerhalb der Lokalität des Vereinszwecks, durch gemeinsame Zeit, Ver­traut­sein, gemeinsames Handeln und Erleben sowie durch gemeinsame kulturelle Normen und Regeln (vgl. Hornig/Michailow 1990, S. 504), die immer dann auch mit zwanghaften Ab- und Ausgrenzungen einhergehen, wenn gemeinsame »Feinde« erzeugt werden (vgl. Böhnisch 1994, S. 217): Gemeinschaft ersetzt Gemeinde.

Solchen »bornierten, regressiven Milieus« steht das Modell der »offenen Milieus« gegen­über. Hier gelingt es, Gemeinschaft auf der Basis von Respekt auch gegenüber solchen Mit­gliedern und potentiellen Mitgliedern zu be­gründen, die in subkultureller Differenz ebenfalls als Bür­ger/innen in der Gemeinde zu Hause sind – seien es Menschen anderen Geschlechts, mit Behinderungen oder Migra­tions­hintergrund –, so dass die Gemeinschaft sich zugleich als ein Spiegel der Gemeinde verstehen kann (vgl. Richter/Riek­mann 2007).

Entwicklungstendenz Verbetrieblichung

Beim Begriff der Verbetrieblichung geht es hier um Erscheinungsformen in der Jugendverbandsarbeit, die Giesecke schon für die 1980er Jahre in ihren Anfängen treffend analysiert hat (s.o.). Ihre besondere Dynamik erhalten sie allerdings erst seit den 1990er Jahren durch die neuen Steuerungsmodelle und die im Jahre 1999 in Kraft gesetzte Neuregelung der Ver­einbarungen über die Höhe der Kosten, die die Träger der freien Jugendhilfe für ihre Leis­tungen beanspruchen können (§ 78 a–g SGB VIII). Dabei sind diese Maßnahmen und ihre Folgen nicht einfach als das rationale Ergebnis aufzufassen, dass die Jugendhilfe im Beson­deren und der Sozialstaat im Allgemeinen über seine Kosten lebe, sondern sie sind vor allem ein Reflex auf die monetären Prozesse in den Zeiten der Globalisierung. Sie sind dadurch charakterisiert, dass die von den Aktionären erwarteten extrem hohen Renditen von über 20 Prozent »eine Umverteilung zu Lasten der subalternen Schichten und zu Gunsten der ökonomischen und politischen Eliten verlangen, die den ökonomischen Rahmen für einen sozialstaatlich moderierten Klassenkompromiss spren­gen« (Altvater 2005, S. 139). Dies hat zur Folge, dass den Jugendverbänden von Rauschenbach/Schilling (1995, S. 350) ebenfalls eine ökonomische Modernisierung empfohlen wird: »Und das beinhaltet auch, sich aus Gründen der Kontinuität, Qualität und In­tensität im Werben um die Gunst von Kindern und Jugendlichen als ›Kunden‹, aber auch im konkurrierenden Überlebenskampf um soziale Macht, politischen Einfluss und zu beschaffendes Geld personell zu professionalisieren«. In diesem Zitat wird nicht nur das mit Rechten ausgestattete, freiwillig engagierte Mitglied in einen zu umwerbenden Kunden verwandelt, sondern auch der Verband als ein hauptamtlicher Dienstleistungsbetrieb entworfen, der sich in einem darwinistischen Konkurrenzkampf am Markt durchsetzen muss.

Empirische Studien für diese Entwicklung in der Jugendverbandsarbeit sehen wir aktuell nicht, allerdings gibt es einige Hinweise, die zeigen, wie die Verbetrieblichung sich durchsetzt. So werden Kleinstvereine gegründet mit dem Zweck, Dienstleistungen der Jugendhilfe von Hauptamtlichen zu erbringen. Sie nutzen die Vereinsstruktur nur fördertechnisch, sind an einer breiteren Mitgliedschaft (womöglich gar von Zielgruppen) nicht interessiert und übernehmen lieber selbst auch die Ämter des Vorstandes. Und die Großvereine und Orts­gruppen der Verbände gliedern immer mehr Zweckbetriebe in der Form von (auch gemeinnützigen) GmbHs aus, die auf die Erwirt­schaf­tung von Gewinnen in der ansonsten gemeinnützigen Körperschaft des Vereins ausgerichtet sind und finanziell die Verwirklichung der steuerbegünstigten, satzungsgemäßen Ziele absichern (vgl. Eurich/ Brink/ Hädrich 2005). Mit der Einrichtung solcher Zweckbetriebe stellt sich dann die Frage, ob die ehrenamtlichen Vorstände noch die Haftung für den komplexer werdenden betriebswirtschaftlichen Bereich über­nehmen können. Diese Frage wird in den letzten Jahren zunehmend häufiger beantwortet mit einer Strukturerneuerung des Vereins in der Form eines ehrenamtlichen Präsidiums anstelle des bisherigen ehrenamtlichen Vor­standes und eines hauptamtlichen, geschäftsführenden und haftenden Vorstandes, der vom Präsidium für die Dauer von mehreren Jahren eingesetzt wird. Und da Zweckbetriebe ihre Geschäftstätigkeit nicht an der Lokalität ihrer Vereine ausrichten können, wenn sie profitabel arbeiten wollen, wird durch diese Kommerzia­lisierung nicht nur der Demokratisierung, sondern auch der Kommunalisierung des Vereins der Boden entzogen.

Perspektiven einer reflexiven Demokratiebildung

Der Rückblick auf St. Martin hat verdeutlicht, dass schon in den Anfängen der Jugendverbandsarbeit die Demokratiebildung – basierend auf einem Verständnis von Demokratie als Regierungsform – höchstens kognitiv und auf Wahlbeteiligung und Aktionsformen zur Durch­setzung eigener Interessen ausgerichtet war, d. h. nach außen, nicht aber auch auf die eigene Gruppe und den Verein, d. h. nach innen in Form einer reflexiven Demokratiebildung. Der Blick auf die Gegenwart hat dann gezeigt, dass wir uns von einer solch reflexiven Demo­kratiebildung in den Jugendverbänden immer weiter entfernen. Dieser Befund könnte als zwingende Konsequenz der Modernisierung verbucht werden, wenn da nicht die (späte) Erkenntnis aus der 15. Shell Jugendstudie 2006 wäre: »Als wichtigster Sozialraum fungieren in Deutschland die Vereine« (Schneekloth 2006, S. 126), und wenn sich damit nicht die Frage verbinden würde: »Wo wird Mensch Demokrat?, und: Wo kann Mensch Demokrat sein?« (Richter 2011, S. 228) – außer in den Vereinen?

Nun gibt es gerade in den letzten Jahren auch durchaus positive Beispiele für eine reflexive Demokratiebildung in den Vereinen, etwa »Die Kinderstube der Demokratie« (Hansen/Knauer/ Stur­zen­hecker 2009, 2011) oder die Jugend­feuerwehr Hamburg (Richter/Jung/Riekmann 2007). Aber gerade diesen Beispielen gegen-über wird immer wieder die Skepsis geäußert, ob denn mit Kindern oder unter Befehlsnot­wendig­keiten überhaupt von Demokratie die Rede sein könne. Diese Skepsis macht es erforderlich, auf einige Grundprinzipien von Demo­kratie hinzuweisen.

Negativ formuliert, ist Demokratie vor allem ein Doppeltes nicht:

  • Sie ist nicht erst oder nur dann der Fall – wie es alltagssprachlich gerne gesagt wird –, wenn ich machen kann, was ich will. Denn es gibt keine Freiheit ohne Nicht-Freiheit und insofern hat jede individuelle (Willkür-)Freiheit ihre Grenze an der Freiheit des Anderen.
  • Und sie ist nicht nur dann der Fall, wenn einfache Mehrheitsentscheidungen getroffen werden, so dass z. B. Kinder oder Jugendliche über die Minderheit der Pädagogen/innen bestimmen könnten.

Positiv formuliert, begründet sich Demokratie durch einen Raum, in dem die darin lebenden Personen als Mitglieder gelten und über die Interaktionsform des Argumentierens auf Augenhöhe – d. h. auf der Basis wechselseitiger Anerkennung – über Beratung und Bildung zu rationalen Entscheidungen gelangen, worin die Adressaten sich zugleich als Urheber erkennen. Das Verfahren der Entscheidungsfindung berücksichtigt insbesondere den Minder­hei­tenstatus und kann Beschlüsse daher an das Einverständnis überstimmter Gruppen, z. B. der Pädagogen/innen, binden (Vetorecht). Sachlich gebotene Unterbrechungen des dialogischen Umgangs in der Form von Befehl und Gehorsam setzen die Zustimmung der Beteiligten voraus und revitalisieren Demokratie durch »Manöver­kritik«. Die Regelung solcher Verfahrens­prin­zipien erfolgt in Satzungen, die grundsätzlich der Zustimmung aller Mitglieder bedürfen.

Wenn wir vor diesem Hintergrund nach den Perspektiven einer reflexiven Demokratie­bildung in der Jugendverbandsarbeit fragen, so ist zu hoffen, dass die genannten Beispiele zumindest die Vereine mit der Tendenz zur Familiarisierung ermutigen können, die enormen Potentiale von Demokratiebildung stärker zu realisieren. Motivierend könnte dabei sein, dass die Besorgnis um einen Macht oder Verantwortungsverlust zurücktritt gegenüber der Erwartung auf eine Zunahme an rational-verlässlich engagierten Mitgliedern mit wachsender Bereitschaft zum demokratisch-ehrenamtlichen Engagement. Und es wäre zu hoffen, dass eine solche Demokratisierung auch auf die Verbetrieblichung in den Großvereinen ausstrahlt und dadurch Erinnerungen an die Tradition einer demokratischen Kommunali­sie­rung zu neuem Leben erweckt – denn wo sonst, wenn nicht in den Vereinen, ist eine reflexive Demokratiebildung möglich?

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Anmerkungen:

* Erstveröffentlicht in: deutsche jugend, Jg. 59, H. 2, S. 61 – 67. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung durch den Juventa Verlag und von den Autoren.

** Diese Spaltung spiegelt sich in der aktuellen gesamtgesellschaftlichen Entwicklung der Konkurrenzdemokratie wider: Wird Demokratie für die Bürger nur relevant zur Legitimierung von Regierungswechseln und erfahren sie Demo­kratie nicht eigentlich in der Lebens- und Alltagswelt, geht die Bereitschaft zur Betei­ligung immer mehr verloren: Sinkende Wahl­beteiligungen und zunehmende Volksabstim­mungen zur Durchsetzung vor allem eigener Interessen (vgl. Köcher 2010) sind dann die Folge.

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