Von Silke Nippert, Kurt-Tucholsky-Gymnasium, und Maren Riepe, Landesjugendring Hamburg
Sengende Hitze in Hamburg und der letzte Freitag vor den Sommerferien. Dennoch begeben sich 14 motivierte Schüler/innen des Kurt-Tucholsky-Gymnasiums, das jetzt die Stadtteilschule in Altona ist, auf den Weg durch Ottensen, um die Geschichte des Stadtteils im Nationalsozialismus zu erkunden und verbliebene Spuren vor Ort aufzulesen.
Die Schüler/innen des »Profils Geschichte und Politik« (ein verbindendes und übergreifendes Arbeiten der Fächer Geschichte, Politik-Gesellschaft-Wirtschaft, Spanisch und Seminar) hatten sich in den Monaten zuvor im Geschichtsunterricht mit dem Themenbereich »Staat und Nation in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts« beschäftigt und dabei – gemäß der verabredeten Schwerpunktsetzung der am Profil beteiligten Fächer – auf den »Umgang mit Minderheiten im Nationalsozialismus« fokussiert. Da laut Rahmenvorgabe für das Seminar die Nutzung kultureller oder wissenschaftlicher Einrichtungen sowie staatlicher oder privater Institutionen als außerschulische Lernorte vorgeschrieben ist, kam die Zusammenarbeit mit Landesjugendring (LJR) sehr gelegen. Bei den Schülern/innen stieß die Kooperation jedoch nicht unbedingt auf Begeisterung: »Am Anfang fand ich die Aussicht auf ein Projekt mit dem Landesjugendring befremdlich«, schreibt Christin im Rückblick. »Zusammenzuarbeiten stellte ich mir wenig spannend und wenig auf das Abitur vorbereitend vor.«
Anders lernen. Den festen Blick aufs Prüfungsziel Abitur fordert natürlich auch die Behörde für Schule und Berufsbildung: »In der gymnasialen Oberstufe erweitern die Schülerinnen und Schüler ihre in der Sekundarstufe I erworbenen Kompetenzen mit dem Ziel, sich auf die Anforderungen eines Hochschulstudiums oder einer beruflichen Ausbildung vorzubereiten«. Im Seminar sollen daher »methodische, wissenschaftspropädeutische und fächerübergreifende Kompetenzen zur Unterstützung der Arbeit in den Profil gebenden Fächern gefördert« werden. Ein guter Ansatz für die Zusammenarbeit fand der LJR, der sich von diesem Projekt – nicht ganz uneigennützig – neue, junge Begleiter/innen für die Alternativen Stadtrundfahrten versprach. Denn viele Fertigkeiten, die an der Universität und später im Beruf gebraucht werden, sind auch für Stadtführer/innen von großer Bedeutung: eigene Fragen formulieren, Inhalte recherchieren, Quellen interpretieren, Texte auswerten und natürlich Vorträge halten. Warum sollte man also nicht Schule und die Vorbereitung auf ein mögliches freiwilliges Engagement miteinander verbinden?
Von April bis Juli 2010 arbeiteten die Schüler/innen des Geschichts- und Seminarkurses von Silke Nippert zusammen mit dem LJR. Das vorgegebene Ziel: ein gemeinsamer Stadtrundgang zum Nationalsozialismus in Altona, dem Standort der Schule. Für den Einstieg ins Thema »Hamburg im Nationalsozialismus« eignete sich die Alternative StadtErkundung des LJR. Die Schüler/innen mussten dabei Gedenkorte rund ums Hamburger Rathaus finden, Fragen zu deren Bedeutung beantworten und sich anschließend die unterschiedlichen Ergebnisse ihrer Gruppenarbeit präsentieren. »Das Treffen vor dem Hamburger Rathaus und die Rallye waren sehr interessant«, erinnern sich Amarpreet und Leyla.
Recherche vor Ort. Anschließend richtete der Kurs seinen Fokus auf Altona: Was passierte eigentlich in unserem Stadtteil zur Zeit des Dritten Reiches? Um dies herauszufinden, musste zunächst recherchiert werden. Aber wo findet man nützliche Informationen? Die Suche im Internet stellte sich schnell als wenig hilfreich heraus. Die Schüler/innen lernten daher die Recherche im Campus-Katalog und in der Hamburg-Bibliografie der Universität Hamburg kennen. Sie erstellten eigene Literaturverzeichnisse, lernten das einheitliche Bibliografieren und lasen Aufsätze oder Kapitel aus Fachbüchern. »Die Recherche über Minderheiten im Nationalsozialismus in Altona war sehr aufwendig«, findet Christin. Materialsuche, gekonnte Auswertung und die Zusammenstellung der wichtigsten Informationen allein reichten zudem nicht aus. Auch Kriterien für einen guten Vortrag diskutierten die Schüler/innen und gaben sich – zu einem Vortragsthema ihrer Wahl – gegenseitiges Feedback zu Körperhaltung und Stimme.
Selbst gemachter Stadtteilrundgang. Am letzten Freitag des Schuljahres präsentieren die sechs Arbeitsgruppen schließlich ihre Ergebnisse: Miguel startet am Altonaer Rathaus mit einer Einführung über Altona als eigenständiger Stadt in Schleswig-Holstein und deren »Eingemeindung« in Hamburg 1937. Er berichtet von gewalttätigen Auseinandersetzungen am sogenannten Altonaer Blutsonntag im Juli 1932 und der Besetzung des Rathauses im März 1933 durch die SS. Celestina und Buhari wählen die Christianskirche als Standort ihres Vortrags und thematisieren dort die Haltung vieler Protestanten zum Nationalsozialismus. Mit Zitaten von Martin Luther weisen die beiden auf eine lange antisemitische Tradition der evangelischen Kirche hin. Nach Christians und Christophers Exkurs über die Bedeutung und Funktion des Hamburger Hafens im Dritten Reich geht es dann vom Altonaer Balkon ins Herz von Ottensen. Dort berichten Christin, Chantál und Leyla B. über Dr. Kurt Ledien, einen Altonaer Juristen, der zum Hamburger Zweig der »Weißen Rose« gehört hatte und wegen angeblicher Vorbereitung zum Hochverrat im April 1945 in Neuengamme erhängt worden war. Amarpreet, Leyla und Salih haben das Thema »Umgang mit Minderheiten« gewählt. Am Stolperstein für Ernst Dehle (1878–1939) in der Lobuschstraße 55 berichten sie über den Umgang mit Homosexuellen im Nationalsozialismus. »Endlich mal gab es nicht nur theoretisches Lernen«, resümiert Salih die Projektarbeit, »man hört über die NS-Zeit nur ›Auschwitz, Polen und Berlin‹, doch als wir uns mit diesem Thema speziell mit Blick auf Hamburg beschäftigten, habe ich es mir bildlicher vorstellen können.«
Zum Abschluss des Rundganges führen Melek und Buket ihre Mitschüler/innen ins Mercado. An der Gedenktafel zur Erinnerung an den Jüdischen Friedhof berichten sie von der Jüdischen Gemeinde in Altona vor der nationalsozialistischen Verfolgung sowie von den Auseinandersetzungen um den Bau des Einkaufszentrums an diesem Ort.
Und das Fazit? Durch die Erarbeitung des Rundganges »hatten wir die Möglichkeit, Orte in Hamburg kennenzulernen, die mir davor nicht aufgefallen oder die mir nicht bekannt waren«, schreibt Melek. Leyla bewertet den Rundgang als sehr gut, »da wir ihn selbst gestalten konnten«. Christopher meint, er habe einen »vielfältigeren Eindruck vom Nationalsozialismus« bekommen. »Vor allem kam nur sehr selten das Gefühl auf, dass man das alles schon mal gehört hat.« Selbständig einen Stadtrundgang zu erarbeiten, stelle eine gute Übung zum Präsentieren dar, bilanziert Miguel. Selbst Christin, die mit Skepsis an die Arbeit gegangen war, ist am Ende »absolut überzeugt«: »Im Endergebnis fand ich die Kooperation empfehlenswert«, lautet ihr Fazit. Das positive Feedback der Schüler/ innen ermutigt die Initiatorinnen: Wir, Maren Riepe und Silke Nippert, hoffen die gewinnbringende Zusammenarbeit auch mit in der neuen Stadtteilschule fortsetzen zu können.