von Carlo Klett, LJR-Geschäftsführer
Die vorliegende 16. Shell Jugendstudie hat wie ihre vorhergehenden fünfzehn Ausgaben den Anspruch, »jenseits engerer mit Jugendlichen befasster wissenschaftlicher und professioneller Kontexte breit in den öffentlichen Raum hineinzuwirken« (359)*. Dies gelingt den Autoren insbesondere mit jenen Teilen der Studie, die sich mit »einer umfassenden Bestandsaufnahme von Einstellungen und Lebenslagen Jugendlicher« (359) beschäftigen. Ein vergleichsweise wenig beachtetes Kapitel setzt sich mit »Optionen für Politik, Wirtschaft und Pädagogik« auseinander. Zu Recht?
Es dauert lange, bis man zu den Empfehlungen der Autorengruppe vorstößt, die aus Mathias Albert, Klaus Hurrelmann und Gudrun Quenzel besteht. Der Zugang ist etwas (zu) sperrig geraten. Er beginnt mit dem, was man schon weiß, nämlich der Wiederholung des Befundes: Gut ein Fünftel der Befragten fühlt sich nicht nur abgehängt von der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern ist es auch, Mädchen bzw. junge Frauen bewältigen die Herausforderungen des gesellschaftlichen Wandels besser als Jungs, trotz der Finanz- und Wirtschaftskrise sieht die überwiegende Mehrheit der 12- bis 25-Jährigen ihre Zukunft optimistisch.
Der Wiederholung des Befundes schließt sich ein Kapitel an, von dem man nicht so richtig weiß, was man davon halten soll. Gleichzeitig werden die Thesen »Jugendpolitik wird oftmals gleichgesetzt mit Jugendhilfepolitik« (348) und »Jugendhilfepolitik ist von ihrem Profil darauf angelegt, sich gezielt auf die benachteiligten Jugendlichen zu richten« (348) vertreten. Offen bleibt also, ob Jugendpolitik per Definition Jugendhilfepolitik ist, oder ob Jugendpolitik über die Jahre hinweg zu einer Jugendhilfepolitik entwickelt wurde – und wenn ja: von wem und warum? Völlig zu Recht weisen die Autoren auf die Rolle der Medien hin. Diese konzentrieren sich bei ihrer Berichterstattung auf das untere Fünftel und »rücken die Themen Gewalt und Kriminalität ebenso in den Vordergrund wie Schulversagen und Schulschwänzen, Verwahrlosung und Mobbing in den Schulen, Gewaltausbrüche und Amokläufe, extensive Mediennutzung, Alkoholexzesse und Drogenkonsum« (348). Dadurch würden »die Verhaltensprobleme einer kleinen Minderheit von Jugendlichen« (348) als prototypisch für die gesamte Altersgruppe erscheinen, was »stark verzerrt bis eindeutig falsch« (347) sei. Doch die Medien würden nicht nur die »Abgehängten« in den Blick nehmen, sondern auch die Politik bzw. die Politiker, die sich darum kümmern, also die Jugendhilfepolitiker. Von ihnen würden Lösungen für das eingefordert, was sie selber in den Vordergrund gestellt hätten. »So kreist die Debatte häufig um stärkere Strafen für jugendliche Gewalttäter, ein Verbot von Killerspielen für Minderjährige, eine Einschränkung des Zugangs zu sexuellen und pornographischen Darstellungen, die Begrenzung der Verkaufszeiten für Alkohol und viele andere öffentlichkeitswirksame Einzelmaßnahmen.« (348)
Man wird etwas ungeduldig, denn man fragt sich, warum sollen sich Politiker dem Druck der Medien widersetzen und Jugendpolitik statt Jugendhilfepolitik machen, wenn nur ein Fünftel dieser Gruppe Probleme haben bzw. machen? Hier bringen die Autoren ihren zentralen Befund als Argument – die gesamte Altersgruppe ist unter Druck. »Die Jugendlichen brauchen heute vor allem zwei Dinge. Sie wünschen sich mehr Sicherheit, dass ihre schulischen und beruflichen Leistungen entsprechend honoriert werden, und eine mehr leistungsunabhängige Wertschätzung.« (353) »Viele Jugendliche haben das Gefühl, dass gute Schulleistungen und zahlreiche Praktika zwar gut, aber nie wirklich gut genug sind.« (354) Nun endlich folgt die »Reihe an Denkanstößen« (343), die die zentrale Forderung der Autoren nach einer »umfassenden Jugendpolitik« (348) untermauern und die mehr sind als eine Verknüpfung von Jugendhilfepolitik mit benachbarten Politikfeldern, etwa der Schulpolitik.
Unter der Überschrift »Jugendpolitik als Lebensplanungshilfe« regen die Autoren an, Jugendlichen nach Schulabschluss eine einjährige Auszeit zu gewähren, während der sie »in Internatsschulen« und »fern von Leistungsdruck ihren Interessen nachgehen können« (354). Diese Maßnahme sei in Skandinavien stark verbreitet. Wieder mit Blick auf Skandinavien schlagen die Autoren vor, »über die Möglichkeit einer finanziellen Grundsicherung für alle Angehörigen der jungen Generation nachzudenken« (355). Als eine Option verbesserter beruflicher Einstiegshilfen sehen die Autoren »die Einführung eines neuen, gemeinwohlorientierten Dienstes« (355). Doch nicht nur Skandinavien ist ein Ideengeber für die Autoren, sondern auch das Internet bzw. YouTube, MySpace, Facebook. Würde den jungen Menschen »ähnliche Gestaltungsmöglichkeiten bei Radio, Fernsehen und Konsolenspielen eingeräumt, könnte das ähnliche kreative Potentiale freisetzen« (357). Sehr deutlich plädieren die Autoren für eine »Erweiterung des politischen Beteiligungsangebotes für jugendliche aller Altersgruppen zwischen 12 und 25 Jahren« (356), inklusive einer Absenkung des Wahlalters. »Eine allgemeine Absenkung des Mindestwahlalters wäre ein gesellschaftliches Signal, dass die jungen Menschen zur Wählerschaft und damit zur mitbestimmenden aktiven Population einer demokratischen Gesellschaft gezählt werden.« (356)
Als jugend(hilfe)politisch Interessierter hätte ich mir insbesondere bei dieser Frage mehr Ernsthaftigkeit gewünscht. Mit keiner Silbe wird auf den Widerspruch eingegangen, dass im Berichtsteil der Studie die ablehnende Haltung der Jugendlichen dokumentiert ist (144), die Autorengruppe aber die Absenkung des Wahlalters anregt – und dies alles unter der Überschrift »Jugendliche selbst an der Gestaltung der Jugendpolitik beteiligen«.
Unwidersprochen kann hingegen die Feststellung bleiben, »die institutionelle Verankerung von Jugendfragen ist über verschiedene Ressorts verteilt« (348), und man kann nur zustimmen, wenn die Autoren anregen »zu überprüfen, wie verschiedene Politikbereiche enger aufeinander abgestimmt werden könnten« (354). »Ein Modell könnten hierbei etwa die Niederlande sein, in denen der Jugend- und Familienminister für eine Art ›virtuelles Jugendministerium‹ zuständig ist und darin hauptverantwortlich die jugendspezifischen Aktivitäten von weiteren vier Fachministern koordiniert.« (354) Ein interessanter Gedanke und man würde gerne mehr darüber erfahren, um sich diesen Gedanken zu Eigen machen zu können.
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* Seitenzahlangabe zu: Shell Deutschland Holding (Hrsg.), Jugend 2010, Eine pragmatische Jugend behauptet sich, 16. Shell Jugendstudie, Frankfurt am Main 2010 Leseempfehlung: Bundesjugendkuratorium |