Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 3-2020, Rubrik Vielfältige Jugendarbeit

Trotz allem! Ferien in Zeiten von Corona

Von Kim Morschek und Franziska Rein, Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken Hamburg

Eigentlich stand schon alles: Es sollte zum Attersee in Österreich gehen. Zweieinhalb Wochen Ferienlager auf einem Zeltplatz der Österreichischen Falken – diesmal sogar mit allen zusammen. In den letzten Jahren waren die Kindergruppen auf einen anderen Platz als die Jugendgruppen gefahren. Alle hatten sich schon darauf gefreut, endlich wieder gemeinsam zu fahren. Sogar die verschiedenen Schlafens- und Essenszeiten waren schon ausgehandelt. Und dann machte Corona uns einen Strich durch die Rechnung.


(Alle Fotos © SJD – Die Falken Hamburg)
 

Der Entscheidungsprozess. Nun stellte sich uns die Frage: Wollen wir das Camp trotzdem, wenn möglich, stattfinden lassen? Sagen wir es ab? Oder denken wir uns Alternativen aus? Über Wochen diskutierten wir mit unseren Genossen/innen in Hamburg. Es gab riesige Videokonferenzen mit Falken aus der ganzen Bundesrepublik und Austausch mit anderen Jugendverbänden.
In der Diskussion standen sich zwei Perspektiven gegenüber. Auf der einen Seite waren sich alle einig, dass die Corona-Pandemie ernst genommen werden muss. Eine weitere Virus-Ausbreitung muss verhindert werden, und auch wir als Jugendverband stehen da in der Verantwortung.
Auf der anderen Seite sahen wir, dass gerade Kinder und Jugendliche besonders unter den Kontaktsperren litten – und dabei vor allem die weniger Privilegierten, die etwa in kleinen Wohnungen ohne Garten leben oder in Geflüchteten-Unterkünften untergebracht waren. Die Schließung öffentlicher Räume wie Jugendzentren oder Spielplätze traf diese besonders hart, weil sie so gut wie keinen privaten Raum zur Verfügung hatten. Kinder, deren Eltern arbeiten mussten und nicht ständig beim Homeschooling unterstützten oder die sich keinen eigenen Computer leisten konnten, wurden in der Schule immer weiter abgehängt. Mit dem Scheitern an den Erwartungen in der Schule waren sie dann oft auf sich allein gestellt. Die meisten Kinder und Jugendlichen hielten sich sehr konsequent an die Kontaktsperren und trafen ihre Freundinnen und Freunde über Monate nicht. In den ersten Wochen des Shutdowns fand zudem kaum Arbeit im Verband statt. Wir probierten zwar verschiedene Formate wie online-Gruppenstunden und Podcasts aus, aber so richtig konnten wir damit der Vereinzelung, welche die Kinder und Jugendlichen erfuhren, nichts entgegensetzen.
Neben unseren eigenen Überlegungen zu einem vernünftigen Handeln als Kinder- und Jugendverband während einer Pandemie kam hinzu, dass in fast wöchentlichem Takt neue Verordnungen von der Stadt erlassen wurden, die es schwer machten, längerfristig zu planen.



Wir versuchten verschiedene Aspekte des Kindeswohls abzuwägen unter Bedingungen, die sich nicht in erster Linie um das Wohl der Menschen drehten. Größtenteils fanden Öffnungen dort statt, wo Kapitalinteressen am stärksten eingeschränkt waren. Die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen standen dabei nicht im Mittelpunkt. Dabei waren es gerade Kinder und Jugendliche, die unter den Beschränkungen der letzten Monate schwer gelitten haben.
Gerade als Jugendverband der Arbeiter/innenbewegung war uns klar, dass wir unser Zeltlager nicht ersatzlos ausfallen lassen konnten. Unser Anspruch, weniger privilegierten Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, aus den oft beengten Wohnverhältnissen und der Isolation zu Hause herauszukommen und die Erfahrung zu machen, gemeinsam mit anderen Kindern und Jugendlichen ein Miteinander nach ihren Wünschen und Bedürfnissen gestalten zu können, wurde unter den Bedingungen von Corona nur noch drängender.
Als erstes entschieden wir dann: Wir werden jedenfalls nicht ins Ausland fahren und dadurch eventuell den Virus über Landesgrenzen hinweg transportieren. Zudem würde die Entfernung es erschweren, Kinder und Jugendliche mit Symptomen nach Hause zu schicken und eine spontane Absage des Zeltlagers komplizierter machen, weil der organisatorische Aufwand viel größer wäre. Wir sagten also schweren Herzens den Platz in Österreich ab mit der Hoffnung, vielleicht im nächsten Jahr wieder dorthin fahren zu können.
Zunehmend wurde uns auch klar, dass die Umsetzung von Corona-Schutzrichtlinien mit Kindern ganz anders funktioniert als mit Jugendlichen. Während eines Zeltlagers vollständig auf körperliche Nähe zu verzichten, schien uns für die pädagogische Arbeit mit Kindern viel schwieriger. Wir beschlossen also, doch nicht gemeinsam zu fahren, sondern für die beiden Altersgruppen jeweils eigene Lösungen zu finden.

Das SJ-Zeltlager. Mit den Jugendlichen ab 15 Jahren sind wir auf den Zeltplatz der hessischen Falken im Flörsbachtal gefahren. Unter Pandemie-Bedingungen war dann einiges anders – aber auch vieles eigentlich wie immer. Wir haben versucht, das Hygienekonzept in unsere pädagogische Arbeit einzubetten. Gut funktioniert hat das beispielsweise beim Essen. Anstelle eines Büfetts wurde das Essen aus Gruppenschüsseln ausgeteilt, was zur Folge hatte, dass die Gruppen zusammen gegessen haben. Dies stärkte den Zusammenhalt der Gruppe, niemand musste alleine essen. Die Gruppenhelfer*innen sahen ihre Teilnehmenden mehrmals am Tag in einem lockeren Rahmen und konnten so gut mitbekommen, wie es allen so ging, welche Konflikte sich in der Gruppe entwickelten und welche Interessen die einzelnen hatten.
Auch das strikte Verbot, in einen Supermarkt oder einen Kiosk zu gehen, um nicht das Virus ins Zeltlager zu tragen, hatte zu Folge, dass die Versorgung mit Süßigkeiten und Getränken kollektiv geregelt wurde. Über ein Café-Komitee wurde ausgehandelt, was eingekauft werden sollte, und Geld eingesammelt, um den Einkauf zu bezahlen.
Was zudem einen positiven Effekt auf das Zeltlager hatte, war das tägliche Fiebermessen in der Gruppe. Mit den Infrarot-Fiebermessgeräten machte das sogar Spaß und wurde zu einer Art Ritual. Damit geriet insgesamt das körperliche Wohlbefinden der Einzelnen mehr in den Blick. Unsere Zeltlager sind körperlich oft sehr anstrengend. Häufig übernehmen sich Teilnehmende wie Helfer*innen und werden krank. Auf diesem Zeltlager wurde sehr viel achtsamer mit den körperlichen Bedürfnissen der Einzelnen umgegangen.
Auf unseren Zeltlagern ist die Gruppe der primäre Bezugspunkt der Teilnehmenden. Die Gruppe bietet Raum für demokratische Beteiligung, die Gruppe soll die Einzelnen stärken und ihnen Sicherheit geben. Die Corona-Maßnahmen, die wir auf dem Zeltlager umgesetzt haben, haben das sogar noch verstärkt.
Als wir zum Zeltlager losgefahren sind, waren gerade die Kontaktbeschränkungen in der Jugendarbeit in Hamburg aufgehoben worden. Auch in Hessen gab es diese Kontaktbeschränkungen nicht mehr. Dennoch haben wir uns dazu entschieden, erst nach ein paar Tagen die Kontaktbeschränkungen auf dem Zeltlager aufzuheben. In diesen ersten Tagen wurde deutlich, wie wichtig körperliche Nähe für unsere Arbeit ist. Auf unseren Zeltlagern leben wir sehr intensiv zusammen: Man ist in seinem Alltag aufeinander angewiesen, man erlebt sehr viel zusammen, man isst und schläft gemeinsam und muss sehr viele Dinge miteinander aushandeln. Dabei auf Distanz zu bleiben, fiel allen schwer. Umso größer war die Freude, als wir dann gemeinsam in einer Vollversammlung beschlossen haben, dass der Mindestabstand von anderthalb Meter nicht mehr zwingend eingehalten werden muss. Dass aber beispielsweise nicht gemeinsam aus einer Flasche getrunken werden soll, haben alle zwar eingesehen. Dennoch kam den Helfer*innen die unliebsame Aufgabe zu, dies auch immer wieder durchzusetzen.



Für alle sehr traurig war die Tatsache, dass nur so wenige Teilnehmende mitkommen konnten. Mit mehr Leuten ist Falkenzeltlager eben einfach noch schöner. Alles in allem hat uns das Zeltlager inmitten der Corona-Pandemie sehr gut getan. Die Jugendlichen sind endlich mal wieder aus der Stadt herausgekommen, haben Gleichaltrige getroffen und ihren Alltag selbstorganisiert – fern von Elternhaus und Homeschooling.

Das F-Zeltlager. Nach dem sehr schwierigen Vorbereitungsprozess erarbeitete das Vorbereitungsteam für das F-Zeltlager für die Acht- bis 14-Jährigen drei verschiedene Modelle, die sie sich für verschiedene Corona-Szenarien vorstellen konnten. Zur Debatte standen: das bekannte Zeltlagerformat unter Einhaltung der Pandemie-Auflagen beizubehalten, dann ein Ferienprogramm, das zeltlagerähnliche Elemente beinhalten sollte, und schließlich ein dezentrales bis digitales Gruppenprogramm. Die Entscheidung fiel letztendlich auf ein zweiwöchiges Ferienprogramm. Dies war vor allem der Planungssicherheit geschuldet, denn bis zur intern gesetzten Deadline konnte uns weder ein Zeltlagerplatz noch ein Seminarhaus eine feste Zusage geben.
Kurz vor Beginn des Ferienprogramms wurde der Mindestabstand für die Jugendverbandsarbeit in Hamburg weitgehend gekippt, was uns sehr entgegen kam. Im Vorfeld verbrachten wir viel Zeit mit Überlegungen, wie unterschiedliche Zeltlagerelemente mit Abstand durchgeführt werden könnten. Welche Warm-Ups kann man spielen? Wie funktioniert Erlebnispädagogik? Wie gestaltet man spannende Workshops für Acht- bis 14-Jährige mit Abstand? Welche Komitees funktionieren? Wie schaffen wir eine Atmosphäre, in der alle die Hygieneauflagen umsetzen – ohne die Kinder und Jugendlichen ständig ermahnen zu müssen?



Das Ferienprogramm organisierten wir so, dass wir zwei Mal von Montag bis Freitag ein Programm für eine feste Gruppe machen wollten. Wir stellten zwei große Zelte auf die Wiese vor unserem Landesbüro mitten in Hamburg, und dann ging es los. Ab 8 Uhr gab es die Möglichkeit zur Frühbetreuung zu kommen, von 9 .30 bis 17 Uhr lief das eigentliche Programm. Es war uns wichtig, dass alle so viel Falken-Normalität wie möglich spüren sollten: In der Planungszeit konnte das Programm mitgeplant werden, in der Gruppenzeit wurde das soziale Miteinander gestärkt und in der Workshopzeit wurden Themen wie Rassismus, Geschlechterrollen, Grenzen und Bedürfnisse sowie Kindheit erarbeitet. In den FUNIs, den Falken-Unis, konnten die Teilnehmenden selbst experimentieren. Basketball und Schminken standen auf dem Programm. In Mittagspausen wurden Urinellas gebastelt oder zusammen gespielt. In den Komitees entstanden eine Schaukel und ein Radioprogramm. Außerdem einigten sich alle auf Ausflugsziele. Und natürlich wurden auch das Bergfest und das Abschlussfest gefeiert. Zudem wurden die zwei Wochen fotografisch festgehalten.



Letztendlich war viel so, wie wir es alle aus normalen Zeiten kannten. Trotzdem gab es einige positive und negative Aspekte, die insbesondere auf das Tagesformat zurückzuführen waren. Für das Helfer*innenteam war es hilfreich, dass sie ab 17 Uhr Zeit hatten, um sich als Team zu finden und sich ausgiebig über pädagogische Fragen austauschen konnten. Außerdem gab es genügend Kapazitäten, um auf akute Fragen und Wünsche der Teilnehmenden reagieren zu können und spontan am Abend Workshops oder Programmeinheiten zu konzipieren. Auffällig war weiterhin, dass das Zuhause-Schlafen den Teilnehmenden eine gewisse Ruhe sowie Ausgeglichenheit ermöglichte und das Team nicht mit Heimweh und tollpatschigen Verletzungen zu kämpfen hatte.
Problematisch an den Hygieneauflagen war (mehr für die Helfer*innen als für die Kinder), dass die Reproduktionsarbeit schwer geteilt werden konnte. Es konnte kein Gruppenkochen geben, und ein Kinder-Abwasch erschien unter Hygiene-Bedingungen als nicht mehr ausreichend. Aber aufgrund des Tagesformates fielen sonst nicht viele Aufgaben an. Da die Kinder am Abend und am Wochenende ihren Alltag zuhause lebten, kam weniger das Gefühl auf, dass ein gemeinsamer Alltag organisiert werden sollte.
In den zwei Wochen haben wir gelegentlich die Nerven der Nachbar*innen strapaziert, was sie uns zum Teil auch spüren ließen. Das war für niemanden schön. Gleichwohl haben wir gemerkt, wie wertvoll Kinder- und Jugendzeltplätze sind. Und wir alle hoffen, nächstes Jahr dann wieder zusammen einen »normalen« Alltag auf einem Zeltplatz über drei Wochen erleben zu dürfen.

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Erläuterungen
• Die Falken machen Kinder-und Jugendarbeit in unterschiedlichen Ringen. Der „F-Ring“ steht für Falken-Ring und meint die Arbeit mit 6-14 Jährigen. Der „SJ-Ring“, der Sozialistische Jugend-Ring, setzt sich aus allen ab 15 Jahren zusammen.
• Komitees finden sich zu Beginn der Zeltlager zusammen und treffen sich dann kontinuierlich mehrmals die Woche. Sie haben den Zweck, in Kleingruppen etwas für das Zeltlager zu machen. Z.B. baut das Bau-Komitee Bänke für den Dorfplatz, das Café-Komitee organisiert Kaffee & co. usw.
• FUNIs sind Falken-Unis, in denen die Kinder und Jugendlichen eigene Angebote anbieten und anderen etwas beibringen, was sie selbst gut können.