Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 1-2019, Rubrik Titelthema

Bildung und Kritik

Der Beitrag der Kritischen Theorie zur Theorie der Produktion kritischen Wissens*

Von Alex Demirović, Frankfurt

Es gibt eine Reihe von Missverständnissen über den Begriff der Bildung. Bildung wird mit Bildungsabschlüssen verbunden. Es wird nahegelegt, dass gebildet diejenigen seien, die eine bestimmte schulische Laufbahn durchlaufen haben. Doch weder diejenigen, die dies nicht getan haben, sind deswegen ungebildet, noch haben diejenigen, die die entsprechenden Abschlüsse erworben haben, einen privilegierten Anspruch auf Bildung. Sie können in vielerlei Hinsicht soziale oder politische Analphabeten bleiben. Ihr Wissen vereinseitigt sich zu einem fachlichen Wissen und ist aus dem Zusammenhang herausgenommen.

Als Bildung kann, zweitens, ein Kanon des legitimen, hochkulturellen Wissens verstanden werden, der kanonischen Autoren und Texte und ihrer Rangordnungen, die als kultiviert gelten, weil sie Kultur verleihen. Ein solches Missverständnis wird von Kulturkonservativen genährt: »Bildung – Alles, was man wissen muss« (Dietrich Schwanitz). Sie stellen sich der Erosion der Bildung entgegen, für die sie die kulturkritischen Strömungen und Avantgarden des 20. Jahrhunderts, den Bildungsegalitarismus und die Schulreformen oder die Hochschulexpansion verantwortlich machen. Doch selbst pflegen sie durchaus einen instrumentellen, einen kompensatorischen Umgang mit Bildung. Künstlich und museal werden überholte Kulturpraktiken am Leben erhalten. Sie dienen dem Small Talk, dem demonstrativen Konsum und dem Distinktionsgewinn der Reichen und Mächtigen: die Originalgemälde in den neureichen Villen am Wannsee, die Konzerte der jeweiligen städtischen Musikgesellschaften mit den weltweit besten Interpreten in den Räumen der Banken, die als Sponsoren auftreten, die Festspielbesuche in Bayreuth, Luzern, Baden-Baden, die Wochenendreisen zu Ausstellungen in Paris, London oder New York – das alles lässt erkennen, dass Bildung zum organisierenden Anlass für die Begegnung von Mächtigen geworden ist oder dem Zwecke dient, mit Kulturveranstaltungen Geld zu verdienen. Dies ist kaum als lebendige, der Gegenwart zugewandte Bildungspraxis zu bezeichnen.
Bildung ist weder elitär noch instrumentell. Bildung besteht auch nicht aus jenem Quiz-Wissen, mit dem ›wandelnde Lexika‹ in Talkshows Millionen gewinnen. Bildung ist schließlich ebenso wenig jene Haltung des feinsinnig Gebildeten, der narzisstisch seine Empfindsamkeit und Innerlichkeit pflegt und vermeint, der kulturellen Tradition in Philosophie und Literatur, in Musik und Kunst gewiss zu sein, während er die Gesellschaft und ihre Konflikte und Verwerfungen ignoriert.

Gegen solche Vorstellungen, die den Begriff der Bildung verkürzen, wendet sich ein kritischer Begriff von Bildung, auch wenn er einige der angesprochenen Aspekte durchaus beinhaltet. Ein solcher anspruchsvoller Begriff ist intern mit Kritik, mit einem kritischen Begriff von Gesellschaft verbunden: Bildung soll über sich selbst hinaus gehen, soll nicht mehr nur Bildung bleiben, kein Privileg weniger sein, nicht mehr allein sich auf die Verfeinerung einer geistigen Kultur oder einer körperliche Haltung beziehen, sondern einem Wissen Raum geben, das die vernünftige Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenhangs ermöglicht.

1. Herrschaft durch Bildung
Die Frage der Bildung scheint den Blick auf das Individuum zu lenken. Denn es handelt sich um das Individuum, das durch seine Erfahrungen mit der es umgebenden Welt und dem Wissen, das es erwirbt, geformt wird. Es erschließt sich diese Welt, reift zu einem mehr oder weniger gelungenen Subjekt heran, nimmt seinen Platz in der Gesellschaft ein und trägt zu ihrer Gestaltung bei. Gesellschaft heißt aber vor allem: gesellschaftliche Arbeitsteilung und Kooperation. In die gesellschaftliche Arbeitsteilung einzutreten, bedeutet, sich auf bestimmte Aufgaben zu konzentrieren, bestimmte Kompetenzen zu erwerben, das eigene Arbeitsvermögen zu formieren, sich zu spezialisieren und damit eine bestimmte Art des Denkens, des Fühlens, des Habitus, des Interesses und Engagements auszubilden. Dies wird nicht ausschließlich, aber maßgeblich durch Bildungsinstitutionen vermittelt, die es ermöglichen, gesellschaftlich überliefertes und vorhandenes Wissen sowie verbreitete Kompetenzen zeitsparend und systematisch zu erwerben. Nicht zuletzt deswegen verbindet sich mit dem Begriff der Bildung ein bestimmter, nämlich schulischer Kanon. Dieser Kanon ist Ergebnis nicht allein sachlicher Erwägungen, sondern von Herrschaft, die zum einen als ökonomische und politische in den Bereich des Wissens von außen eingreift, sich zum zweiten aber als Macht- und Herrschaftsverhältnis auch innerhalb des Wissens und der Wissensarten selbst entfaltet. Denn mächtige Würdenträger des amtlich autorisierten Wissens entscheiden darüber – und erlangen dadurch ihre Macht –, welches Wissen von wem in welchen Wissensdisziplinen und -praktiken an die nächste Generation weiter gegeben werden darf. Der Kanon, der aus zugelassenem im Unterschied zu ignoriertem, ausgegrenztem, der aus hierarchisch als wertvoll-wissenschaftlich und geringer bewertetem praktischen Wissen besteht, übt auch Herrschaft aus, indem er Wissen zulässt, entwertet, hierarchisiert, formalisiert und die Rechte der Verfügung über ihn selbst und seine Definitionsmacht reguliert.

Der schulische Kanon wird in einem bestimmten zeitlichen Rhythmus vermittelt, der nach formalen Gesichtspunkten mit Lebensphasen des Individuums – ungeachtet seiner konkreten Entwicklung und Interessen – synchronisiert ist und eine Rangfolge der Kompetenzen stiftet. Das Scharnier sind bestimmte Bildungsabschlüsse, die auf ein Alter und ein bestimmtes Niveau von Bildung schließen lassen. Das Individuum wird »gebildet«, es verfügt über ein bestimmtes Wissen, entwickelt Neigungen, Fähigkeiten, eine besondere Subjektivität, wird nuancierter und differenzierter. »Denn Bildung ist nichts anderes als Kultur nach der Seite ihrer subjektiven Zueignung.« (Adorno 1959, 94) Gleichzeitig wird es eingeübt in Gehorsam und Anpassung, in bestimmte zeitliche Rhythmen, in ein Wissen darüber, was in der Gesellschaft als legitimes Wissen gilt, in die Erfahrung, was dieses Wissen in der Gesellschaft bedeutet, wie mit ihm umzugehen ist. Mehr noch als die einzelnen Inhalte vermittelt die Schule eine bestimmte Art der »scholastischen Vernunft« (Bourdieu 2001), also der Haltung, eine Art und Weise der Verfügung über dieses Wissen: sei es das Gefühl, dumm und unterlegen zu sein, es nicht besser zu können und sich mit handwerklich-technischem Wissen, mit einer Minimalausstattung an Kulturtechniken wie Schreiben, Lesen, Rechnen zu bescheiden; sei es das Wissen, das man sich schnell aneignet, um es ebenso schnell wieder zu vergessen, das die eigene Subjektivität nicht erreicht, sie nicht gefährdet, über das man äußerlich verfügen können muss, um gute Noten als Gegenwert zu erhalten (Stichwort: Boulimielernen); sei es das Wissen als ein von seiner Entstehung in den gesellschaftlichen Konflikten getrenntes Bildungswissen, das sich mit dem Gefühl verbindet, über Kultur gleichsam von Natur aus zu verfügen. »Bildung läßt sich überhaupt nicht erwerben … Eben dadurch aber, daß sie dem Willen sich versagt, ist sie in den Schuldzusammenhang des Privilegs verstrickt: nur der braucht sie nicht zu erwerben und nicht zu besitzen, der sie ohnehin schon besitzt. So fällt sie in die Dialektik von Freiheit und Unfreiheit. Als Erbschaft alter Unfreiheit mußte sie hinab; unmöglich aber ist sie unter bloßer subjektiver Freiheit, solange objektiv die Bedingungen der Unfreiheit fortdauern.« (Adorno 1959, 107) Im Bildungsprozess wird eine Haltung naturalisiert, der Anspruch und die selbstverständliche Erwartung, Angehöriger der Gruppe der Herrschenden, der Auserwählten der Gesellschaft zu werden, weil man es schon ist: mit einer Distanz zu den Gegenständen, die es erlaubt, sie von oben her unter dem einen Blickwinkel ihrer Formalität zu sehen und über sie kontextfrei zu verfügen, die Ermächtigungshaltung einübend, die berechtigt, Befehle zu geben und über die körperliche Arbeit der Nicht-Gebildeten zu disponieren. Mit dieser Eingliederung in bestimmte Bildungs- und Wissensbereiche geht einher, dass Individuen Neigungen nicht mehr oder nicht mehr gleich intensiv nachgehen, bestimmte Seiten der eigenen Person nicht weiter kultivieren können. Das Einfügen in diese Arbeitsteilung ist deswegen auch eine schmerzhafte Erfahrung, da sie ein Versagen, einen Verzicht, eine Zurichtung beinhaltet. Der bürgerliche Bildungsroman stellt dafür viele anschauliche Beispiele bereit. Die Individuen werden dazu verhalten, sich zu identifizieren: als Mann oder Frau, als Angehörige einer Klasse oben oder unten, mit einem Wissen, das durch eine genaue hierarchische Position bestimmt ist, mit einer bestimmten Art der Erwerbsarbeit verbunden, die weniger den eigenen Wünschen oder Fähigkeiten als den Zwängen des Arbeitsmarktes, dem Druck der Familie oder der Logik des schulischen Abschlusses entspricht.

Diese Erwerbsqualifikation verfestigt sich unter bürgerlichen Bedingungen zu einem »Beruf«, der der Ideologie nach ein Leben lang ausgeübt wird und die Identität der Individuen auch dann ausmacht, wenn dies vielleicht nicht der Fall ist. Auf die Frage, was bist Du antworten wir mit Hinweis auf Ausbildung und Beruf: ich bin Ärztin, Erzieherin, Lehrer. Da diese Art der Arbeitsteilung einfach vorhanden ist und das Individuum sich zunächst einfügen muss, sie das Subjekt, seine Identität, seine gesellschaftliche Beteiligung und Aktivität maßgeblich bestimmt, erscheint sie ihm selbst äußerlich zu bleiben. Das hat selbst damit zu tun, dass Bildung und das spezifische formierte Arbeitsvermögen Waren sind, die auf dem Arbeitsmarkt Nachfrage finden müssen (vgl. Beck, Brater 1978; Atzmüller 2013). Um sich zu erhalten, muss sich das Individuum in ein äußerliches Verhältnis zu seinen Fähigkeiten setzen, um zu diesen nach Bedarf auch auf Distanz gehen zu können. Zu hohe Bindung an besondere Fähigkeiten, an ein Wissen würde das Individuum unflexibel machen gegenüber den Anforderungen des kapitalistischen Arbeitsmarkts. Dem Prozess der Bildung haftet also etwas Unfreies an. Es bildet seine besonderen Kompetenzen aus, es formiert sich als dieses Individuum mit seinen ihm eigenen Zwecken. Für den Gesamtzusammenhang muss es sich nicht mehr interessieren. Das Wissen der anderen bleibt ihm weitgehend verschlossen und äußerlich.

Die moderne bürgerliche Gesellschaft hat in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung besondere Berufe ausgebildet, die das kollektive Wissen verwalten, tradieren oder erneuern; die festlegen, welches Wissen wichtig, welches Wissen wertvoll, aktuell oder veraltet ist. Sie sind arbeitsteilig spezialisiert auf bestimmte Aspekte des Allgemeinen: Wissenschaft, Kultur, Politik, Recht, Technik. Es handelt sich um Berufe, die die Individuen in der Arbeitsteilung zum Zweck der Sicherung ihres Unterhalts ausüben. In diesen Personen verbindet sich das Allgemeine und das Partikulare, gleichzeitig kann ihnen der auf Allgemeinheit gehende Inhalt dessen, was sie tun, ganz gleichgültig sein. Sie orientieren sich an den Leistungsvorgaben der Institutionen, in denen sie Karriere zu machen wünschen und beschränken sich darauf, eine besondere Fachkompetenz auszubilden. Sie bewähren sich nach Maßgabe der informellen und formellen Kriterien dieser Institutionen: sie erwerben zum richtigen Zeitpunkt die Bildungstitel, sie entsprechen bestimmten Wissensanforderungen oder Geschmackskriterien oder vertreten die Ansichten, von denen alle erwarten, dass sie jemand, der diesen Beruf ausübt, vertreten sollte. Auch dieser Logik nach verliert Bildung ihre verbindliche Bedeutung.

2. Die Einheit von Bildung und Gesellschaft
Gegen diese Dynamik von Bildung wendet sich seit Marx die kritische Theorie der Gesellschaft. Marx hat keine Theorie der Bildung ausgearbeitet, doch es gibt Gesichtspunkte, die fruchtbar sind und von der Kritischen Theorie aufgenommen und weiterentwickelt wurden. Eine bedeutende Konsequenz hat die in der Tradition der Aufklärung seit Vico von Marx vertretene These, dass Subjekt und Objekt eine Einheit bilden. Die Natur wird von den Menschen sinnlich erfahren und erkannt, weil sie selbst Natur sind und sie von ihnen in ihrer Praxis durch Arbeit oder Kommunikation angeeignet und nach ihren Erkenntnissen und Plänen gestaltet wird. Das Subjekt steht also dem Objekt, der Natur nicht äußerlich gegenüber, Menschen und ihre Form des Zusammenlebens bilden immer ein historisch spezifisches Verhältnis zu ihrer inneren und zur äußeren Natur, die sie auf besondere Weise, unter besonderen Verhältnissen aneignen, bearbeiten, formieren. Die Begriffe, in denen die Menschen im Allgemeinen denken, können als theoretische Verhältnisse und Instrumente der Aneignung ihrer Wirklichkeit verstanden werden. Diese Instrumente wurden ihrerseits von früher lebenden Menschen bereits vorgefunden, umgestaltet, verfeinert oder um neue Begriffe erweitert und ergänzt oder von solchen abgelöst. Auch schon frühere Generationen sind mittels dieser Begriffe und Instrumente in ein besonderes Verhältnis zur Welt eingetreten und haben sie gestaltet. Menschen erfahren Natur niemals unmittelbar, diese lässt sich niemals als passives Objekt der bloßen Anschauung, als außerhalb der menschlichen Praxis existierendes Objekt fassen. Erkenntnis ist eine kollektive Praxis. Selbst von den Sternen, die Millionen Lichtjahre von uns entfernt leuchten, wissen wir nur dank komplizierter technischer Geräte und mathematischer Berechnungen. Deswegen kann Marx schreiben: »Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.« (Marx 1845, 6) So wie die Begriffe, nach denen wir die Welt verstehen, sind auch alle Sinne der Menschen: Sehen, Hören, Tasten, Schmecken, Riechen historisch konkrete, von vielen Menschen geteilte Praktiken. Genau genommen ist eine bestimmte Art zu sehen oder zu schmecken eine intellektuell-begriffliche, also kollektive Aktivität. Denn wir erfahren das körperlich-sinnliche Erlebnis nicht individuell und unabhängig von Begriffen, Einteilungen und Unterscheidungen, die sie jeweils ermöglichen. Diese sinnlichen Erfahrungen und Begriffe sind immer schon mit den Gegenständen verbunden, die ihrerseits das Ergebnis vorangegangener historischer Praxis sind, der Praxis früher lebender Menschen. Sie hinterlassen ihre Erfahrungen und ihr Verständnis der Welt den nächsten Generationen in der Gestalt von sozialen und begrifflichen Verhältnissen, von Dingen und sinnlichen oder körperlichen Fähigkeiten. »Die Tatsachen, welche die Sinne uns zuführen, sind in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert: durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstands und den geschichtlichen Charakter des wahrnehmenden Organs. Beide sind nicht nur natürlich, sondern durch menschliche Aktivität geformt.« (Horkheimer 1937, 174)

Für den Bildungsbegriff sind diese Überlegungen in dreierlei Hinsicht folgenreich. Bildung besteht nicht allein aus dem Erwerb eines bestimmten schulischen Wissens, sondern in einem sehr umfassenden Sinn wird das Individuum durch die geschichtliche Praxis, die es vorfindet, geformt, so dass seine ganze Weltsicht, seine Denkweise, seine Fähigkeiten, sein Geschmack, sein Verhältnis zu seinem Körper wie zu anderen Menschen Ergebnis dieses Bildungsprozesses sind. Mit einem Ausdruck von Marx könnt man sagen, dass sich die organische Zusammensetzung des Individuums durch die im Bildungsprozess erworbenen Begriffe und körperlichen Muster verändert. Mit der gleichzeitigen Arbeit an den Gegenständen wie an sich selbst, der Entwicklung und Aneignung von immer komplexeren Begriffen, Denkgewohnheiten und Gefühlen bildet und verfeinert sich das Individuum, es selbst wird komplexer und universeller, indem es sich in einem weiteren und intensiveren Sinn mit der Welt verbindet. Bildung in dem spezifischen Sinn des Begriffs, wie er anspruchsvoll seit dem 19. Jahrhundert in Gebrauch ist, besteht in dem Versuch, diese Prozesse nicht dem Zufall zu überlassen, sondern sie auf einem hoch vergesellschafteten Niveau bewusst mit begrifflichem Verständnis im Rahmen von komplexen Institutionen zu organisieren.

Zweitens bedeutet Bildung nicht, dass die Individuen lediglich nachvollziehen, was schon an Wissen und Erfahrung vorliegt, sondern Bildung zielt auf ein Verständnis der Welt, das sie als Ergebnis von vergangener Praxis, als Ergebnis von Alternativen und Entscheidungen erfahrbar macht und ein tätiges Verhältnis zu ihr ermöglicht. Die Begriffe, die Sichtweisen, die Gefühle – all das erweist sich als geschichtlich. Aber ein oberflächlicher, liberaler Relativismus, demzufolge alles gleichwertige Meinung, gar beliebig ist, verfehlt diese historische Dimension. Es ist niemandem möglich, im Namen des Ursprungs, der Vernunft, des Jenseits oder der Ewigkeit zu sprechen; aber auch das Gegenteil, dass alles keine Gültigkeit hat, weil es sich in den Fluss der Zeit auflöst, trifft nicht. Denn die Begriffe, die Erfahrungen bleiben der realen Entwicklung des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht äußerlich, sondern bestimmen das Handeln oder Nicht-Handeln der je gegenwärtigen Individuen. Auf diese Weise gestalten sie ihre objektive Welt. »Niemand kann sich zu einem anderen Subjekt machen als zu dem des geschichtlichen Augenblicks.« (Horkheimer 1937, 213)

Drittens vollzieht sich der Bildungsprozess nicht einseitig nur an den Individuen, vor allem auch nicht an den Individuen der nächsten Generationen, die wie Teig geknetet und in eine fertige Form eingefüllt werden. Der Begriff der Bildung wird verkürzt, wenn er auf Geist und Persönlichkeitsentwicklung der Individuen, gar die einiger Privilegierter begrenzt wird. Moderne kapitalistische Gesellschaft sind dadurch gekennzeichnet, dass sie erhebliche Ressourcen mobilisieren, eine Vielzahl von Institutionen schaffen sowie entsprechendes Personal bereit halten, damit Nachwachsende gebildet und die gesellschaftliche Arbeitsteilung reproduziert sowie erneuert und dynamisch verändert werden kann. In diese Bildungspraxis sind viele Menschen einbezogen: die Eltern und Großeltern, die Geschwister, die Freunde, die Kindergärten und Schulen, die Vereine, die freien Bildungsträger, die Gewerkschaften, die Hochschulen. Doch mehr noch. Bildung ist eine aktive, tätige Einheit zwischen den konkreten historischen Individuen und der Welt der Gegenstände und Verhältnisse. Diejenigen, die die Bildungsprozesse durchlaufen, reagieren mit Interesse oder Desinteresse, beziehen ihre Bildung von anderswo – der Jugendkultur, selbstorganisierten Zusammenhängen – oder lehnen Bildung ab und machen den Lehrkräften, die den gesellschaftlich akzeptierten Bildungskanon vermitteln sollen, das Leben schwer. Anders gesagt, diejenigen, die gebildet werden, erziehen gleichzeitig auch die Erzieher – und das kann mitunter die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit sein. Zusammengefasst: Bildung umfasst also die Einheit von Individuum, intellektuellen Kompetenzen, Bildungseinrichtungen und Gesellschaft. Jede Art der Bildung stellt immer eine besondere Art dar, wie sich Gesellschaft vollzieht.

3. Die Erosion der Bildung
Bildung ist also ein spannungsreicher und durchaus widersprüchlicher Prozess. Sie umfasst den Entwicklungsprozess der Individuen und der gesellschaftlichen Verhältnisse: Gegenstände, Sinne, Begriffe, Institutionen. Bildung in diesem Sinne bedeutet der Tendenz nach Universalität, die Erschließung aller Verhältnisse, der sinnlichen Erfahrung der gegenständlichen Welt in allen ihren historischen Aspekten, die Einsicht in die Verbundenheit mit diesen Verhältnissen und die Möglichkeit zu ihrer Gestaltung. Doch diese Einheit wird unter Bedingungen sozialer Herrschaft verletzt, insofern die Individuen auf eine bestimmte Weise gebildet werden, die ihnen die Erfahrung der Bildung und der Universalität nicht mehr ermöglicht (vgl. Adorno 1959, 98). Das wird von Bildung selbst bewirkt, weil sie selbst widersprüchlich ist und in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung auf die Besonderung des Individuums, seine besonderen Befähigungen zielt, die zur knappen Ware formiert werden. Damit lässt sich Bildung verknappen, ökonomisieren, der Zugang zu ihr quantitativ und qualitativ regulieren, auf bestimmte Individuen und soziale Gruppen in verschiedenen Mengen verteilen. Nicht alle bekommen den umfassenden Zugang zu Bildung, Bildung wird zu einem Privileg weniger, die für sich in Anspruch nehmen zu definieren, was Bildung ist und wer legitimerweise den Zugang zu ihr erhält. Sie sind die Spezialisten des Universellen, fühlen sich berechtigt universell zu fühlen und universell dieses von ihnen repräsentierte Universelle einzufordern, das sie selbst definieren und verkörpern (vgl. Bourdieu 2001, 95).

Die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Arbeitsteilung wird für die Errichtung und Aufrechterhaltung des Bildungsprivilegs genutzt. Denn diejenigen, die über die gesellschaftlichen Produktionsmittel und über die Mittel zur Erzeugung von Wissen und Kultur verfügen, verbinden damit die Behauptung, dass sie mit ihrer Bildung, ihrer Kultur, ihrem Wissen die Erhaltung der Gesellschaft und damit die Existenz aller sichern. Bildung wird damit zu einer besonderen Kompetenz der Verfügung über Wissen und Kultur, eine besondere Haltung, die wenigen vorbehalten ist. Sie kultivieren nicht nur die Bildungsinhalte, sondern mehr noch die Haltung, mit der sie diese Bildung für sich beanspruchen. Damit aber verändern sie die Bildung und den Bildungsprozess selbst zu ihren Gunsten. Die Kultur, die Bildung und das Wissen werden von der körperlichen Arbeit getrennt. Für beide Seiten, die körperliche wie die intellektuelle Seite, hat das nachteilige Folgen. Diejenigen, deren gesellschaftliche Aktivität allein oder vorwiegend auf körperliche Arbeit reduziert wird, werden daran gehindert, sich auf dem höchst möglichen Niveau der Gesellschaft zu bilden. Es wird nahegelegt, dass sie dafür von Natur aus nicht geeignet seien, dass ihnen die Intelligenz, die Fähigkeit, der Geschmack, das Interesse fehle. Daraus wird mittels erzieherischen und schulischen Herrschaftstechniken eine »Wahrheit« erzeugt. Auf der anderen Seite, auf der Seite der Gebildeten, mündet der Prozess der Bildung in eine Praxis, die aus der Kultur und dem Wissen etwas Geistiges, Reines macht, das völlig getrennt von der Gesellschaft zu existieren scheint. Die Bildung, das Denken, das Geistige werden zu einem Beruf von wenigen, arbeitsteilig darauf spezialisierten Individuen. Bildung und ihre besonderen Gegenstände, an denen sie sich vollzieht, sind getrennt von der körperlichen Arbeit und tragen von der Seite der Bildung her zur Reproduktion der Trennung der geistigen von der körperlichen Arbeit bei.

Das ist folgenreich. Denn diese arbeitsteilige Trennung beinhaltet, dass Bildung immer wieder die Tendenz hat, sich auf ein Moment von sozialer Herrschaft zu reduzieren. In und durch Bildung vermittelt wird eine unkritische Haltung gegenüber der Bildungsaktivität selbst praktiziert: »Der Konformismus des Denkens, das Beharren darauf, es sei ein fester Beruf, ein in sich abgeschlossenes Reich innerhalb des gesellschaftlichen Ganzen, gibt das eigene Wesen des Denkens preis.« (Horkheimer 1937, 216) Das gilt für die Wissenschaft genauso wie für hochkulturellen Praktiken in Kunst oder Geschmack. Sie tragen dazu bei, dass die modernen Gesellschaften durch Unterscheidungen und Gegensätze wie rein/angewandt, hoch/niedrig, stilvoll/gemein, ernst/unterhaltsam, originell/banal, vornehm/vulgär, anspruchsvoll/trivial, Wissenschaft/Meinung, Theorie/Praxis, Vernunft/Gefühl, besonders und einzigartig/kollektiv und massenhaft strukturiert werden.

Bildung ist ein Prozess, in dem Individuen sich die kollektiven Möglichkeiten der Erkenntnis und der kulturellen Praktiken aneignen und damit in ein neues Verhältnis zu sich und zu den sozialen Verhältnissen, unter denen sie leben, eintreten. Doch wird der Bildungsprozess blockiert und vereinseitigt, um auch in der Form von Bildung Herrschaft aufrechtzuerhalten. Für Wissen und Kultur hat dies negative Folgen, denn das Wissen muss von der gesellschaftlichen Praxis getrennt werden. Damit auch in der Form von Bildung Herrschaft ausgeübt werden kann, muss sie sich in ihrem Charakter ändern. Das Wissen schneidet sich als wissenschaftliches von der gesellschaftlichen Praxis und der Erfahrung ab, es wird zu einem sachlichen, verfügenden Wissen, das Distanz zu seinem Gegenstand sucht; es wird zu einem objektiven und formalen Wissen, das von sich behauptet, es sei wertneutral. Dieses Wissen wird von Disziplinen und Theorien nach formalen Gesichtspunkten systematisiert und stellt sich dar, als sei es reine Geltung, allein nach den Prinzipien der Vernunft selbst gebildet und nicht Teil des kollektiven Aneignungsprozesses der Natur und der Gesellschaft. »Die traditionelle Vorstellung der Theorie ist aus dem wissenschaftlichen Betrieb abstrahiert, wie er sich innerhalb der Arbeitsteilung auf einer gegebenen Stufe vollzieht. Sie entspricht der Tätigkeit des Gelehrten, wie sie neben allen übrigen Tätigkeiten in der Gesellschaft verrichtet wird, ohne daß der Zusammenhang zwischen den einzelnen Tätigkeiten unmittelbar durchsichtig wird. In dieser Vorstellung erscheint daher nicht die reale gesellschaftliche Funktion der Wissenschaft, nicht was Theorie in der menschlichen Existenz, sondern nur, was sie in der abgelösten Sphäre bedeutet, worin sie unter den historischen Bedingungen erzeugt wird.« (Horkheimer 1937, 171) Das wissenschaftliche Wissen erhebt den Anspruch universell zu gelten, es wertet sich gleichzeitig mit seinen Gegenständen auf, indem es seinen Gegenständen die Würde von Ewigkeit und Universalität zuspricht: die Gesetze des Menschen, der Gesellschaft, der Kommunikation, des Kosmos, des Lebens, denen sich die Wissenschaft allenfalls schrittweise annähert, bis sie vielleicht die eine einfache und schöne mathematische Formel findet, die alles zusammenfasst. Die Universalität, das theoretische Wissen und seine Wahrheit werden enthistorisiert, die Geschichte, die menschliche Aktivität, die Konflikte zwischen sozialen Gruppen erscheinen diesem Wissen nur äußerlich zu sein - sie werden abgewertet zur bloßen Relativität und Kontingenz. Das Wissen ist zwar eingelassen in einen Bildungsprozess, doch wird dieser selbst ausgeblendet, vergessen und verkürzt: im Prozess dieser zu Herrschaft befähigenden Bildung wird das Wissen getrennt von den Momenten des Körpers, der Sinne, der Erfahrung, den Praktiken, den Konflikten. Neben das wissenschaftliche Wissen, das für sich besondere Autorität auf einem besonderen Fachgebiet in Anspruch nimmt, können sowohl bei den Wissenschaftler/innen als auch in der aufgeklärten Gesellschaft dann Mystizismen, religiöse Überzeugungen oder primitiver Alltagsverstand treten und von den wissenschaftlichen Einsichten völlig unberührt bleiben. Hohe wissenschaftliche und technologische Kompetenz gehen mit primitiven und barbarischen Einstellungen und Lebensformen zusammen. In modernen Gesellschaften, die nur fortbestehen, weil die Wirtschaft sich auf höchst entwickelte wissenschaftliche Erkenntnis und Technologie berufen kann, besteht gleichzeitig der Glaube an Überirdisches, an Spiritualität, an geheime Kräfte und kosmische Energien fort, Wissenschaftler/innen pflegen rassistische und nationalistische Ressentiments, sie wirken gerade mit wissenschaftlichen Argumenten und kulturellen Überzeugungen mit an Folter, Menschenexperimenten oder politischen Mordprogrammen, sie sind daran beteiligt, dass Menschen in Gefängnisse, Psychiatrien oder Lager eingesperrt, Kriege geführt, Menschen ökonomisch ausgebeutet, mit den Mitteln des Konsums manipuliert, polizeilich kontrolliert oder in Schulen diszipliniert werden. Bildung ist demnach in modernen Gesellschaften von einem tiefen Konflikt durchzogen. Sie kann auf eine Haltung der Universalität zielen, die allen den Zugang zu Wissen, Begriffen, verfeinerten Gefühlen, Erfahrung und Gestaltung der Lebensverhältnisse ermöglicht; Bildung kann sich aber auch, gerade weil sie die Besonderung der Einzelnen fördert, aus dem Gesamtzusammenhang herausziehen und eine elitäre, ästhetische, wissenschaftliche, innerliche Haltung erzeugen und stärken.
Bildung ist ein Prozess, der über sich hinaus auf eine gesellschaftliche Arbeitsteilung zielt, in der die körperliche und die geistige Tätigkeit nicht zu besonderen Berufen und quasi-natürlichen Fähigkeiten verselbständigt werden. Vielmehr sollen beide Vermögen, die ohnehin eine Einheit bilden, in ein neuartiges Gleichgewicht gebracht werden. Ein solcher kritischer Bildungsprozess erlaubt nicht nur die Ausarbeitung eines umfangreichen, begrifflich vermittelten Wissens, sondern auch die Erfahrung dieses Wissens als Moment eines gesellschaftlichen Zusammenhangs, den die Menschen gemeinsam miteinander nach vernünftigen Gesichtspunkten gestalten. Das von den Individuen im Bildungsprozess erfahrene kritische Wissen drängt nach außen, auf Praxis. Denn das Individuum ist ständig praktisch tätig. Die es bestimmenden Bildungsmuster, die Begriffe, die Sinne, die Gefühle wirken auf die erfahrene Welt ein. Doch Bildung stellt sich gegen sich selbst, indem sie aufgrund der Logik der Arbeitsteilung Erfahrungen und Erkenntnisprozesse abschneidet, wenn sie verlangt, dass – wie im Fall der Wissenschaften – wissenschaftliches Wissen von individueller Erfahrung gereinigt, ernst und wertneutral zu sein hat, wenn in bestimmten disziplinären Konventionen gedacht werden muss. Indem Wissen aus dem begrifflichen, also gesellschaftlichen Zusammenhang isoliert, von der Erfahrung getrennt und Moment beruflicher Verwertung der Arbeitskraft, also Ware und Kulturgut wird, wird Bildung bedroht, sie erodiert. Individuen werden durch das Wissen nicht mehr durchdrungen – oder genauer, Bildung trägt zu einer widersprüchlichen Formierung der Individuen bei, die ihnen gleichzeitig die Begriffe, Sinne, Gefühle gewährt und sie ihnen wieder nimmt. Denn Individuen werden durchaus formiert, doch in einer Weise, die ihnen den Mut nimmt, sich der Erfahrung, ihren Gefühlen, ihren Einsichten zu überlassen. Bildung wird begrenzt auf ein Wissen, das den Individuen äußerlich bleibt, eine Sachkenntnis, eine Information. Es kommt zu einer Aushöhlung von Bildung, sie verliert an Kraft und Verbindlichkeit. Es kommt zu dem, was Max Horkheimer und Theodor W. Adorno als den gegenwärtigen Stand des objektiven Geistes bezeichnet haben: Halbbildung, die im Gegensatz zur bloßen Unbildung das beschränkte Wissen als Wahrheit verdingliche (vgl. Horkheimer, Adorno 1947, 226). »Mit dem bürgerlichen Eigentum hatte auch die Bildung sich ausgebreitet. Sie hatte die Paranoia in die dunklen Winkel von Gesellschaft und Seele gedrängt. Da aber die reale Emanzipation der Menschen nicht zugleich mit der Aufklärung des Geistes erfolgte, erkrankte die Bildung selber. Je weniger das gebildete Bewußtsein von der gesellschaftlichen Wirklichkeit eingeholt wurde, desto mehr unterlag es selbst einem Prozeß der Verdinglichung. Kultur wurde vollends zur Ware, informatorisch verbreitet, ohne die noch zu durchdringen, die davon lernten. Das Denken wird kurzatmig, beschränkt auf die Erfassung des isoliert Faktischen.« (Ebd., 227) Wissen ist nicht erfahrenes Wissen, Begriffe verlieren ihre Verbindlichkeit; es wird auf allseitiges Bescheidwissen, auf Besserwissen-Wollen reduziert, Kultur wird zum bloßen Kulturgut, zur Lüge, weil sie das Individuum ebensowenig wie die Gesellschaft erreicht und auf die Einrichtung der menschlichen Dinge nicht einwirkt (vgl. Adorno 1959, 95, 116).

Im Bereich der Wissenschaft entspricht dem eine Feindschaft gegen Theorie. Die Wissensgebiete werden in kleine Einheiten zerlegt, für die Experten ausgebildet werden. Theorie, wenn sie überhaupt noch angestrebt wird, wird verkürzt auf Theorie der sogenannten mittleren Reichweite, gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge kommen nicht in den Blick und sind auch nicht Ziel der Theorie. Die wissenschaftliche Argumentation stützt sich auf Hypothesen, Zweck der Beweisführung ist es, diese zu überprüfen und zu verwerfen. Methodische Fragen verselbständigen sich und erlangen überwertige Bedeutung. Den Wissenschaftler/innen bleiben die Gegenstände ihrer Arbeit weitgehend äußerlich, deswegen können sie auch die Folgen ignorieren: bei Pharmaprodukten, Nukleartechnologien, reproduktionsmedizischen Innovationen oder Gerechtigkeitstheorien. Als wissenschaftlich gilt, dass Wissenschaftler/innen auf Distanz zu ihrem Gegenstand und vor allem seinem Kontext gehen, mit der Erkenntnis keine Leidenschaft verbinden, keine Ziele verfolgen. Als Experten wägen sie Fakten und Argumente ab, wenn sie bekannter sind, geben sie der Politik gelegentlich Empfehlungen; vielleicht haben sie auch eigene Überzeugungen und Ziele, doch bleiben diese von ihrer wissenschaftlichen Arbeit getrennt. Es handelt sich nicht um wissenschaftliche Arbeit an einer Theorie, die etwas will: die Gesellschaft und die Verhältnisse, unter denen die Menschen leben, nach Prinzipien vernünftiger Erkenntnis gestalten. Es geht nicht darum, zu einer Diskussion über die gesamte Entwicklungsrichtung der Gesellschaft beizutragen. Die einzelnen Wissenschaftler/innen arbeiten für sich in der Konkurrenz mit anderen; ob und wie die Einzelerkenntnisse zur Allgemeinheit beitragen, kümmert sie nicht. Damit entsprechen sie in ihrem Verhalten der bürgerlichen Gesellschaft, die im Einzelnen rational, im Ganzen gesehen aber irrational ist und sich voller Überzeugung wenn nicht immer noch auf Gott dann auf die blinden Mechanismen der »unsichtbaren Hand« oder der Evolution beruft.

Auch die Kultur wird von einem Prozess erfasst, in dem sich ihre Bildungsfunktion verändert: Bildung verliert ihre Bedeutung, zur Fähigkeit der vernünftigen Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse beizutragen. In der Reduktion von Bildung als die des Individuums und ihres Geistes spiegele sich, dass die volle Emanzipation des Bürgertums nicht oder zu spät gelang. »Das Scheitern der revolutionären Bewegungen, die in den westlichen Ländern den Kulturbegriff als Freiheit verwirklichen wollten, hat die Ideen jener Bewegungen gleichsam auf sich selbst zurückgeworfen und den Zusammenhang zwischen ihnen und ihrer Verwirklichung nicht nur verdunkelt, sondern mit einem Tabu belegt. Kultur wurde selbstgenügsam.« (Adorno 1959, 94) Kultur geht in die Kulturindustrie als eine neue Stufe von Herrschaft über. Horkheimer und Adorno erläutern dies insbesondere am Modell des Kinofilms. Dieser nimmt einerseits in Anspruch, zur Kenntnis genommen zu werden wie ein hohes Kunstwerk: in einem abgeschlossenen Kinosaal vergleichbar einem Konzertsaal, als in sich abgeschlossener Sinnkosmos, er ist mit einer komplexen Urteilsbildung und einem professionellen Kritikdispositiv (Feuilleton, Zeitschriften, Bücher, akademische Studiengänge) verbunden. Doch andererseits sind die Filme selbst Ergebnis geschäftlicher Kalkulation. Sie sollen unterhalten. Deswegen werden der Ablauf des Films und seine Effekte von arbeitsteilig operierenden Technikern und Konsumforschern in einem industriellen Produktionsprozess genauestens geplant und sollen bestimmte Publikumsgruppen ansprechen. Gelobt wird dann an einem Film, wie finanziell aufwendig oder technisch raffiniert seine Produktion war. Filme selbst werden nicht nur über komplexe Mechanismen (Kinoketten, Videoshops, DVD, Fernsehen) vermarktet, sondern sind als Produkt Glied eines umfassenden Apparats, zu dem Festivals, die Stars und die Medien, die Fans und ihre Clubs, die Werbung, Schleichwerbung und das Merchandising gehören. Der Film selbst ist Element innerhalb einer ganzen Lebensweise, die den Alltag der Menschen erfasst, um ihre freie Zeit in Beschlag zu nehmen und als Freizeit zu vermarkten: Autos, Sport, Shopping, Illustrierte, Events und Spektakel, Radio und Fernsehen, Kleidung, Urlaubsorte. Was Horkheimer und Adorno in den 1940er Jahren als fordistische Kultur untersuchten (vgl. Demirović 2002) und was von Untersuchungen Bourdieus über die »feinen Unterschiede« zwischen den sozialer Klassen in gewisser Weise bestätigt wurde: Für jedes Publikumssegment, für jede Zielgruppe werden eigene Kulturpraktiken aufgegriffen, bearbeitet und von weltweit operierenden Unternehmen in Wert gesetzt. Damit ändert sich die Unterscheidung von Hochkultur und popularer Kultur: auch die Hochkultur wird kulturindustriell als eine Sparte des Kulturmarktes reorganisiert. Dies schwächt auch die Bildung. Es überwiegt nun der Herrschaftsaspekt, das Privileg der geistigen Tätigkeit, der sie immer schon gekennzeichnet hat. Sie wird Teil des ostentativen Konsums, des Beweises dafür, dass man über Kultur verfügt und sie sich leisten kann. So trägt Kultur zur Herstellung eines Gefühls der Überlegenheit über diejenigen bei, die körperlich arbeiten und reproduziert die Spaltung zwischen den sozialen Klassen.

4. Kritische Haltung und die Produktion kritischen Wissens
Ihre Diagnose einer tiefen Krise der Bildung aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklung hatte für Horkheimer und Adorno wichtige Konsequenzen. Zwar vermitteln die Bildungsinstitutionen nach wie vor Kultur, doch diese Kultur kann nicht verhindern, dass die Individuen an Autonomie verlieren und sich konformistisch am Kraftfeld der gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten ausrichten. Die Kultur wird zu einem warenförmigen Gut, das für das Handeln der Individuen die Verbindlichkeit von Bildung verliert, also nicht mehr subjektiviert und das Individuum darin bestärkt, auch gegen Druck für sie einzustehen. Die Fähigkeit zur Anstrengung des Begriffs und die Erfahrung begrifflicher Bewegungen werden geschwächt, also die Wahrheitsfähigkeit der Individuen und die Bereitschaft, für die vernünftige Gestaltung der Verhältnisse einzutreten. Um dem entgegenzuwirken, müssen Individuen die Möglichkeit zur Erfahrung von Bildung haben: Zeit, Muße, Zusammenhänge des gemeinsamen, konkurrenzfreien Lernens, autonome, demokratische Entscheidungen. Bildung, die beansprucht, kritisch zu sein, muss die Individuen entsprechend befähigen und ermutigen. Leistungsdruck, Zensuren, Wettbewerbsorientierung, Hierarchie, Einschränkung des Wissens auf wenige für wertvoll erachtete Disziplinen, Ausrichtung auf instrumentell verstandene Praxis – all das ist dem kreativen Prozess von Bildung hinderlich und lässt sie verkümmern. Bildung muss deswegen als Erfahrung von kritischer Bildung und Kritik der Bildung gestärkt werden. Das schließt ein, den Widerspruch auch im Bildungsbegriff auszutragen: dass dieser für die freien Individuen »ohne Status und Übervorteilung« steht, jedoch in seiner Reinheit und Distanz von der Praxis sich ebenso schuldig macht wie dort, wo er die Individuen zur Anpassung an die herrschende Kultur drängt und suggeriert, die vernünftige und freie Gesellschaft ergäbe sich aus der Bildung von Individuen (Adorno 1959, 97f). Ein Verständnis kritischer Bildung beinhaltet also eine Haltung, zu der der Wille zum Wissen und zur Wahrheit sowie der Mut, leidenschaftlich für Vernunft und vernünftige Verhältnisse einzutreten wie selbstverständlich dazu gehören und gesellschaftliche Verhältnisse zu verwerfen, die dem nicht entsprechen (vgl. Demirović 1999; Demirovi? 2008).

Es gehört zu einem anspruchsvollen Begriff von Bildung, dass die Individuen die Fähigkeit zur Selbstreflexion erlangen, sich also selbstkritisch nach der Bedeutung ihres Wissens befragen und den Folgen, das es für sie und die Gesellschaft hat. Das meint vor allem, das Privileg der Bildung und den Skandal zu erkennen, den es bedeutet, dass es viele gibt, die an der Kultur nicht teilnehmen können; aber auch die Fähigkeit zu einer Haltung kritischer Bildung zu gewinnen, die zu gesellschaftlichen Verhältnissen beiträgt, unter denen Bildung selbst überflüssig wird, weil sie keine abgetrennte Kultursphäre für wenige Privilegierte mehr darstellt, und die Funktion des Intellektuellen nicht auf wenige beschränkt ist, sondern alle Intellektuelle sind. Bildung bedeutet die nicht durch Gesinnung, sondern durch konkretes Wissen getragene Befähigung zur Kritik der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, zur Reflexion auf die Trennung der Bildung, der Wissenschaft, der Kultur von anderen gesellschaftlichen Bereichen und dazu, diese Trennung in allen ihren Folgen kritisch in Frage zu stellen.

Bildung beinhaltet zweitens auch, die Abspaltung des formalen und herrschaftlich-disponierenden Wissens von der Natur zu überwinden durch eine Besinnung auf die eigenen Erfahrungen und Wünsche, die eigene Natur, die Natur in uns, den Körper, seine Vielseitigkeit, seine Endlichkeit. Dabei geht es nicht darum, die Erfahrungen unkritisch und naiv für sich gelten zu lassen, sondern sie in den Prozess der Bildung einzubeziehen, sie als einen Ausgangspunkt des Prozesses der Bildung zu begreifen, sie in diesem Prozess zu rationalisieren. Bildung, Wissen und Kultur sind parteilich, sind Ergebnis der Vernunft, die aufgrund von Einsicht verändern will: wer nichts will, erkennt auch nichts. Aber das bedeutet nicht, dass sie bloß partikularistisch und instrumentell dem Interesse einer Person oder eines Individuums dienen. Vielmehr tragen Bildungsprozesse dazu bei, dass die Individuen sich und ihre Interessen ändern und sie im Lichte der Erfahrungen, des Wissens anderer sehen und beurteilen. Zur Erfahrung von Bildung gehört, dass Vernunft, vielleicht zu wenig und noch immer ohnmächtige Vernunft, aber doch Vernunft, schon in der Welt ist, denn die Gegenstände, die Verhältnisse, die Begriffe sind bereits das Ergebnis von Praxis früherer Menschen, und insofern steckt darin auch Vernunft der ihr gemeinsam ihr Leben und Überleben sichernden Menschheit. Ein solcher Bildungsprozess begnügt sich nicht mit herrschendem Wissen, das alle die Erfahrungen der Alternativen, der Freiheit, der körperlichen Anstrengung ausgrenzt. Die Produktion kritischen Wissens will einen Bildungsprozess in Gang setzen, in dem, gestützt auf die Erfahrungen, Ziele und Praktiken der Individuen als Gesamtheiten von sozialen Verhältnissen, eben diese gemeinsam geteilten Verhältnisse autonom gestaltet und die Räume der Freiheit für alle größer werden. Auf diese Weise wird Bildung und das mit ihr verbundene Wissen verbindlich. Individuen stehen für es ein, weil es zu ihnen gehört, es bleibt ihnen nicht äußerlich, es hat Konsequenzen. Bildung wird zu einer Haltung der Leidenschaft für die Wahrheit und die Vernunft, einer Vernunft, die die Praxis der Individuen zu bestimmen vermag.

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* Zuerst veröffentlicht in: Alex Demirović: Wissenschaft oder Dummheit – Über die Zerstörung der Rationalität in den Bildungsinstitutionen, Hamburg 2015.

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Literatur
Adorno, Theodor W. (1959): Theorie der Halbbildung, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 8: Soziologische Schriften I, Frankfurt am Main 1972
Atzmüller, Roland (2013): Aktivierung der Arbeit im Workfare-Staat. Arbeitsmarktpolitik und Ausbildung nach dem Fordismus, Münster
Beck, Ulrich, Brater, Michael: Berufliche Arbeitsteilung und soziale Ungleichheit. Eine gesellschaftlich-historische Theorie der Berufe, Frankfurt/Main, New York
Bourdieu, Pierre (2001): Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt am Main
Demirović, Alex (1999): Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt am Main
Demirović, Alex (2008): Leidenschaft und Wahrheit. Für einen neuen Modus der Kritik, in: Alex Demirović (Hrsg.): Kritik und Materialität, Münster