Wie fängt man dunkle Kräfte wieder ein? Wie zieht man potentielle Rechtsaußen-Wähler zumindest wieder in die politische Mitte? Nicht allein in CDU-Kreisen ist es schlechter Usus geworden, politisch mitunter bedenkliche Duftmarken dorthin zu senden, wo ein rechtspopulistisch empfängliches Publikum vermutet wird. Eine Analyse des Versuchs von Thomas de Maizière.
Kurze Erinnerung. »Wir sind Papst!« titelte die Bild-Zeitung 2005, als Kardinal Joseph Ratzinger im Vatikan zum Papst gewählt wurde. Die Schlagzeile schlug schlechterdings eins. Grammatikalisch ist der Satz falsch, inhaltlich sowieso. Das Muster einer falschen Identifikation – von einem Subjekt im Plural mit einem Objekt im Singular – wurde gleichwohl publizistische Mode und vielfach abgewandelt weiter genutzt. Auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière griff die Wendung kürzlich auf, um dem alten Gespenst deutscher Leitkultur neues Leben einzuhauchen: »Wir sind nicht Burka.« Wo geschrieben? In der Bild am Sonntag am 30.4.2017. Ein durchaus lesenswerter Beitrag. Zeigt er doch, wie die selbsternannte politische Mitte, sei es aus wahltaktischem Kalkül, inhaltlich auf die schiefe Bahn der rechtspopulistischen Anbiederung gerät.
»Wer sind wir?«, fragt Bundesinnenminister Thomas de Maizière zum Eingang seines Beitrages »Leitkultur für Deutschland – Was ist das eigentlich?« – Es gibt Fragen, auf die nur mit der Kritik der Frage zu antworten ist. Wir? Eine solche Vergemeinschaftung suggeriert etwas Homogenes. Worin könnte dieses bestehen?
In Deutschland leben ca. 9,1 Millionen Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft (11 % der Gesamtbevölkerung), und der Gesamtanteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund im Sinne der amtlichen Statistik beläuft sich auf 17,1 Millionen Einwohner (ca. 21 %; Zahlen aus 2015). Nicht erst heutige Nationen wie Deutschland sind folglich schon mit Blick auf die Zusammensetzung der Bevölkerung inhomogene Gebilde, ganz zu schweigen von sozialen und ökonomischen Unterschieden, welche die Lebenslagen der Menschen determinieren. Ein umfassendes Wir ist objektiv nicht zu bestimmen.
Auch Thomas de Maizière scheint zumindest die vordergründige Schwierigkeit zu sehen und gleitet, um am proklamierten Wir festhalten zu können, ins bloße, subjektive Meinen ab: »In unserem Land gibt es … viele … Menschen, die seit langer Zeit hier leben, ohne Staatsbürger zu sein – auch sie gehören zu unserem Land. Wenn ich aber von ›wir‹ spreche, dann meine ich zuerst und zunächst die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger unseres Landes.«
Er schreibt nicht von ungefähr »unseres Landes« – nicht der Bundesrepublik. De Maizière folgt also nur lax der modernen Staatsrechtslehre, welche den Bürger in einer demokratisch verfassten Republik als Souverän des politischen Willens definiert und der insofern gegenüber Migranten ohne Staatsbürgerschaft politische Vorrechte besitzt. Allein, dies führt der Text nicht explizit aus, wohl um dem Bild-Leser beschwerliche Staatsbürgerkunde zu ersparen. Zudem bleibt bei de Maizière das wohlmeinende Dazugehören der hier lebenden Nichtstaatsbürger ungeklärt. Diese gemeindet er nicht ins »Wir« ein, aber worin dann?
Verfassungspatriotismus. »Unstreitig« nennt de Maizière das Grundgesetz als Basis des Wir: »Wir achten die Grundrechte und das Grundgesetz. Über allem steht die Wahrung der Menschenwürde. Wir sind ein demokratischer Rechtsstaat.« De Maizière knüpft damit an eine progressive Auslegung der Verfassungslehre im Sinne der Aufklärung an, allerdings wiederum mit falscher Wir-Prädikation. Er spricht vom Verfassungspatriotismus. Diesen proklamierte der Philosoph Habermas gegen jede »konventionelle Form« nationaler Identität (also wie Abstammung, Boden oder Religion) und sah in einem dezidiert universalistischen »Verfassungspatriotismus« den »einzigem Patriotismus«, der die Bundesrepublik »dem Westen nicht entfremde«.
Fraglos ist die Bundesrepublik der Verfassung nach ein demokratischer Rechtsstaat. Ist es jedoch lautbar, wenn de Maizière eine Staatsrechtskonstruktion mit einem »Wir«, also der Bevölkerung fehlbarer Individuen in Eins setzt? Wohl kaum, das dürfte dem Juristen de Maizière im Studium bekannt geworden sein. Menschen mögen Engel, Teufel oder allein – dank rechtsstaatlicher Sanktionsgewalt – Rechtsbefolgter sein. Aber nicht per se »sind« sie »Rechtsstaat«; Individuen sind und werden immer fehlbar bleiben.
Wenn de Maizière gleichwohl dergestalt positiv konnotiert das Wir im Munde führt, schwingt – unausgesprochen, aber der Logik nach – Positives in Abgrenzung vom Gegenteil mit. Wer »Wir sind ein Rechtsstaat« postuliert, dem gelten Andere, die Nicht-Wir, als nicht dazugehörig. Potentiell als Feinde des Rechtsstaats. De Maizière schreibt sowas nicht direkt. Doch Geneigte werden das schon (miss)verstehen.
Leitkultur. Die Rede vom Verfassungspatriotismus muss bei de Maizière auch schwammig bleiben, da er diesem eine konventionelle Form nationaler Identität zur Seite stellen will: die Leitkultur – oder in seinen Worten: »eine Richtschnur des Zusammenlebens in Deutschland.« Ein paar Auszüge im Zitat:
Zur »Kulturnation«: »Wir sind Kulturnation. Kaum ein Land ist so geprägt von Kultur und Philosophie wie Deutschland. Deutschland hat großen Einfluss auf die kulturelle Entwicklung der ganzen Welt genommen. Bach und Goethe ›gehören‹ der ganzen Welt und waren Deutsche.«
Zur demokratischen Haltung: »Wir geben uns zur Begrüßung die Hand. … ›Gesicht zeigen‹ das ist Ausdruck unseres demokratischen Miteinanders. Im Alltag ist es für uns von Bedeutung, ob wir bei unseren Gesprächspartnern in ein freundliches oder ein trauriges Gesicht blicken. Wir sind eine offene Gesellschaft. Wir zeigen unser Gesicht. Wir sind nicht Burka.«
Zum Leistungsgedanken: »Wir sehen Leistung als etwas an, auf das jeder Einzelne stolz sein kann. Überall: Im Sport, in der Gesellschaft, in der Wissenschaft, in der Politik oder in der Wirtschaft. Wir fordern Leistung. Leistung und Qualität bringen Wohlstand. Der Leistungsgedanke hat unser Land stark gemacht.«
Zur Religion: »In unserem Land ist Religion Kitt und nicht Keil der Gesellschaft. … Kirchtürme prägen unsere Landschaft. Unser Land ist christlich geprägt. Wir leben im religiösen Frieden. Und die Grundlage dafür ist der unbedingte Vorrang des Rechts über alle religiösen Regeln im staatlichen und gesellschaftlichen Zusammenleben.«
Vieles von dem, was de Maizière zur Auspinselung seiner Leitkultur hier anführt, letztlich ein Sammelsurium mehr oder minder banaler oder bedeutungsschwerer oder höchst fragwürdiger Allgemeinplätze, mag ein einzelner zur Richtschnur seines Lebens erheben. Ob daraus ein Bild aufgeklärter Haltung wird, sei erst einmal dahin gestellt. Falsch ist an der Idee einer Leitkultur zunächst, dass inkohärente Haltungsfragmente zur allgemeinen Richtschur und zur Wir-Identität der Deutschen erhoben werden. Die Richtschnur ist populistisch, da Plattitüden wie etwa Kulturnation oder Leistungsgedanke ohne Blick auf innere Widersprüche den Deutschen identisch gemacht werden. Und sie ist geradezu gefährlich: Denn das kulturalistische Schnittmuster, das als fertiges Gewand alle Deutschen einkleiden soll, taugt allemal dazu, jene auszugrenzen, denen es nicht maßgerecht passt. Hierin liegt das rechtspopulistische Unheil in der Rede von einer Leitkultur.
Zur Kritik der »Kulturnation«: Von der Vorgarten- bis zur Unternehmenskultur, von Lebens- bis hin zu Konsumkulturen. Die Rede von Kultur und gar von Kulturen ist inflationär geworden. Aus diesem Gemenge will de Maizière die Deutschen offenbar zu Höherem herausführen. »Wir sind Kulturnation.« Goethe und Bach, auch Philosophie werden zum Beweis aufgerufen.
Von einer Kulturnation zu sprechen ist jedoch schon immer Unkultur. Ungebührlich ist es zunächst, Dichter, Komponisten oder Schriftsteller und deren Werke einem nationalen Kollektiv als etwas Gemeinsames einzuverleiben. Oder wie der Kritiker Karl Kraus bereits in den 1920er Jahren trefflich schrieb: »Die deutsche Bildung sollte nicht geleugnet werden. Nur muss man auch wissen, dass sie kein Inhalt ist, sondern ein Schmückedeinheim.«
Doch nicht allein die fremden Federn sind falsch in der de Maizière’schen Idee einer Kulturnation. Falsch ist der Begriff zumal, weil er Widersprüche zukittet. Das betrifft das Zusammenspiel von Kultur und Nation als auch Widerstreitendes in der Kultur selber. Intellektuellen und Künstlern wurde die deutsche Nation nicht erst mit der Nazi-Diktator zum Feind. Schon Heinrich Heine dichtete im Pariser Exil, doch erst die Nazis sorgten für einen Massenexodus deutscher Intelligenz. Danach, als wäre nichts gewesen, von einer von Bach und Goethe geprägten Kulturnation zu schreiben, wie durch de Maizière, ist zumindest vermessen. Wer es mit Kultur ernst meinte, wem die Freiheit, das Wahre, Gute und Schöne wesentlich war, dem wurde die Nation in Deutschland historisch vielfach zum Feind.
Doch auch Kultur als Leitbild ist selber kritisch zu hinterfragen und nicht, wie bei de Maizière, wohlgefällig zu nehmen als ein etwas, was den Menschen von allein zu einem besseren macht. Das lehrt ebenso die deutsche Geschichte. Nach 1945 und der Befreiung vom Nazi-Terror fragten viele Kulturbeflissene, wie es zur Herrschaft der Nazi-Horden inmitten eines Landes reicher Kulturtradition nur hätte kommen können. Eine Frage ignoranter Ahnungslosigkeit.
Schon Sigmund Freud hatte in seiner 1930 publizierten Schrift »Das Unbehagen in der Kultur« auf den Zwiespalt des Individuums hingewiesen, dem jede Kultur- und Zivilisationsleistung Triebverzicht abverlange und nach Erreichtem nicht hinlänglich entschädige, sondern ihn weiter in das fortlaufende Rad des Immer-Weiter einspanne. Solange dies fortwährt, zumal verschärft durch ökonomische Heteronomie, werde der Einzelne Kultur nicht nur als Gegensatz zur individuellen Freiheit empfinden, was Kulturfeindschaft hervorruft, sondern, so Freud, nach einem Ventil suchen lassen, um Aggressionen, in Folge des Triebverzichts gegen sich selbst aufgestaut, projektiv gegen Andere zu wenden. Dafür bot der Nationalsozialismus das ideologische Modell mit dem Sündenbock einer »jüdischer Weltherrschaft«, das in Deutschland zum Unheil einschlug.
Von Kultur im Sinne von »Wir sind Kulturnation«, wie von de Maizière, zu reden, ist also höchst zweifelhaft. Zwei Momente sind ideologisch dabei insbesondere verfänglich: Er schweigt über den Abgrund des Nationalsozialismus hinweg und schwelgt dafür in einer Kultur der Deutschen dank Bach und Goethe. Das ist kulturalistischer Neo-Chauvinismus, von dem de Maizière in seinem Bild-Beitrag wohl hofft, Menschen mit rechtspopulistischer Gesinnung für sich einzufangen.
Zur Kritik der »Haltung«: Ein Strickmuster populistischer Stimmungsmache ist, mit »gefühlten« Bedrohungen in der Bevölkerung so zu hantieren als seien es reale. Statt falschen Angstbildern mit Aufklärung entgegenzutreten, verstärkt der rechtspopulistische Agitator diese und zeigt sich so betroffen wie seine Zuhörer. Ein Beispiel dafür bot unlängst der AfD-Spitzenkandidat Leif-Erik Holm vor der letzten Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern mit der Aussage: »Die Angst vor der Überfremdung und dem Verlust der deutschen Identität ist nicht irrational, sondern durch Zahlen belegt. Ich persönlich fühle diese Angst, dass wir Deutschen eines Tages kulturell untergehen könnten, so wie es in manchen Stadtteilen schon passiert ist.« (www.tagesspiegel.de/politik/die-afd-bei-den-landtagswahlen-kulturkampf-um-mecklenburg-vorpommern/14465464.html)
»Zahlen«, von Holm nicht näher benannt, belegen freilich anderes: Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund liegt in Mecklenburg-Vorpommern weit unter dem Bundesdurchschnitt. Eine reale Bedrohung, sofern denn diese überhaupt im Zuzug fremder Menschen bestünde, sähe folglich anders aus.
Doch die rechtspopulistische Propaganda attackiert eher einen Popanz als wirkliche Gefahren: Sie bedient oder erzeugt Bilder vermeintlicher Überfremdung, ohne sich um deren Realitätsgehalt ernstlich zu scheren. So ist die Burka zum Popanz rechtpopulistischer Propaganda geworden, zum Symbolbild der »Überfremdungsgefahr«. Da schert es nicht, dass dieses Tuch zur vollständigen Bedeckung der Frau, auch ihrer Augen, in den meisten islamisch geprägten Ländern unüblich ist und kaum Trägerinnen in Deutschland zu sehen sind.
Diesen Kontext gilt es zu vergegenwärtigen, um den törichten Leitkultursatz »Wir sind nicht Burka« von de Maizière richtig einzuordnen. Er stellt gegenüber: »›Gesicht zeigen‹ das ist Ausdruck unseres demokratischen Miteinanders. … Wir sind eine offene Gesellschaft.« Soll das Wort von der offenen Gesellschaft mehr sein als ein Lippenbekenntnis, dann bräuchten jene, die äußerlich anders sind als die Mehrheit (also etwa die Burkaträgerin), nicht fürchten, darum stigmatisiert zu werden. De Maizière aber springt der rechtspopulistischen Masche bei, wenn er Demokratie statt an ihren Inhalten und Formen auch an kulturalistischen Haltungen festmachen will. Er macht sich dabei der Vorurteilsbildung mitschuldig. Die Burka kann, je nach Vorschreibung in totalitären Ländern, als Zeichen der Unfreiheit der Frau gesehen werden. In aufgeklärten Ländern ist jedoch der Mensch als Bürger und nicht nach seiner Erscheinung zu beurteilen. Treffend – und zum Korrektiv des Vorurteils – hat das der Philosoph der Aufklärung, Immanuel Kant, in Worte gefasst: »Den Kommenden beurteile nach seinem Rock, den Gehenden nach seiner Rede.«
Zum Schluss. »Kultur ist Reichtum an Problemen«, schrieb Egon Friedell, »und wir finden ein Zeitalter um so aufgeklärter, je mehr Rätsel es entdeckt hat.« Der Kulturhistoriker der italienischen Renaissance hatte dabei mit im Sinn, sowohl falsche Ehrfurcht vor epochalen Kulturzeugnissen zu nehmen als auch den Blick darauf zu richten, wie sehr sie ästhetische Zeugnisse von gesellschaftlichem Wandel, Fragen und Widersprüchen sind. Wie anders – nach Vorschrift, Starrheit und Ertüchtigung – klingt da Kultur bei de Maizière: »Leitkultur kann und soll vor allem vorgelebt werden. Wer sich seiner Leitkultur sicher ist, ist stark.« Leitkultur denkt de Maizière also invariant – als einen Kanon, der Richtiges und Falsches scheiden soll. Wer sollte ein solchen verbindlich für alle festlegen? Das Grundgesetz lässt eine Vielfalt an kulturellen Lebensformen zu. Was hingegen de Maizière fordert, ist im Muster kulturreaktionär, da es eine soziale und kulturelle Geschlossenheit als nationaler Identität voraussetzt, die es in der Realität so nicht gibt. Wer eine solche schaffen will, geriete dabei in gefährliche Nähe zu jenen Bildern, die sich Rechtspopulisten von einem homogenen Deutschland machen.