Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 3-2016, Rubrik Titelthema

Kommt der Jugend-Check? Ein Überblick zum Sachstand.

Das Prüfinstrument für Gesetze Ein großer Wurf? Oder eine Luftnummer?

Von Jürgen Garbers, Landesjugendring  Hamburg

Das größte jugendpolitische Vorhaben der Bundesregierung in dieser Legislaturperiode kreist seit Monaten in der Warteschleife. Dabei ist der Jugend-Check im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD als Zielvorgabe der sogenannten »Eigenständigen Jugendpolitik« verbrieft: »Wir werden gemeinsam mit den Jugendverbänden einen Jugend-Check entwickeln, um Maßnahmen auf ihre Vereinbarkeit mit den Interessen der jungen Generation zu überprüfen.« Das war 2013. Seither gab es einige Workshops, viele Expertisen und schließlich einen Katalog konkreter Prüfkriterien für den Jugend-Check, welchen der Deutsche Bundesjugendring (DBJR) vorgelegt hat. Die Vorleistungen sind also längst erbracht, doch gleichwohl gibt es noch keinen konkreten Gesetzentwurf. Verkommt der große Wurf zur Luftnummer? Und Kann Hamburg dennoch daraus lernen?

Worum geht’s? Ist  bisherige  Jugendpolitik an den Lebenslagen junger Menschen ausgerichtet? Zudem Laufen andere bundespolitische Maßnahmen – von der Finanz- über die Wirtschafts- bis hin zur Sozialpolitik – den Interessen Jugendlicher zuwider, zumal wenn sie nicht »nachhaltig« ausgerichtet sind,  also eine lebenswerte Welt vom morgen mit  in den Blick nehmen? Zu dieser Überzeugung schienen 2013 CDU, CSU und SPD gelangt zu sein, als sie im Koalitionsvertrag auf Bundesebene die »Eigenständige Jugendpolitik« proklamierten »Jugend ist eine eigenständige Lebensphase. Wir begreifen Jugendpolitik als ein zentrales Politikfeld, das vorrangig von Ländern und Kommunen vor Ort gestaltet wird. Um unsere jugendpolitischen Ziele zu verwirklichen, benötigen wir eine starke Allianz für die Jugend mit einer neuen, ressort- übergreifenden Jugendpolitik, die die Belange aller jungen Menschen im Blick hat.« Seither soll das Motto »Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft« die Jugendstrategie der Bundesregierung leiten und junge Menschen zwischen zwölf und 27 Jahren in den Fokus nehmen. Damit dies gelingen kann, soll der »Eigenständigen Jugendpolitik« u.a. mit  dem Jugend-Check ein ressortübergreifender Politikansatz zur Seite gestellt werden. DieGrundidee ist einfach Jede Maßnahme der Bundesregierung, mithin jedes Gesetzesvorhaben soll, bevor es im Bundestag eingebracht wird, bereits dahingehend geprüft werden,  ob seine Auswirkungen mit den Interessen jungen Menschen vereinbar sind. Dazu wäre dann ein Katalog an Prüfkriterien abzuarbeiten.

Aus Sicht des DBJR, der sich maßgeblich für den Jugend-Check stark macht, lauten die grundlegenden Qualitätsmerkmale für seine politische Wirksamkeit »1. Der Jugend-Check ist verbindlich gesetzlich verankert. 2. Der Jugend-Check wird ressortübergreifend angewandt. 3. Die Anwendung des Jugend-Checks wird durch ein unabhängiges Prüfgremium begleitet.« Neben der konkreten Prüfung einzelner Gesetzesvorhaben soll der Jugend-Check zudem  Politik und Verwaltung für jugendgerechtes Handeln sensibilisieren.

Was bisher geschah. Im November 2009 hatten sich bereits die Jugendminister der EU- Mitgliedsstaaten auf einen »erneuten Rahmen für jugendpolitische Zusammenarbeit« für den Zeitraum 2010 bis 2018 verständigt. Die sogenannte EU-Jugendstrategie will »mehr Möglichkeiten und mehr Chancengleichheit für alle jungen Menschen im Bildungswesen und auf dem Arbeitsmarkt … schaffen sowie das gesellschaftliche Engagement, die soziale Eingliederung und die Solidarität aller jungen Menschen … fördern«. Um diese Ziele zu erreichen, sollen die EU-Staaten die Ausgestaltung bzw. Neuausrichtung der nationalen Jugendpolitik entsprechend angehen. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) stellte daraufhin die Weichen für die Konzeptentwicklung  einer »Eigenständigen Jugendpolitik«,  koordinierte die nationale Zusammenarbeit über eine eigens eingerichtete Bund-Länder-Arbeitsgruppe und schuf einen  Nationalen  Beirat, der das Bundesjugendministerium berät. Damit nicht genug. Eine Nationale Arbeitsgruppe zum »Strukturierten Dialog« sucht seither ebendiesen mit der Jugend. Zudem wurde die Koordinierungsstelle »Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft« mit Sitz in Berlin installiert, die u.a. Länder und Kommunen  auf dem Weg zu mehr Jugendgerechtigkeit vor Ort begleiten und unterstützen soll. Im diesem Prozess zur »Jugendgerechten Kommune« sind aktuell 16 Referenzkommunen aus allen Bundesländern am Start; in Hamburg beteiligt sich Barmbek-Nord. Und schließlich nicht zu vergessen im Reigen der Maßnahmen Zur Konzeptentwicklung des Jugend-Checks fanden seit 2014 zehn Workshops statt, die der DBJR auf Bitte des BMFSFJ zusammen mit Experten aus Wissenschaft und Jugendpolitik ausrichtete. Begleitet wird dieser Prozess zudem  seit Anfang 2016 vom Institut für Gesetzesfolgenabschätzung und Evaluation (InGFA), das Vorschläge zur rechtlichen und organisatorischen Verankerung des Jugend-Checks im politischen Entscheidungsprozess entwickelte und die Erprobung des Prüfinstruments anhand ausgewählter Gesetzesvorhaben wissenschaftlich begleiten soll. Die abschließenden Ergebnisse werden für 2017 erwartet.

Das Prüfinstrument. Mit der Einführung des Jugend-Checks will die Bundesregierung das Ziel verfolgen, »im Sinne guter Gesetzgebung die Interessen von über 13 Mio. jungen Menschen verstärkt zu berücksichtigen« (so heißt es in der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen im Bundestag vom September 2016). Ein großes Ziel. Und wie soll das gelingen? Dazu ein Blick auf den Stand der Konzeptentwicklung, wie er im Juni 2016 vom DBJR und InGFA auf einem Berliner Workshop dargelegt wurde. Die Grundstruktur des Jugend-Checks sieht zunächst zwei Stufen vor Im ersten Schritt soll jede bundespolitische  Maßnahme vor ihrer Einbringung in den Bundestag bereits im Stadium des Entwurfs einem »Relevanz-Screening« unterzogen werden. Herauszufiltern wären dabei jene Vorhaben, welche Auswirkungen auf junge Menschen haben oder deren Interessen berühren. Diese wären dann in einem zweiten Schritt einer umfassenden Hauptprüfung zu unterziehen, wobei verschiedene »Wirkdimensionen« (z.B. Schutz vor Gewalt, materielle Situation, Mobilität, Freizeitgestaltung, kulturelle Entfaltung oder Freiheit zur Selbstbestimmung) in Hinblick auf Jugendgerechtigkeit abzuklopfen wären. Mit dieser Prüfung soll ein neu zu installierendes, unabhängiges Sachverständigengremium betraut werden. Wann und wie eingebunden dieses Gremium seine Expertise abgeben soll, ist noch offen. Denn zwei Modelle zur Implementierung des Jugend-Checks in das Gesetzgebungsverfahren erscheinen machbar Entweder wird das Sachverständigengremium zur Hauptprüfung eines Vorhabens innerhalb des jeweils federführenden Ministeriums tätig (also z.B. bei Verkehrsfragen im Verkehrsministerium), erarbeitet dort eine Stellungnahme und speist sie vor Ort in den Beratungsprozess ein; oder es werden alle Gesetzes- und sonstige Vorhaben, die beim Relevanz-Screening auffällig sind, an das BMFSFJ übermittelt, wo dann das Expertengremium seine Arbeit macht. Beide Versionen haben jeweils Vor- und Nachteile in Hinblick auf Aufwand, Ressortsensibilisierung für Jugendgerechtigkeit  und  Qualitätssicherung – und müssen rechtlich verbindlich verankert werden. Der DBJR plädiert für die erste Variante Wenn das Sachverständigengremium bei Vorhaben innerhalb des jeweils federführenden Ministeriums eingebunden wird, steigt seine Chance auf eine fachliche und unmittelbare Einflussnahme, als wenn seine Expertise erst nachgelagert beim BMFSFJ erstellt und dann erst an das federführende Ministerium übermittelt wird.

So oder so – am Ende der ministeriellen Phase der Gesetzesvorbereitung steht in beiden Fällen Alle bundespolitischen Gesetzesentwürfe, die im Relevanz-Screening auffielen und ohne Korrektur im Hinblick auf Jugendgerechtigkeit verbleiben, werden mit einer kritischen Stellungnahme des unabhängigen Sachverständigengremiums (als Anhang) an den Bundestag zur weiteren Beratung weitergereicht. 

Ein Check – mit welcher Wirkung? Der Jugend-Check entfaltet im Gesetzgebungsverfahren also keine direkte Sanktionsmacht (anders wäre es verfassungsrechtlich auch gar nicht möglich). Stößt ein Vorhaben der Bundesregierung auf Widerspruch des unabhängigen Sachverständigengremiums, da es in seiner Wirkung der Idee einer jugendgerechten Gesellschaft entgegenstünde, kann das federführende Ministerium darauf eingehen, muss es aber nicht. In letzteren Fall obliegt es dann dem Bundestag, die Ergebnisse des Jugend-Checks und den kritischen Einwurf des Sachverständigengremiums bei seinen Beratungen des jeweiligen Vorhabens einzubeziehen. Kurzum, der Jugend-Check ist kein Veto-Instrument, kein »jugendungerechtes« Vorhaben der Bundesregierung wäre damit vorab zu Fall zu bringen. Es indiziert allein deren Missstände mit Blick auf junge Menschen und bietet so die Möglichkeit, nicht-intendierte Wirkungen zu korrigieren. So ergibt sich eine Signalwirkung des Jugend-Checks auf Bundestagsabgeordnete Wenn Gesetze verabschiedet werden, die sich negativ auf junge Menschen auswirken, dann ist es wenigstens transparent, und die Entscheidung wird in diesem Bewusstsein getroffen.

Was fehlt? Liest man bei jenen Sozialwissenschaftlern nach, die seit Jahren die Kinder- und Jugendarmut analysieren und den Skandal fehlender Gegenmaßnahmen in der Politik beklagen (s. auch punktum 3-2014 oder älter in 2-2005), klärt sich schnell, was elementar der »Eigenständigen Jugendpolitik« bisher fehlt eine Orientierung an gesellschaftlichen Missständen und Problemen junger Menschen sowie eine daraus sich herleitende Programmatik, politische Fehlentwicklungen im Sinne junger Menschen zu verändern. Die »Eigenständige Jugendpolitik« der Bundesregierung visiert zwar große Ziele wie eine jugendgerechte Gesellschaft an, formuliert schöne Allgemeinplätze (etwa »allen Jugendlichen mit unterschiedlichen Ausgangslagen faire Chancen« zu ermöglichen) und verspricht »gesellschaftliche Perspektiven und Teilhabemöglichkeiten, die für junge Menschen attraktiv sind, so dass sie ihr Leben selbstbestimmt gestalten und mit Zuversicht in die Zukunft blicken können.« Doch hinter diesen schönen Leitlinien ist bislang wenig politisch Konkretes zutage getreten. Etwa Maßnahmen, die hoffen ließen, dass längst bekannte Probleme und Missstände angegangen werden. 

Gegen diese Kritik kann eingewendet werden, dass der Politikansatz der »Eigenständigen Jugendpolitik« mit dem Jugend-Check auf einer anderen Ebene ansetzt. Er soll Missstände mangelnder Jugendgerechtigkeit bereits im Gesetzgebungsverfahren indizieren und so helfen, über Sensibilisierung der handelnden Akteure die Belange junger Menschen besser kenntlich zu machen. Er sei der Versuch, »junge Menschen zwischen zwölf und 27 Jahren in den Mittelpunkt ressortübergreifenden Handelns« zu stellen und so Politik für Jugend aus der Jahrzehnte andauernden Defensive zu holen. Doch politisch Wünschenswertes steht ohne Sanktionsmacht auf schwachen Beinen. Ohne politischen Willen, gesellschaftliche Missstände anzugehen, und ohne gesellschaftlichen Druck auf die Bundespolitik wird es keine bessere Jugendpolitik geben. 

Wie geht’s weiter? Auf der Website der Koordinierungsstelle »Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft« steht zum Entscheidungshorizont nur lapidar In den Beratungen sei »deutlich geworden, dass es sehr herausfordernd wird, die richtige Balance zwischen hohem Anspruch und alltäglicher Anwendbarkeit des Jugend-Checks zu finden. Dennoch ist das Ziel klar, noch in der laufenden Legislaturperiode ein vorzeigbares Ergebnis für die Bundesebene zu präsentieren, welches dann spätestens ab Herbst 2017 zum Einsatz kommen kann.« Die Zeit drängt jedoch; ebenfalls im Herbst 2017 wird der Bundestag neu gewählt. Die Erfahrung lehrt, dass im unmittelbaren Vorfeld von Bundestagswahl und Wahlkampf keine großen bundespolitischen Entscheidungen mehr gefällt werden.

Lehren für Hamburg? Der Landesjugendring Hamburg will seinerseits das Thema »Eigenständige Jugendpolitik« auf Landesebene aufgreifen. Aus den Berliner Vorgängen kann die Lehre gezogen werden, dass ein Jugend-Check allein keinen jugendpolitischen Frühling macht. Es wären Probleme junger Menschen konkreter zu benennen, welche politisch zu lösen sind. In einem Arbeitspapier des LJR heißt es »Jedes fünfte Kind in Hamburg ist arm. Eine Eigenständige Jugendpolitik muss die Kinder- und Jugendarmut in dieser reichen Stadt kontinuierlich bekämpfen. Die finanzielle Situation von Familien ist der entscheidende Faktor für Teilhabe, Gesundheit, Bildung und Entwicklungschancen junger Menschen. … Gleichzeitig müssen Maßnahmen und Instrumente gestärkt, gefördert und initiiert werden, die die Chancengleichheit durch Teilhabe und Verteilungsgerechtigkeit fördern. Eine Eigenständige Jugendpolitik will und muss die Lebensqualität aller Kinder und Jugendlichen verbessern, demokratisches Lernen fördern und Selbsterfahrungsräume vorhalten, an denen sich Kinder und Jugendliche als wertvoll und selbstwirksam erfahren. Jede politische Entscheidung ist darüber hinaus darauf zu prüfen, welche zukünftigen Auswirkungen sie in finanzieller, sozialer und ökologischer Hinsicht für nachfolgende Generationen haben. Eine Eigenständige Jugendpolitik hat das Ziel, Strukturen zu schaffen, in denen sich Kinder und Jugendliche kontinuierlich und wirksam politisch beteiligen können.« 

Das sind erste Überlegungen, den Ansatz einer »Eigenständigen Jugendpolitik« auf Landesebene fruchtbar zu machen. Es kommt nun darauf an, diesen Ansatz an Hamburg spezifischen Problemlagen junger Menschen politisch zu schärfen. Der in diesem Heft dokumentierte Vollversammlungsbeschluss zur School-Life-Balance steht dafür beispielhaft. Er benennt das Problem der Freizeitverknappung von Schülern/innen, unter der auch das ehrenamtliche Engagement leidet, und zeigt zugleich politische Lösungsmöglichkeiten durch machbare Änderungen im Schulgesetz auf. 

Grundsätzlich muss eine »Eigenständige Jugendpolitik« für Hamburg, die sich als Interessenvertretungspolitik für junge Menschen und zukünftige Generationen versteht, zwei Dimensionen verfolgen Inhaltlich sind konkrete Problemlagen junger Menschen aufzugreifen (z.B. Kinder- und Jugendarmut), Handlungsräume zu benennen und politische Ziele sowie Lösungsschritte zu entwickeln. Zugleich wäre sie methodisch und strukturell zu verankern Ein Jugend-Check könnte analog zu den Berliner Überlegungen in das Gesetzgebungsverfahren implementiert werden. Und damit die Sorgen und Themen junger Menschen sichtbar werden, sind breite und wirksame Beteiligungssysteme zu schaffen. – Beide Dimensionen einer »Eigenständigen Jugendpolitik« müssen Hand in Hand gehen.