Landesjugendring Hamburg e.V.
Heft 3+4-2011, Rubrik Vielfältige Jugendarbeit

Eine neue Dimension der Erinnerung

Auftakt des Beteilungsprojektes zum Hannoverschen Bahnhof

Von Viola Alessa Reymers und Lisa Sophie Kropp, Gymnasium Meckelfeld

Am früheren Standort des Hannoverschen Bahnhofs, von dem Juden, Sinti und Roma aus Hamburg und Norddeutschland zwischen 1940 und 1945 in die Arbeits- und Vernichtungslager in Osteuropa deportiert wurden, entsteht in den nächsten Jahren eine zentrale Gedenkstätte. Die Ausstellung »In den Tod geschickt« soll dauerhaft installiert werden und über die Opfer, die Verantwortlichen, Zuschauer und Profiteure dieses Verbrechens informieren. Doch was mehr? Wie kann eine Gedenkstätte zu einem Ort des Erinnerns und Lernens auch für junge Menschen werden? Dazu sind in einem bundesweit erstmaligen Pilotprojekt über 40 Jugendliche zusammengetroffen: »Wie wollt ihr euch erinnern?« Von dem Auftakt des Beteiligungsprojekts, das auf eine Initiative des Landesjugendrings Hamburg zurückgeht, berichten Alessa Reymers und Lisa Sophie Kropp vom Gymnasium Meckelfeld, deren Oberstufenkurs das Beteiligungsprojekt während seiner Laufzeit begleiten und auf unterschiedliche Weise (schreibend, filmend etc.) dokumentieren wird.

Wiederentdeckung eines vergessenen Ortes. Lange Zeit erinnerte in Hamburg nichts an den Hannoverschen Bahnhof am Lohseplatz, der bis zum Bau des Hauptbahnhofs als zentraler Personenbahnhof für alle Zugreisen in den Süden fungierte. Erst mit der Neugestaltung der HafenCity und einer wissenschaftlichen Studie in 2004 wurde wieder ins öffentliche Bewusstsein der Stadt geholt, dass an diesem Ort auch ein zentrales Verbrechen der NS-Zeit geschah: Mindestens 7.692 Menschen aus Hamburg und Norddeutschland wurden zwischen 1940 und 1945 wegen ihrer Zuordnung als Juden, Sinti oder Roma von hier aus in Ghettos, Arbeits- und Vernichtungslager Ost- und Mitteleuropas verschleppt. Für die Allermeisten bedeutete dies eine Reise in den Tod.

Heute erinnert nur eine unscheinbare, graue Gedenktafel, die 2005 aufgestellt wurde, an das schwarze Kapitel Hamburger Geschichte. Noch ist der Ort eine weitgehend ungenutzte Fläche voller Schutt und Überwucherung, an der tagtäglich tausende Menschen unwissend mit dem Zug vorbeifahren. Wie wird er in Zukunft aussehen?

Jugendliche gestalten aktiv mit. Bis zum 22. August 2011 hatten jungen Menschen aus Hamburg und Umland im Alter von 16 bis 21 Jahren die Chance, sich für das Beteiligungsprojekt »Wie wollt ihr euch erinnern?« zu bewerben. Von den zahlreichen Bewerbungen konnten allein 44 junge Menschen ausgewählt werden. In insgesamt sieben zweitägigen Workshops, von denen einer in Berlin stattfinden wird, lernen die Teilnehmenden die Geschichte des Hannoverschen Bahnhofs und die Planung für den Gedenkort am Lohseplatz kennen. Dabei sind sie aufgerufen, planerische Freiräume zu nutzen, um eigene Ideen zu entwickeln und in den Entstehungsprozess einzubringen. Zum Beispiel zu der Frage, wie auf den neuen Gedenkort in der Stadt verwiesen werden soll oder welche Veranstaltungen dort stattfinden sollen. Anregungen und Unterstützung bekommen die Teilnehmenden dabei von Hamburger Planern und Entscheidungsträgern sowie zahlreichen Experten aus anderen Städten.

Erfolgreicher Start ins Projekt. Der Auftakt für das Beteiligungsprojekt fand am 21. und 22. Oktober 2011 in der HafenCity statt. In dem ersten zweitägigen Workshop stand zunächst das Kennenlernen der Teilnehmenden und ihrer Begleiter auf dem Programm. In kreativ gestalteten Stationen fanden die Jugendlichen Zugang zueinander und näherten sich durch die Äußerung ihrer Wunschvorstellungen dem Projekt an. Sie interviewten sich gegenseitig und formulierten ihre Erwartungen und Ziele in Bezug auf das Projekt. Der Austausch mit anderen Jugendlichen, die Möglichkeit aktiv mit zu gestalten und mit den eigenen Ideen auch Gehör zu finden, waren dabei zentrale Punkte.

Angeleitet von dem Historiker und Geographen Dr. Stefan Brauckmann begaben sich die Jugendlichen zudem auf Erkundung des ehemaligen Bahnhofsgeländes. Ausgestattet mit GPS-Geräten suchten sie nach Spuren der Bahnhofsgeschichte, orteten historische Gegenstände und untersuchten die erst seit kurzem unter Denkmalschutz stehenden Gleisüberreste. Mithilfe von Geo-Informationssystemen konnten sie bei der anschließenden Auswertung ihre Erkundungswege in historische und planerische Karten einlesen und auf diese Weise sehen, wo sie um 1930 gegangen wären und wie diese Strecke in Beziehung zu den Planungen der HafenCity steht.

Am zweiten Tag tauschten sich die Jugendlichen unter anderem mit den Historikerinnen Dr. Linde Apel und Dr. Sylvia Necker über die Funde und ersten Erkenntnisse aus. Die beiden Wissenschaftlerinnen haben sich intensiv mit dem Geschehen am Lohselatz befasst und informierten die Jugendlichen über die Geschichte und die zum Teil aufwendige Recherchearbeit. Nach diesem ersten Blick auf das Vorhandene ging es sodann an die Reflexion einer möglichen Zukunft: Welche Formen des Erinnerns sprechen an und was macht einen »Ort lebendiger Erinnerung« aus? Ist die Rekonstruktion zulässig? Wie viel Veranschaulichung soll und darf ein historischer Ort haben – ohne Überlebende und ihre Familien zu verletzen? Dazu spannen sich lebhafte Diskussionen.

Demokratie braucht Zeit. Zudem lernten die Teilnehmenden die Mitglieder des Projektbeirates kennen. In dem begleitenden Beirat sind zahlreiche Institutionen vertreten, die auf unterschiedliche Weise mit den Planungen für die neue Gedenkstätte befasst sind: zum Beispiel die Kulturbehörde und die HafenCity GmbH, Überlebenden-Verbände, geschichtswissenschaftliche Institute, Stiftungen und der Landesjugendring Hamburg. Die Mitglieder dieses Beirates stehen den Jugendlichen mit Rat und Tat zur Seite. Und sie haben angeboten, als »Verstärker« oder »Lautsprecher« die späteren Ideen und Wünsche der Jugendlichen für den neuen Gedenkort weiterzutragen und ihre Realisation zu verfolgen. Denn wenn das Beteiligungsprojekt »Wie wollt ihr euch erinnern?« im Mai 2012 endet, sind es noch viele Monate bis zur geplanten Eröffnung der neuen Gedenkstätte 2013 (oder 2014). Demokratische Prozesse und die Beteiligung brauchen eben Zeit. In diesem Fall bringen sie aber zudem viel Spaß.