Lesetipp: »Vom Verschwinden der Täter«
»Der Vernichtungskrieg fand statt, aber keiner war dabei«
»Ein Bann scheint gebrochen zu sein: Alle reden von der gezielten Auslöschung der deutschen Städte durch die anglo-amerikanischen Luftflotten und erregen sich über die unermeßlichen Leiden der Vertriebenen, ein anonymer Bericht über die Vergewaltigungen durch die Rote Armee konnte zum literarischen Ereignis werden und ein Roman aus den fünfziger Jahren über die gelungene Flucht aus der russischen Kriegsgefangenschaft wurde zum zweiten Mal verfilmt. Die Deutschen, die gerade begonnen hatten zu begreifen, daß mit den Begriffen Auschwitz oder Treblinka das Ausmaß der Schuld nur unzureichend beschrieben war und daß man in Zukunft die Torturen der Zwangsarbeiter und die Verfolgung der Juden in der Heimat, die Mordtaten der Polizeibataillone und die Verbrechen der Wehrmacht in den besetzten Gebieten dazu addieren mußte, verwandeln sich mit einem Mal in ein Volk von Opfern. Die Gründe für diesen veränderten Blick auf die Nazizeit in der Tagespolitik zu suchen führt in die Irre. […] Die antisemitische Grundierung vieler Beiträge verweist darauf, daß die Behauptung von den Juden als Tätervolk und die Zweifel an der Singularität des Holocaust, die im sogenannten »Historikerstreit« Mitte der achtziger Jahre noch zurückgewiesen werden konnten, nun obsiegt haben. Die geschichtspolitische Wende, die darin zum Ausdruck kommt, ist der aktuellste Beleg für eine Tiefenströmung, die das Schicksal der Bundesrepublik von Beginn an beeinflußt hat. Ihre Motorik wird nicht gesteuert von der Anerkennung dessen, was gewesen ist, also vom Realitätsprinzip, sondern wird von der Obsession bestimmt, sich eine Vergangenheit zu suchen, die passend ist.«
(Aus der Einleitung)
Publikation:
Hannes Heer Vom Verschwinden der Täter;
Der Vernichtungskrieg fand statt,
aber keiner war dabei
Aufbau Verlag, Berlin 2005